Ich antwortete:»Deine Urenkelin. «Das schien ihn zu überraschen.»Wie kann das sein?«

Ich erwiderte:»Wie kann es sein, daß du jetzt mit mir sprichst. Träumeich?«

Aber er sagte nur:»Wie kannst du meine Urenkelin sein, wenn ich niemals geheiratet habe und auch keine Kinder hatte?«Ich lachte ein wenig und sagte dann:»Aus deiner einen Nacht mit Jennifer ist ein Sohn hervorgegangen. Sie taufte ihn Robert. Und als er erwachsen wurde, bekam er eine Tochter, meine Mutter. So kommt es, daß du mein Urgroßvater bist.«

Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, und während ich ihn noch anblickte, hatte ich den Eindruck, daß in seinen Augen etwas aufleuchtete, als hätte sich dort ein Funke der Hoffnung entzündet, der die Schleier von Bitterkeit und Enttäuschung durchdrang. Sein Gesicht schien mir ruhiger zu werden, entspannter und jünger. Er sah wieder so aus wie damals, ehe die Erfahrungen an den Krankenhäusern Londons ihn hatten altern lassen.»Ich hatte einen Sohn«, murmelte er.»Was ist aus dir geworden?«fragte ich ihn.

«Ich ging nach dieser Nacht nach Frankreich. Ich versprach Jennifer, daß ich zu ihr zurückkommen würde. Ich ging nach Frankreich, um ein neues Leben aufzubauen und mich Jennifers würdig zu erweisen, wenn ich sie bat, meine Frau zu werden.«

«Und was geschah?«

«Ich starb ein Jahr später auf einem Schiff bei der Überfahrt über den Kanal. Sie wußte nicht, daß ich auf der Rückreise war. Ich hatte ihr nicht geschrieben, weil ich sie überraschen wollte. Sie muß ihr Leben lang geglaubt haben, ich hätte sie vergessen.«

«Sie starb nicht lange nach dir, Victor. Wahrscheinlich vor Kummer. «

«Und ich erfuhr nie, daß sie ein Kind hatte.«

«Dein Kind«, sagte ich.

«Aber warum bist du hier? Warum sind wir beide hier? Dort, wo ich war, war es grau und häßlich…«

«Ich weiß es nicht. Vielleicht um die Dinge geradezurücken.«

«Wie hieß mein Sohn?«

«Robert.«

«Robert«, wiederholte er.»Aber er liegt jetzt im Sterben.«

«Wir müssen alle sterben«, sagte Victor.

«Sag mir was. Sag mir, wie das mit der Zeit ist. Wie ist es geschehen? Bist du irgendwo noch am Leben…«Aber mein Urgroßvater hörte mir nicht zu. Er drehte den Kopf und blickte über seine Schulter. Ich sah, wie helles Sonnenlicht sein Gesicht überflutete und ein strahlendes Lächeln es von innen erleuchtete.»Sie ist hier«, murmelte er.»Wir sind wohl alle hier.«

Aber er hörte mich nicht mehr. Victor Townsend wandte sich für immer von mir ab und verschwand in den Dunstschleiern, die das Sofa umgaben. Das letzte Wort, das ich von ihm hörte, war,»Jennifer… «

Kapitel 17

Als ich zu mir kam und die Augen aufschlug, sah ich ein Wohnzimmer, das ich nie zuvor gesehen hatte. Und in meinem verwirrten Zustand fragte ich mich, wo bin ich jetzt? Aber als ich den Kopf zur Seite drehte und das Sonnenlicht sah, das zum Fenster hereinströmte, wußte ich es.

«Es hat aufgehört zu regnen«, rief meine Großmutter aus der Küche.

Ich setzte mich auf. Der Duft von bruzzelndem Schinken und frisch geröstetem Brot wehte mir in die Nase. Ich hatte einen Bärenhunger.

«Was ist heute für ein Tag, Großmutter?«rief ich.»Mittwoch, Kind.«

Mittwoch! Ich war seit zwölf Tagen hier in diesem Haus.»Mann, hab ich einen Hunger«, sagte ich und sprang auf. Ich fühlte mich herrlich. Mein ganzer Körper war entspannt und frisch.

Großmutter streckte den grauen Kopf ins Wohnzimmer.»Ach, endlich siehst du wieder besser aus, Kind. Das schlechte Wetter ist vorbei. Heute kannst du ins Krankenhaus fahren. Und danach ab ins Reisebüro mit dir, damit du deinen Flug buchen kannst.«

«Tut mir leid, Großmutter«, entgegnete ich, während ich Decken und Kissen und meine Kleider aufsammelte.»So schnell wirst du mich nicht los. Geh doch selbst ins Reisebüro, wenn du willst, aber ich hab noch einige Besuche zu machen.«

Sie sagte noch etwas, aber ich hörte es nicht mehr. Ich rannte schon die Treppe hinauf und ins Bad. Dusche gab es keine in diesem Haus, aber die Wanne tat es auch. Ich ließ sie mit heißem Wasser vollaufen, schrubbte mich gründlich ab, hielt den Kopf unter den Wasserhahn und wusch alle Überreste der vergangenen achtzig Jahre von mir ab.

Ich fühlte mich wie neugeboren.

Nachdem ich mich in der schneidenden Kälte des Vorderzimmers, die ich jetzt unangenehm deutlich spürte, angekleidet hatte, blieb ich noch einen Moment vor dem alten Kleiderschrank stehen. Ich sah hinunter auf seinen staubigen Boden und erinnerte mich, was Jennifer und ich dort in der Düsternis gefunden hatten. Dann schüttelte ich mir die Nässe aus dem Haar, sah zum Bett hinüber und lächelte.

Beim Frühstück aß ich für drei.»Na, dein Appetit ist wieder da, wie ich sehe.«

«Ich fühle mich prächtig, Großmutter.«

«Und Farbe hast du auch wieder. Aha, jetzt hast du dir doch eine von meinen Strickjacken übergezogen, das beruhigt mich.«

«Blieb mir ja nichts anderes übrig. Es ist ganz schön kalt hier drinnen. «Ich lachte sie an und spülte meinen Tee hinunter. Draußen war ein wunderschöner Tag, sonnig, ein leuchtend blauer Himmel, an dem kleine weiße Wölkchen dahintrieben, und sogar

Vogelgezwitscher hörte ich. Ich hätte am liebsten gejauchzt vor Wonne.

Wir waren alle neu geboren worden.

«Du hast eben doch eine richtige Grippe gehabt«, sagte Großmutter.»Und jetzt ist sie vorbei. Siehst du, Ärzte sind ganz überflüssig. Der Körper weiß schon, was gut für ihn ist.«

«O ja, Großmutter. «Ich lächelte und dachte an Dr. Victor Townsend und seine wunderbar heilenden Hände.»Deine Arthritis ist auch weg, wie ich sehe.«

«Weg nicht, Kind, nur eingeschlafen bis zum nächsten Regenguß.«

Wir lachten ein wenig und schwatzten viel und waren uns einig, daß die britische Wirtschaft zum Teufel ging. Als kurz nach Mittag Elsie und William an die Tür klopften, ließ ich sie herein und begrüßte beide mit Umarmungen. Sie waren Victors Enkel, und wenn ich mir William genau ansah, konnte ich sogar eine gewisse Ähnlichkeit entdecken.

Nachdem ich mich warm eingepackt hatte, gingen wir in den beißend kalten Tag hinaus. Es mochte hell und sonnig sein, es war dennoch Winter in Warrington, und ich genoß es, zur Abwechslung einmal wieder ein wenig zu frösteln.

Der Zustand meines Großvaters war unverändert. Er lag fast bewegungslos auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick zur Zimmerdecke hinauf. Elsie ging sogleich zum gewohnten Ritual über, öffnete Kekspackungen und Saftflaschen, die sie ihm mitgebracht hatte, und erzählte dabei die ganze Zeit von dem fürchterlichen Wetter, dem Regen und dem Sturm, der uns daran gehindert hatte, ins Krankenhaus zu kommen.

Ich saß derweilen stumm auf meinem Stuhl und sah ihn nur an. Er war Victors Sohn. Er war in jener einen Nacht im Vorderzimmer gezeugt worden, in einer Nacht, in dem nicht nur ihm das Leben geschenkt worden war, sondern auch mir. Ich wußte, mein Leben lang würde ich zurückblicken und wissen, daß ich, ganz gleich, was in den kommenden Jahren geschehen sollte, erfahren hatte, wie es ist, von einem Mann wahrhaft geliebt zu werden. Wir blieben eine Stunde bei meinem Großvater. Ich sprach kaum, dafür schwatzten Elsie und William nach gewohnter Art und taten so, als könnte er sie verstehen.

Und während ich auf meinen Großvater hinuntersah, dachte ich, ich bin froh, daß es vorbei ist. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich gewünscht, es würde ewig weitergehen, da hatte ich gefürchtet, Victor zu verlieren und mich wieder der Gegenwart stellen zu müssen. Aber das alles hat sich jetzt geändert. Ich bin ein Kind der Gegenwart und nicht der Vergangenheit, und Victor gehört dorthin, wo er geboren wurde — in die Vergangenheit. Wir können niemals wieder zusammenkommen.

Und dennoch bin ich froh und würde diese Erfahrung gegen nichts auf der Welt eintauschen. Ich trauere nicht, daß sie vorüber ist. Ich freue mich daran. Denn sie hat mich lebendiger gemacht. Nur eines hatte ich noch zu tun. Als Elsie meinte, es sei Zeit zu gehen, und anfing, ihre Sieben-Sachen einzupacken, sagte ich:»Ich würde gern noch einen Moment bleiben, Elsie. Ich möchte Großvater etwas sagen. «Sie sah mich erstaunt an.

«Würdet ihr mich mit ihm allein lassen? Ja, bitte? Ich muß bald wieder abreisen, und ich glaube nicht, daß ich so schnell wieder nach England komme — weißt du, ich möchte einfach noch ein bißchen mit ihm reden, ehe ich gehe. «Elsie sah William an.»Du meinst, wir sollen rausgehen?«

«Wenn es euch nichts ausmacht.«

«Aber er kann dich doch gar nicht hören — «Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf.»Natürlich kannst du mit ihm reden, Kind, es wird ihm bestimmt guttun. William und ich warten im Auto. Laß dir ruhig Zeit.«

«Danke, Elsie.«

Sie klappten ihre Stühle zusammen, stellten sie in die Ecke und gingen durch die Schwingtür hinaus. Ich wartete am Fenster, bis ich sie aus dem Gebäude kommen und über den Parkplatz zum Auto gehen sah, dann kehrte ich an das Bett meines Großvaters zurück, kniete nieder, so daß mein Kopf mit seinem auf gleicher Höhe war, und sagte dicht an seinem Ohr:»Großvater? Kannst du mich hören? Ich bin's, Andrea.«

Sein Blick blieb weiter an die Zimmerdecke gerichtet, sein Gesicht zeigte keine Regung.

«Großvater«, sagte ich wieder leise und eindringlich.»Ich bin's, Andrea, deine Enkelin. Kannst du mich hören? Ja, ich glaube, du hörst mich. Aber du bist eingesperrt. Eingesperrt in einem Körper, der sich nicht bewegen kann. Aber du kannst mich hören, nicht wahr?«

Wieder beobachtete ich ihn, das ruhige Gesicht, die blicklosen Augen. Es gab kein Anzeichen dafür, daß er mich gehört hatte. Dennoch fuhr ich zu sprechen fort:»Ich muß dir etwas sagen, Großvater, ehe ich wieder nach Amerika fliege. Es geht um deinen Vater — Victor. Bitte hör mir genau zu. «Ich weiß nicht, wie lange ich an dem weißen Krankenbett kniete und zu dem alten Mann sprach. Ich erzählte langsam und genau und berichtete ihm alles, was mir in seinem Haus in der George Street widerfahren war. Ich ließ nichts aus, sondern begann bei meinem ersten Abend, als ich >Für Elise< gehört hatte, und endete bei meinem Traum der vergangenen Nacht und meinem letzten Gespräch mit Victor. Ich beschrieb ihm jede einzelne Episode, jedes Detail, und ließ mir viel Zeit, um sicher zu sein, daß er alles verstand.