Ich hob den Kopf und blickte zum Fenster gegenüber, ich sah den Regen, der immer noch in Bächen an den Scheiben herabströmte, und ich dachte, es liegt in meiner Macht, das Schicksal dieser Familie zu ändern.

Plötzlich erschien mir alles ganz einfach, gar nicht mehr rätselhaft. Das Geheimnis war endlich gelüftet. Ich wußte, wozu ich in das Haus in der George Street gekommen war. Ich wußte, wozu ich auserwählt worden war und worin meine Bestimmung lag.

«Solange Victor Townsend lebte, machte er den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle.«

Das hatte meine Großmutter an meinem zweiten Tag in diesem Haus zu mir gesagt. Sie hatte von» unsäglichen Scheußlichkeiten «gesprochen, Victor als einen Teufel bezeichnet, der mit dem Satan in Verbindung stand. Mir war jetzt alles klar. Von seinem Bruder und den Bürgern des Städtchens zu Unrecht verdächtigt und verdammt, war Victor Townsend in Zorn und Bitterkeit fortgegangen. Sein Leben war verpfuscht. Er hatte seine berufliche Karriere aufgegeben, er hatte Jennifer verloren, er war aufs Schlimmste verleumdet und aus seiner Heimat vertrieben worden.

Während ich auf dem Sofa saß und ins Leere starrte, sah ich ihn vor mir, wie er nach Hause zurückkehrte, ein völlig anderer. Ich sah ihn getrieben von finsterer Rachgier, die einen grausamen, brutalen Menschen aus ihn gemacht hatte, für den nur noch eines zählte — es denen heimzuzahlen, die ihn mit Füßen getreten oder tödlich verletzt hatten.

War es so gewesen? War Victor nach Monaten des Alleinseins und der Einsamkeit, in denen der Gedanke an Rache allmählich sein Herz vergiftet hatte, mit dem Ziel zurückgekehrt, die zu vernichten, die er einst geliebt hatte?

War an Großmutters Geschichten vielleicht doch etwas Wahres?

Die Stunden verrannen träge. Ich saß in unveränderter Haltung auf dem Sofa, gelähmt von meiner körperlichen Schwäche und niedergedrückt von meinen Gedanken, die unablässig um dasselbe kreisten.

Es lag, sagte ich mir, in meiner Macht, wenn nicht Harriet, so doch wenigstens Jennifer vor der Rache des außer sich geratenen Victor Townsend zu bewahren. Wenn er wirklich so zurückkehren sollte, wie ich es mir vorstellte, würde es mir dann möglich sein, einzugreifen und Jennifer vor dem Schicksal zu retten, das ihr zugedacht war?

Konnte ich die Geschichte verändern?

Und wenn ich es tat, was würde dann aus mir werden? Jennifer war meine Urgroßmutter. Sie war von Victor vergewaltigt worden, und aus diesem Akt der Gewalt war Robert hervorgegangen, ihr Sohn, mein Großvater. Was aber würde geschehen, wenn es mir tatsächlich gegeben war, einzugreifen und die Gewalttat zu verhindern? Das würde doch heißen, daß mein Großvater nie geboren werden würde.

Und würde das nicht in letzter Konsequenz bedeuten, daß auch ich aufhören würde zu existieren?

Es konnte nur so sein, daß die Wahl, die mir gewährt wurde, mit Selbstaufgabe verbunden war. Ich mußte entscheiden, was ich tun wollte: Untätig zusehen, wie Victor sich an seiner Familie und der Frau, die er geliebt hatte, rächte, oder eingreifen und das verhindern.

Und wenn ich es verhinderte, kam das für mich einem Selbstmord gleich.

Mir war, als befände ich mich in einem Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gab. Immer tiefer trieben mich mein Denken und Forschen in mich selbst hinein, ich stieß auf Winkel meiner Seele, in die noch nie Licht gekommen war, ich begegnete Seiten von mir, die ich nie kennengelernt hatte.

Und dazwischen fragte ich mich immer wieder: Ist es möglich, daß ich mich in Victor täusche?

Was wird geschehen, wenn ich mich täusche und einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begehe, indem ich die Vereinigung von Jennifer und Victor verhindere, zwei guten und reinen Menschen, und so in meiner Tölpelhaftigkeit meinen eigenen Tod herbeiführe? Mein Großvater, meine Mutter, Elsie und William, meine Cousinen und mein Vetter, mein Bruder und ich selbst — alle in einem Wimpernschlag ausgelöscht. Ich brauchte nur einzugreifen und Victors Verbrechen zu verhindern. Aber kann man die Geschichte wirklich verändern? Oder waren alle meine Überlegungen nur die Wahnvorstellungen eines Menschen, der seit Tagen nicht gegessen und geschlafen hat und sich am Rande des nervlichen und körperlichen Zusammenbruchs befindet? Woher sollte ich das mit Sicherheit wissen?

Das Klopfen von oben weckte mich. Ich lag auf dem Boden in der Mitte des Wohnzimmers. Ich brauchte einen Moment, um die Orientierung zu finden, und als ich mich aus meiner Benommenheit befreit hatte und das Klopfen aus dem oberen Stockwerk hörte, fragte ich mich, ob es von Großmutter kam, die mich brauchte, oder von einem Besucher aus der Vergangenheit. Mit Mühe stand ich auf und torkelte zur Tür.

Im Flur war es dunkel. Die Treppe schwang sich in eine Finsternis hinauf, die mir schwärzer und undurchdringlicher erschien als je zuvor. Die Stille war beinahe greifbar. Sie beengte mich und machte mir das Atmen schwer. Bei jedem Schritt aufwärts mußte ich keuchend um Atem ringen; mein Körper rebellierte gegen die Kraft, die ihn vorwärts trieb. Und bei jedem Schritt dachte ich, wenn ich recht habe und Victor nur zurückkommt, um grausame Rache zu nehmen, werde ich dann dabeistehen und zusehen können, wie er die Menschen quält, die ich lieben gelernt habe, oder werde ich den Mut haben, einzugreifen und das Unglück abzuwenden und damit mich selbst auszulöschen? Als ich das Ende der Treppe erreicht hatte, lehnte ich mich schwer atmend an die Wand. Die Luft erschien mir dünn und eisig hier oben, als wäre ich in polare Zonen hinaufgeklettert, und während ich dastand und meine Kräfte sammelte, dachte ich weiter: Und wenn ich es schaffe einzugreifen, wie wird es vor sich gehen? Ich habe erfahren, daß ich nun feste Form für diese Menschen angenommen habe und mit ihnen sprechen kann. Bei der nächsten Begegnung werde ich ihnen noch realer erscheinen. Wie also werde ich die Wahnsinnstaten Victors verhindern? Wird allein schon mein Anblick, wenn ich ihm plötzlich erscheine, ihn abschrecken? Werde ich ihn lange genug zurückhalten können, um Jennifer Gelegenheit zu lassen, sich zu retten? Wie werde ich es anstellen?

Ich drehte mich um und spähte durch den dunklen Korridor. Das Klopfen kam natürlich aus dem Vorderzimmer. Im Schlafzimmer meiner Großmutter war alles still.

Ehe ich den unvermeidlichen Weg antrat, dachte ich, und was ist, wenn ich mich täusche? Was ist, wenn Victor als Geschlagener nach Hause kommt, der nichts sucht als Trost und Liebe? Was ist, wenn ich einen Akt der Liebe verhindere? Wenn ich die falsche Entscheidung treffen sollte?

Tausend Fragen und keine Antwort. Ich konnte nur den Flur hinuntergehen, in das Schlafzimmer treten und dem Schicksal fürs erste seinen Lauf lassen.

Kapitel 16

Wieder war das Zimmer erfüllt von dem gespenstischen dunstigen Licht, das eine unsichtbare Quelle verströmte und das kalt wirkte. Als ich über die Schwelle trat, spürte ich jemanden neben mir. Es war Jennifer. Sie war mit mir eingetreten, schien jedoch meine Anwesenheit nicht zu bemerken. Ihr Blick war auf den Kleiderschrank gerichtet, und genau wie ich blieb sie einen Moment zögernd stehen.

Die Szene war mir schrecklich vertraut. Ich war schon früher hier gewesen. Das Zimmer umfing mich mit der gleichen Aura lauernder Schrecknisse und höllischer Bilder. Vielleicht war es nur Einbildung, aber diesmal hingen die Schatten in seltsamen Winkeln in dem Raum, so daß er verzerrt wirkte, wie gekippt. Ich hatte den flüchtigen Eindruck, ein Gespensterkabinett zu betreten. Ein kalter Luftzug traf mich — uns —, der von allen Seiten zu kommen schien und mich bis ins Innerste auskühlte. Das geisterhafte Licht schluckte alle Farben im Raum; was blieb, waren Kontraste in Schwarz, Weiß und Grau. Bedrückend wie in einem Alptraum.

Jennifer und ich setzten uns in Bewegung. Ihr Gesicht war ungewohnt starr, während sie zuerst hierhin und dann dorthin blickte, um schließlich den Blick wieder auf den Kleiderschrank zu richten. Sie schien hierhergekommen zu sein, um etwas zu suchen, aber ich fühlte, daß sie schon ahnte, schon fürchtete, daß sie es im Kleiderschrank finden würde.

Wir wurden beide wie magisch zu ihm hingezogen, während unsere Blicke auf dem polierten Holz ruhten, auf der geschwungenen Maserung, den glänzenden Messingbeschlägen. Es kann sein, daß Jennifer sich im Zimmer umsah, während sie vorwärtsschritt; ich tat es nicht. Ich hatte eine Todesangst vor dem, was ich in den Schatten erblicken könnte. Ein solches Grauen packte mich, daß ich am liebsten laut geschrien hätte. Doch meine Füße bewegten sich unerbittlich vorwärts, im Gleichschritt mit Jennifers. Dann standen wir vor dem Schrank. Wir standen da und starrten ihn an und spürten, wie sich uns die Haare im Nacken sträubten. Wir hatten beide das heftige Verlangen, kehrtzumachen und zu fliehen, aber wir konnten es nicht. Wir mußten wissen, was in dem Schrank war.

Ich sah, wie unsere Hände sich hoben und zum Schrank griffen. Jennifers, lang und bleich, berührte den kleinen Messingknopf. Meine eigene Hand hing nur ausgestreckt in der Luft, bloße Nachahmung ihres Handelns. Wir zögerten immer noch, bedrängt von der unheimlichen Aura des Zimmers, schaudernd vor böser Vorahnung.

Dann ergriff Jennifer den kleinen Messingknauf und begann, ihn zu drehen.

Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden. Auf dem Boden zu unseren Füßen war eine Spur von Blutstropfen, die zum Schrank führte, und dort, an seinem Sockel, glänzte dunkel ein frischer Fleck, aus dem Inneren hervorgequollen. Starr vor Angst und dennoch unfähig einzuhalten, zog Jennifer langsam die Schranktür auf.

Wir schrien beide. Wir schrien gleichzeitig, beinahe im Gleichklang. Wir schlugen die Hände auf unsere Münder, um die Schreie zu ersticken. Ich spürte, daß Jennifers Herz so rasend hämmerte wie meines, daß plötzliche Schwäche sie überwältigte, und sie glaubte, sie würde zuammenbrechen. Aber das verging. Wir faßten uns, wenn auch zu Tode erschrocken von dem, was wir sahen. Es war Harriet.