Am Ende sagte ich:»Nun weißt du es, Großvater. Deine Mutter hat dich nicht verachtet und gehaßt. Sie hat dich geliebt. Sie hat dich sehr geliebt. Du warst die einzige Freude in ihrem Leben. Sie ist nicht gestorben, weil sie die Erinnerung an die Nacht deiner Zeugung nicht ertragen konnte, wie man dir das erzählt hat; sie ist an gebrochenem Herzen gestorben. Sie glaubte, Victor hätte sie vergessen. Du hast immer geglaubt, sie müsse dich gehaßt haben, Großvater, sie müsse schon deinen Anblick gehaßt haben, weil du sie an einen grauenvollen Moment in ihrem Leben erinnert hast. Aber so war es nicht. Es war genau umgekehrt. Du hast sie an den einzigen Moment überwältigenden Glücks in ihrem Leben erinnert. Großvater, du warst ein Kind der Liebe!«Ich hing an seinem Bettrand und hätte nicht sagen können, ob das, was ich ihm erzählt hatte, irgendeine Wirkung auf ihn hatte. Ich sah immer nur das Gesicht eines gequälten kleinen Jungen vor mir, der bei seiner invaliden Großmutter lebte, die ihn mit Schauergeschichten über seinen Vater großgezogen hatte, weil sie selbst es nicht anders gewußt hatte.

Noch einmal neigte ich mich zu ihm, um ihm noch ein Letztes zu sagen. Ich sagte ihm, seine Mutter und sein Vater seien in jenem anderen Reich, das wir nicht begreifen können und in das er selbst bald eintreten würde, wieder vereint. Und ich sagte ihm, daß sie dort auf ihn warteten.

Danach richtete ich mich auf und wartete, unsicher, ob er irgend etwas von dem, was ich gesagt hatte, aufgenommen hatte. Sein Gesicht blieb unbewegt, seine Augen waren stumpf und leer. Aber dann sah ich, wie sich seine Lippen bewegten. Es sah aus, als wollte er etwas sagen.

Ich beugte mich vor und fragte:»Was ist, Großvater?«Immer noch bewegte er die Lippen und versuchte unter großer Anstrengung ein Wort zu bilden. Während er kämpfte, sah ich, wie eine Träne sich aus seinem Augenwinkel löste und auf das Kopfkissen rollte.

Plötzlich leuchtete in seinen Augen, die auf einen Punkt zwischen dem Bett und der Zimmerdecke gerichtet waren, ein seltsames Licht auf. Ich hatte den Eindruck, daß er etwas sah. Seine Lippen zuckten und sein Kinn bebte, aber das Wort wollte sich nicht formen.»Was willst du sagen, Großvater?«

Er versuchte den Kopf zu heben, den Blick jetzt auf etwas gerichtet, das über seinem Bett zu schweben schien. Dann zuckte etwas wie ein Lächeln über seine Lippen, und er sagte mit ganz normaler Stimme:»Vater!«Da wußte ich, was mein Großvater sah. Er starb im selben Moment. Er starb mit diesem Lächeln auf dem Gesicht.

Meinen Verwandten habe ich nie erzählt, was ich in dem Haus in der George Street erlebt habe. Es war ihnen nicht bestimmt, davon zu wissen. Doch eben diese Erlebnisse brachten mich ihnen näher, ließen mich erkennen, daß meine Tante und mein Onkel, meine Cousinen und mein Vetter genau wie meine Mutter und ich Victor Townsends Erbe in sich trugen. Ich konnte diese Menschen lieben, die für mich zu Beginn meines Aufenthalts nichts weiter gewesen waren als Fremde mit einer merkwürdigen Sprache und seltsamen Gebräuchen.

Am folgenden Sonntag fuhren wir nach Morecambe Bay, und ich lernte meine anderen Verwandten kennen, die jüngere Generation. Ich habe selten einen so schönen vergnügten Tag erlebt. Ich fand es interessant und aufregend, diese Menschen kennenzulernen, Victors Nachkommen wie ich, und es fiel mir nicht schwer, sie liebzugewinnen. Wir hatten ja etwas gemeinsam, das stärker war als rein zufällige Freundschaft und Sympathie. Am Tag meiner Abreise sagte meine Großmutter zu mir:»Du mußt meinetwegen nicht traurig sein, Kind, jetzt, wo dein Großvater tot ist. Wir haben zweiundsechzig wunderbare Jahre miteinander verbracht, er und ich, und um nichts in der Welt würde ich sie hergeben. Ich hätte mir keinen besseren Mann wünschen können. Soll ich dir mal etwas sagen: Es ist gar nicht schwer, alt zu werden, wenn man an Gott und ein Weiterleben nach dem Tod glaubt. Weißt du, Kind, ich glaube, daß meine dreiundachtzig Jahre auf dieser Erde nur eine Art Anfang von dem waren, was noch vor mir liegt. Ein modernes junges Ding wie du wird das vielleicht für albern halten, aber ich bin fest überzeugt, daß ich deinen Großvater wiedersehen werde, wenn ich gestorben bin. Wir werden wieder zusammenkommen, denn etwas so Einfaches wie der Tod kann uns nicht trennen. Dazu waren wir hier auf Erden viel zu lange zusammen. Wir werden weiter zusammenbleiben, dein Großvater und ich, und ich gehe ohne Angst dem Tod entgegen.«

Bevor ich ging, machte sie mir noch ein Geschenk. Es war die in Leder gebundene Ausgabe des Buches She, die ich mir Wochen zuvor angesehen hatte. Während ich es in der Hand hielt, erinnerte ich mich der pessimistischen Weltanschauung, über die ich nachgedacht hatte, nachdem ich eine bestimmte Passage gelesen hatte — daß die einzige Zukunft, die uns erwartet, Staub und Verfall ist. Da war ich inzwischen ganz anderer Meinung. Ich wußte, daß in diesem Moment Victor und Jennifer irgendwo weiterlebten, und daß meine Großmutter in der Tat nach einer gewissen Zeit wieder mit meinem Großvater vereint werden würde. Ich wußte, daß wir alle am Ende unsere eigene Ewigkeit finden würden.

Und ich wußte jetzt auch, was mir bestimmt war. Geradeso, wie mir gestattet worden war, die Vergangenheit zu ändern, wurde mir jetzt die Möglichkeit gewährt, meine Zukunft zu ändern. Auf keinen Fall wollte ich die Chance vertun, das zu bekommen, was Jennifer und Victor sich ersehnt hatten, aber niemals hatten haben können. Diese Chance wurde mir geboten; ich wollte sie ergreifen, ehe es zu spät war. Ich konnte nur hoffen, daß Doug noch da sein würde, wenn ich zurückkehrte, denn ich hatte ihm soviel zu sagen. Ich hatte gelernt,»ich liebe dich «zu sagen. Erklärungen habe ich keine. Wie das alles geschehen ist, darüber kann man nur Mutmaßungen anstellen. Und warum es geschah… Nun, auch darüber läßt sich mit Gewißheit nichts sagen, wenn ich auch sicher bin, daß alles lange vorbestimmt war. Mein Großvater lag im Sterben, er mußte die Wahrheit erfahren. Und Victor existierte an einem Ort, der» grau und häßlich «war, wußte nichts 'darüber, was nach seinem Tod geschehen war. Und auch Jennifer war gestorben, ohne die Wahrheit zu wissen. Ich war die Mittlerin gewesen. Ich möchte gern glauben, daß ich dazu beigetragen habe, die Dinge zurechtzurücken und alles gutzumachen.

Als ich das Haus in der George Street betreten hatte, war ich ein Mensch ohne Vergangenheit und ohne Zukunft gewesen. Als ich ging, war ich mit den Schätzen einer reichen Vergangenheit beladen und trug in mir die Gewißheit, daß eine helle, lebendige Zukunft auf mich wartete.

Ehe ich draußen in Edouards kleinen Renault stieg, drehte ich mich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Haus. Mein Blick wanderte zum Vorderzimmer hinauf, wo im Fenster der vertraute weiße Spitzenvorhang hing. Er flatterte leise im Luftzug, als wollte er mir Lebewohl sagen.

ENDE