Sie lag zusammengekrümmt in der Ecke des Kleiderschranks und starrte aus blicklosen Augen zu uns auf. Ihr Gesicht trug einen Ausdruck, der eine Mischung aus Scham, hilflosem Erstaunen und Hinnahme war. Mit Jennifer zusammen kniete ich nieder, aber obwohl wir uns über Harriet neigten, brachten wir es nicht über uns, sie zu berühren. Wir wußten schon, daß Harriet tot war. Wir blickten sie an, zu entsetzt und verwirrt, um eine Bewegung zu machen, und wurden starr und kalt unter der Wirkung des Schocks. In Harriets Brust steckte ein Messer, ein langes Brotmesser, das ihrem Körper grausame und unnötige Verletzungen beigebracht hatte. Das Blut floß nicht mehr, es begann schon in kleinen Lachen um ihre Hände und Füße und in ihrem Schoß zu gerinnen. Mit der linken Hand umklammerte sie einen Brief:»Für Jenny«, stand auf dem Umschlag.
Eine unendlich lange Zeit blieben wir so, über den verstümmelten Körper Harriets geneigt, und sahen ganz ohne Gefühl die vielen Wunden und Verletzungen und dachten, es hätte nicht schlimmer sein können, wenn ein Schlächter sie unter dem Messer gehabt hätte. Harriet schien noch eine ganze Weile mit ihren Wunden gelebt zu haben, ehe sie endlich hatte sterben dürfen. Als Gefühl und Empfinden langsam wiederkehrten, griff Jennifer nach Harriets Hand. Nicht vorsichtig oder zaghaft, sondern mit Traurigkeit und Liebe. Sie umfaßte den Brief und zog ihn Harriet aus den Fingern. Mit einem Gefühl tiefer Resignation schob sie ihn in ihre Rocktasche und stand auf.
Auch ich stand auf, aber als Jennifer sich abwandte und ging, blieb ich stehen und starrte in den Schrank, bis er leer war und ich nichts weiter sah als ein paar Staubflusen.
Als ich irgendwann später erwachte, ohne die geringste Ahnung, wie spät es war, lag ich auf dem Bett. Ich war voll bekleidet und lag auf den Decken und konnte mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen war. Langsam richtete ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Es war wieder 1894.
Die Türen des Kleiderschranks standen offen, einige von Jennifers Kleidern hingen darin. Im Kamin brannte ein Feuer, und davor saß Jennifer, still und allein, in dem burgunderroten Samtsessel.
Muß ich jetzt für immer hierbleiben? fragte ich mich beunruhigt. Hat sich das Zeitfenster hinter mir geschlossen, als ich die Kluft überwand? Werde ich niemals wieder in meine eigene Zeit zurückkehren?
Auf den Ellbogen gestützt, blieb ich auf dem Bett liegen und beobachtete Jennifer. Ihr Gesicht war gezeichnet von den Nachwirkungen ihres grausigen Funds. Es war bleich und schmal, die Augen von dunklen Ringen umschattet. Jennifer sah aus wie eine Frau, die alle Hoffnung aufgegeben hat. In ihrem Blick, der in die Flammen gerichtet war, blitzte kaum noch ein Lebensfunke. Sie hatte kapituliert und sich in sich selbst zurückgezogen. Ich hörte die Schritte draußen erst, als Jennifer sich plötzlich lauschend aufrichtete und das Gesicht der Tür zuwandte. Aber dann horchte ich so gespannt wie sie. Die Schritte schallten dumpf durch den Korridor und wurden merklich lauter. Wie gebannt starrte ich zur Tür.
Und dann kam Victor Townsend herein.
Jennifer und ich schrien gleichzeitig auf. Doch während sie aus ihrem Sessel sprang, rührte ich mich nicht von der Stelle. Victor Townsend sah wieder aus wie damals, als er aus London zurückgekehrt war, das Gesicht eine strenge, unbewegte Maske, die kein Geheimnis preisgab, die Augen Spiegel von Enttäuschung und grausamer Ernüchterung. Reglos blieb er an der Tür stehen, den Blick mit einem Ausdruck von Schmerz und Resignation auf Jennifer gerichtet, die vor ihrem Sessel stehengeblieben war. Sie sah ihn so ungläubig an, als hielte sie ihn für ein Gespenst. Schließlich sagte Victor:»Ich habe unten geklopft, und als niemand aufmachte, bin ich einfach hereingekommen. Ich hatte von der Straße das Licht hier im Zimmer gesehen und nahm an, es sei jemand da. Jennifer…«
Sie konnte nicht sprechen. Ihr Körper neigte sich ihm ein wenig zu, sie hob die Hände, aber noch immer konnte sie kein Wort sagen. Es war, als stünde sie jemandem gegenüber, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war.
«Ich habe deine Briefe bekommen«, sagte er zögernd, als suchte er nach den richtigen Worten.»Aber ich konnte sie nicht beantworten, Jennifer. Ich habe die Beerdigung verpaßt, nicht wahr?«
«Ja«, antwortete sie, immer noch wie in einem Traum.»Und John…«Victor schien unsicher.»Hast du von ihm gehört?«
Sie schüttelte den Kopf.
«Sie haben ihn gefunden, Jenny«, sagte Victor mit tonloser Stimme.»Im Mersey. Er konnte den Buchmachern nicht entkommen. Es tut mir leid.«
Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.»Es mußte wohl so kommen«, sagte sie leise.»Im Grunde habe ich es wahrscheinlich nicht anders erwartet.«
«Jenny«, sagte er stockend.»Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.«
Jennifer begann zu zittern.»Lebewohl?«Ihre Stimme war nur ein Hauch.
«Ach Gott, Jenny, wie mich das quält. Du siehst krank aus. Du bist zu dünn. Geh fort aus diesem Haus, Jenny. Geh fort von dieser Familie, ehe du umkommst.«
«Warum bist du gekommen, wenn du mir nur Lebewohl sagen willst?«
«Jennifer, ich habe mich dir ferngehalten, um dich vor meinem schlimmen Ruf zu schützen. Du bist so unschuldig in das alles hineingerissen worden. Und sieh dich an, was es aus dir gemacht hat. Ich hoffte, du würdest mich mit der Zeit vergessen, wie an einen Toten an mich denken.«
«Niemals, Victor!«Sie trat einen Schritt auf ihn zu.»Aber es muß so sein. Ich bin sofort gekommen, als ich von Harriet hörte. Ich wollte bei der Beerdigung dabeisein. Aber ich bin zu spät gekommen. Wo sind meine Eltern, Jenny?«Sie befeuchtete ihre spröden Lippen.»Sie sind nach Wales gereist. Deine Mutter hat den schrecklichen Schock nicht ertragen können. Sie hatte einen Zusammenbruch, Victor. Sie kann nicht mehr gehen. Und dein Vater gibt sich die Schuld an Harriets Tod… Sie mußten einfach eine Weile weg von hier, weißt du.«
«Und du hast sie nicht begleitet?«
«Ich — konnte nicht. Ich habe — «
«Du hast auf Johns Rückkehr gewartet.«
«Nein, Victor. Ich habe auf dich gewartet. «Ihre Stimme gewann jetzt an Kraft.»Die Hoffnung, daß John zurückkehren würde, hatte ich längst aufgegeben. Ich hoffe, er hat da, wo er jetzt ist, seinen Frieden gefunden. Aber dich habe ich nie verloren gegeben, Victor. Ich habe nur von der Hoffnung gelebt, daß du zurückkehren würdest. Wie hätte ich nach Wales reisen können, da du ja jederzeit zurückkommen konntest? Wie es nun auch geschehen ist…«
Sie schwiegen beide und sahen sich nur an. Und beide konnten sie nicht genug voneinander bekommen.
Ich stand langsam vom Bett auf. Ich schwang die Beine zu Boden und stellte mich vorsichtig auf die Füße. Ohne zu überlegen, ging ich zu Jennifer und blieb an ihrer Seite. Jetzt sahen wir beide den Mann an, den wir liebten.»Du hast gesagt, du seist gekommen, um mir Lebewohl zu sagen«, bemerkte Jennifer leise.
«Ja, ich werde jetzt für immer von hier fortgehen. England kann nicht mehr meine Heimat sein. Ich bin ein Mann ohne Ehre. Ich habe kein Recht darauf, unter anständigen Menschen zu leben. Vielleicht werde ich in Frankreich — «
«Bleib, Victor. «Nicht leidenschaftlich und nicht flehend. Einfach:»Bleib.«
Und ich sah, wie es ihn ergriff.
Er schien schwankend zu werden in seinem Entschluß und sagte unsicher:»Ich bin nicht gekommen, um mit dir allein zu sein. Ich wollte meine Mutter besuchen, um ihr, wenn möglich, ein wenig Trost zu spenden. «Jetzt, da sie zwei ihrer Kinder verloren hat, dachte er bitter.»Ich hatte gehofft, dich nur in ihrem Beisein zu sehen. Aber nicht — nicht so.«
«Und warum nicht so?«
«Weil ich dich nur unglücklich machen kann.«
«Wie alle anderen?«Er nickte.
«Dann…«Jennifer griff in ihre Rocktasche und zog einen Brief heraus. Am Umschlag erkannte ich, daß es das Schreiben war, das Harriet ihr hinterlassen hatte. Und ich sah mit Trauer, daß es das gleiche etwas kitschige Briefpapier war, auf dem sie ihre heimlichen Briefe an Scan O'Hanrahan geschrieben hatte.»Lies das«, sagte sie und hielt ihm den Brief hin. Victor betrachtete den Umschlag.»Was ist das?«
«Bitte lies es.«
Er überlegte einen Moment, dann kam er langsam zu uns. So weit wie möglich von uns entfernt blieb er stehen und nahm den Brief. Als er den Bogen aus dem Umschlag zog und entfaltete, sah ich Harriets feine Handschrift mit eigenen Augen. Ich las den Brief mit ihm.
«Liebste Jennifer, ich weiß, wenn Du diesen Brief liest, Du, meine einzige wahre Freundin, wirst Du sehr traurig und bekümmert sein, und ich weiß auch, daß ich Dir großen Kummer bereitet habe. Aber es mußte so geschehen. Ich muß Dir sagen, warum. Ich weiß schon seit einiger Zeit, daß ich mein Leben auf diese Weise beenden muß, so, wie Du mich nun gefunden hast, denn ich habe immer geglaubt, daß Vater es so gewollt hätte.
Meine Zeit ist knapp, ich werde Dein Elend nicht verlängern. Als mein Vater mir das Recht verweigerte, Scan O'Hanrahan zu heiraten, ihn einen Papisten und anderes schimpfte, gehorchte ich ihm nicht, sondern ging mit Scan zur alten Abtei hinaus. Du weißt davon. Und als ich guter Hoffnung war, selbst dann glaubte ich immer noch, daß mein geliebter Sean mich heiraten würde. Bis er mir die grausame Wahrheit sagte. Ich war entehrt. Aber schlimmer noch, ich war zurückgewiesen worden. Ich glaube, das war der Moment, liebste Jenny, als alles in mir umschlug. Es war, als hätte eine andere Person von mir Besitz ergriffen und täte mit mir, was sie wollte. Ich sage das nicht, um mich von den Handlungen freizusprechen, die ich begangen habe, sondern um Dir wenigstens eine kleine Erklärung dafür zu geben, warum ich getan habe, was ich tat.
Victor hat keine Abtreibung an mir vorgenommen. Ich habe es mit eigener Hand getan. Ich wollte ihn verletzen. Ich wollte Euch alle verletzen, weil ich glaubte, das würde meinen Schmerz lindern. Ich wollte auch John ruinieren, darum ging ich zu den Buchmachern und erzählte ihnen von seinem Plan, aus Warrington fortzugehen. Ich will jetzt nicht behaupten, daß ich an dem Unglück, das ich herbeiführte, nicht eine gewisse grausame Freude hatte, so schändlich das ist. Ich hatte in meinem Schmerz und meiner Bitterkeit nur einen Gedanken: anderen gleich Schlimmes zuzufügen, wie mir angetan worden war.
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