Aber als mir in einem klaren Moment bewußt wurde, was ich Victor tatsächlich angetan hatte, gerade dem Menschen, den ich immer mehr als alle anderen geliebt und verehrt habe, traf mich das wie ein Schlag. Ich hatte ihn nicht vernichten wollen, ich hatte ihn nur in Deinen Augen ein wenig schlechtmachen wollen. Ja, Jennifer, auch Dich wollte ich unglücklich machen. Weil Dir Schönheit und Anmut gegeben waren und so vieles, was ich niemals haben würde. Auch Victor, ja. Denn da er mein Bruder ist, ist er mir verwehrt.
Aber als ich sah, was ich angerichtet hatte, daß ich erst ihn und dann John fortgetrieben hatte, daß Mutter meinetwegen den Rest ihres Lebens leidend sein würde, da konnte ich es nicht mehr ertragen. In meinen rachsüchtigen Momenten freute ich mich an dem Werk der Zerstörung, das ich vollbracht hatte. Aber in meinen klaren Momenten quälten mich Schuld und Reue. Und als Vater mir zur Strafe für das, was ich mit Scan getan hatte, das Haar abschnitt, da wußte ich, daß es keinen anderen Ausweg gab, als Euch alle von mir zu befreien, die Euch soviel Kummer und Schmerz bereitet hat.
Verzeih mir, liebste Jennifer, ich habe Dich immer wahrhaft gern gehabt, und es war nur eine dunkle Seite von mir, die eifersüchtig war auf Deine Schönheit und Victors Liebe zu Dir. Verzeih mir, daß Du mich so finden mußtest. Es ging nicht anders. Vater hätte es so gewollt. Gott verzeih mir. Harriet.«
«Du hast das alles gewußt, nicht wahr?«sagte Jennifer, die jetzt sehr nahe bei mir stand.
Victor sah noch lange auf den Brief. Mit einem kaum merklichen Nicken beantwortete er ihre Frage.
«Warum hast du dann nichts gesagt? Dir ist schreckliches Unrecht geschehen, Victor.«
Darauf antwortete er nicht. Er hob nur den Kopf, und ich sah sein Gesicht und die tiefe Traurigkeit in seinem Blick und hätte am liebsten geweint.
Noch einmal las er den Brief durch, dann hielt er ihn mir hin. Als Jennifer die Hand hob, um ihn entgegenzunehmen, hob auch ich den Arm. Und als Victor den Brief in meine Hand legte, war ich nicht erstaunt.
«Niemand sonst hat diesen Brief gelesen«, hörte ich Jennifer sehr nahe an meinem Ohr sagen. Obwohl ich mich nicht vom Fleck bewegt hatte, berührten wir uns beinahe.»Ich fand ihn bei Harriet, als ich sie im Kleiderschrank entdeckte. Ich habe ihn aufgehoben, weil ich hoffte, ihn dir eines Tages zeigen zu können. Es bestand kein Zweifel daran, daß Harriet freiwillig aus dem Leben gegangen war. Es war der Art ihrer Verletzungen zu entnehmen und der Tatsache, daß sie nicht von fremder Hand in den Schrank gebracht worden war, sondern sich diesen Platz selbst gewählt hatte. Das — das sagte jedenfalls die Polizei. Und Dr. Pendergast bestätigte es. Aber kein Mensch weiß von diesem Brief und seinem Inhalt.«
«Verbrenn ihn«, sagte er kurz.
«Aber warum? Er spricht dich frei, Victor«, entgegnete Jennifer, und ich fügte hinzu:»Durch ihn wird dein guter Ruf wiederhergestellt. Du kannst frei und stolz nach Warrington zurückkehren. Ich werde ihn nicht verbrennen, Victor.«
Er sah mich mit einer Intensität an, die keiner Worte bedurfte. Als er mir die Hand hinstreckte, übergab ich ihm wortlos den Brief und war nicht überrascht, als er ihn zusammenknüllte und ins Feuer warf. Ich sah, wie er in Flammen aufging und verbrannte.»Das alles weiß ich, aber meine Unschuld beweisen, hieße meine Schwester verdammen, und das kann ich nicht. Sie kam an jenem Tag zu mir in die Praxis und sagte mir, daß sie guter Hoffnung sei. Ich schlug ihr vor, das Kind auszutragen und zur Welt zu bringen. Ich dachte, du und John würdet es vielleicht nehmen und ihm einen Namen geben. Später merkte ich, daß das Instrument fehlte, und ich wußte instinktiv…«
«Du hast deine einzige Chance der Rehabilitierung verbrannt. «Victor schüttelte den Kopf.»Was kann Gutes davon kommen, wenn ich der Welt jetzt offenlege, was aus meiner Schwester geworden war? Was kann Gutes davon kommen, wenn ich meinen Vater diese letzten Worte lesen lasse, die ihm sagen, daß er an ihrem Tod Schuld trägt? Ich kann aushaken, was mir angetan wurde. Ich kann ins Ausland gehen und einen neuen Anfang machen. Mit der Zeit wird alles in Vergessenheit geraten. Zukünftige Townsends werden nichts davon wissen, was in diesem Haus vorging. «Eine Stimme, die merkwürdige Ähnlichkeit mit meiner eigenen hatte und doch mit Jennifers vermischt war, fragte:»Und wirst du nach England zurückkommen?«
«Das glaube ich nicht. Mein Leben hier ist beendet. Alle meine Hoffnungen sind zerstört, ich habe nichts von dem erreicht, was ich wollte. Es wäre sinnlos, einen neuen Versuch zu machen. Aber in Frankreich oder Deutschland…«
Seine Simme verklang. Ich sah den Konflikt in seinen Augen, die Bitterkeit und die Trauer. Ich streckte ihm meine Hand entgegen. Und als er ebenfalls die Hand hob, und unsere Finger sich berührten, war es ganz natürlich. Jennifer war nicht mehr bei uns. Ich stand allein vor dem offenen Kamin. Der Saum meines langen Kleides berührte raschelnd meine Fesseln.
Ich spürte die Hitze der Flammen auf meinem bloßen Nacken unter dem hochgekämmten Haar. Über die Jahre hinweg, losgelöst von Zeit und Raum berührten sich unsere Finger.
«Niemand sonst hat den Brief gelesen, Victor, Liebster — «, wie gut es tat, seinen Namen auszusprechen!» niemand weiß von ihm, nur du und ich. Die Monate ohne dich waren eine Qual. Ich war in deiner Praxis und dann im Horse's Head, aber niemand konnte mir etwas über deinen Verbleib sagen. Nacht für Nacht habe ich wachgelegen und fürchtete, du wärst tot, stellte mir vor, du wärst allein und elend, suchtest Trost im Gin oder bei anderen Zerstreuungen. Aber jetzt — dich hier vor mir zu sehen! Es ist wie ein Traum!«
«Jenny«, murmelte er und umschloß meine Hand mit seinen Fingern.
Ja, ich bin Jenny, dachte ich. Ich bin Jennifer. Und ich liebe dich schon so lange, begehre dich so leidenschaftlich, daß ich glaubte, sterben zu müssen, wenn diese Gefühle unerfüllt blieben.»Eine Zeitlang dachte ich, ich würde den Verstand verlieren vor Angst und Besorgnis. Es ging alles so schnell. Die schlaflosen Nächte. Ich konnte nichts mehr essen.«
«Du bist zu dünn, Jenny. Und so blaß.«
«Ich hatte die merkwürdigsten Vorstellungen. Ich bildete mir ein, es spuke in diesem Haus, Victor. Ich habe eine junge Frau gesehen…«
«Ach, Jennifer«, sagte er und trat ganz nahe an mich heran. Seine tiefe Stimme erregte mich, als er sagte:»Ich sollte jetzt gehen, Jennifer.«
Ich hörte, wie ich — nein, wie wir beide zu ihm sagten:»Bitte bleib.«
Und wenn ich in diesem Zeitabschnitt gefangen und die Tür zur Zukunft mir für immer verschlossen sein sollte, wäre das so schlimm?
«Ich werde ewig dir gehören, Victor«, flüsterte ich. Als er mich in seine Arme nahm, und ich seinen Körper an meinem fühlte, durchschossen mich heiße Blitze. Im ersten Moment erstarrte ich, dann aber schmiegte ich mich an ihn, vertraute mich ihm an, als sei dies der Ort, an dem ich zu Hause war. Ja, bei ihm war ich zu Hause. Während Victor mich küßte und ich spürte, wie meine Beine nachzugeben drohten, so daß ich ihn ganz fest halten mußte, erkannte ich, daß dies der Ort war, an den ich immer gehört hatte.
Die strenge Zurückhaltung und Selbstbeherrschung langer Jahre fiel unter seinem leidenschaftlichen Kuß in Trümmer. Er hielt mich so fest, daß ich meinte, wir würden zu einem einzigen Wesen werden.
Alle meine erotischen Träume wurden wahr. Ich hatte die ganze Zeit gewußt, daß es so sein würde mit Victor, daß die Verschmelzung unserer Körper mir die Erfüllung bringen würde, die ich ein Leben lang gesucht hatte. Der Gedanke schoß mir durch den Kopf, daß ich mich zum erstenmal einem Mann hingab, den ich wahrhaft liebte.
Und später, nach unserem Flug in die Ekstase und der Vereinigung unserer Seelen auf ewige Zeiten, wußte ich auch, wozu ich hier war. Es war alles so klar jetzt. Alles hatte zu diesem einen Moment hingeführt. Die Episoden der vergangenen Tage, das Erleben von Momenten aus der Vergangenheit, das Fragen und Forschen, alles hatte nur dazu gedient, mich auf diesen einen Moment vorzubereiten. Damit ich begreifen würde. Damit ich begreifen würde.
Ich hatte mich getäuscht. Meine Theorien waren weit von der Wahrheit entfernt gewesen. Ich war nicht hierhergeholt und in die Vergangenheit gezwungen worden, um eine imaginäre Tragödie abzuwenden. Ich war auserwählt worden, an diesem Ereignis teilzuhaben, nicht, es zu verhindern. Und der Grund war mir jetzt klar.
Während ich in Victors Armen lag und seinen warmen Atem an meinem Hals spürte, während ich sein Gesicht betrachtete, das ruhig und entspannt war, dachte ich an einen anderen Mann, der in einem Krankenhaus auf der anderen Seite der Stadt im Sterben lag und der die Wahrheit erfahren mußte.
Was auf unsere leidenschaftliche Umarmung folgte, ist mir nur in sehr unklarer Erinnerung. Es schien, als hätten wir die ganze Nacht beieinandergelegen, aber als ich erwachte, sah ich, daß es erst Mitternacht war. Und ich erinnere mich, daß ich wie in Trance die Treppe hinunterstieg und ins Wohnzimmer zurückkehrte, erfüllt einzig von der Euphorie unserer Liebe. Aufruhr und Unruhe, die mich während all dieser Tage im Haus meiner Großmutter umgetrieben hatten, waren verflogen, alle Fragen und Geheimnisse, die mich gequält hatten, waren gelöst. Ich befand mich stattdessen in einem wunderbaren Zustand, da ich wußte, daß ich diese eine Nacht mit dem einzigen Mann verbracht hatte, der mir wahrhaft etwas bedeutete.
Ich vermute, daß ich mich dann auf dem Sofa niedergelegt habe, denn ich scheine geschlafen zu haben, tief und fest wie jemand, dessen Geist von aller Unruhe befreit ist und dessen Körper gewaltige Höhen erklommen hat. Während dieser Stunden des Schlafs hatte ich meinen letzten bemerkenswerten Traum. Victor kam zu mir und blieb bei mir am Sofa stehen, nicht der Mann aus Fleisch und Blut, der er oben im Schlafzimmer für mich gewesen war, eher ein geisterhaftes Wesen, eine Erscheinung. Lächelnd sah er zu mir herunter, und in seinen Augen war Verwunderung. Ich erwiderte seinen Blick ohne Furcht und ohne Überraschung, nur voll Wärme und Dankbarkeit dafür, daß es mir vergönnt worden war, diesen Mann zu kennen. Und in meinem Traum sagte die Erscheinung Victors zu mir:»Wer bist du?«
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