Danach rasierte ich mich mithilfe der Seife, meines Messers und eines Spiegelfragments aus meiner Satteltasche. Auch wenn das Glas zerbrochen und darin nicht viel von mir zu erkennen war, jagte mir das, was ich beim Abwaschen von Barthaaren und Schaum erspähte, einen Schreck ein.

Das Gesicht, das mir entgegenblickte, war von Blutergüssen übersät, bleich und viel kantiger, als ich es in Erinnerung hatte. In seine kindlichen Züge hatte sich unversehens eine hart erarbeitete Reife gemischt. Es war das Gesicht eines noch nicht ganz Einundzwanzigjährigen, das Gesicht, mit dem ich seit meiner Geburt gelebt hatte – und dennoch gehörte es einem Unbekannten. Doch mit der Zeit würde ich diesen Fremden, zu dem ich geworden war, schon noch kennenlernen. Ich würde mich zu seinem Herrn aufschwingen. Ich würde alles lernen, was ich benötigte, um in dieser neuen Welt zu überleben und mich in ihr zu behaupten.

Und ich würde nicht ruhen, bis ich Master Shelton gefunden hatte.

Denn er wusste weit mehr über mich, als er mir je verraten hatte – dessen war ich mir sicher. Er hatte dem verstorbenen Charles Brandon, Herzog von Suffolk, gedient und den Tod von dessen Frau, meiner Mutter, betrauert. Hatte er auch gewusst, dass das Goldblatt, das er Mary Tudor überbracht hatte, zu demselben Schmuckstück gehörte, dessen anderen Teil es, zusammen mit Mistress Alice’ wichtigsten Besitztümern, in ein Versteck verschlagen hatte? Und wenn es sich so verhielt, wusste er dann auch, dass es Mistress Alice anvertraut worden war, und aus welchem Grund? Ich hatte so viele Fragen, die nur er beantworten konnte.

Ich wandte mich wieder praktischen Dingen zu und zog mich an. Die Kleider passten mir erstaunlich gut.

Wenig später durchquerte ich den Saal mit seiner beeindruckenden, von Holzbalken gestützten Decke und den flämischen Wandteppichen und trat durch die offene Eichentür in einen milden Sommerabend hinaus, der sich einem samtenen Regen gleich über Heckenkirschen und Weiden legte.

Kate stand, den Kopf von einem Strohhut bedeckt, bis zu den Knöcheln in einem Kräuterbeet und band frisch gepflückte Thymianzweige zu Bündeln zusammen, die sie in einen Korb legte. Als sie meine Schritte hörte, sah sie auf. Dabei verrutschte ihr Hut, blieb jedoch auf ihrem Rücken an einem Band hängen. Bevor sie ihn wieder aufsetzen konnte, schloss ich sie in die Arme und ließ meinen ausgehungerten Sinnen freien Lauf.

»Ich nehme an, dass du gut geschlafen hast?«, flüsterte sie schließlich an meinen Lippen.

Ich ließ die Hände über ihre Taille gleiten. »Noch besser hätte ich geschlafen, wenn du bei mir gewesen wärst.«

Sie lachte. »Noch ein bisschen besser, und du hättest ein Leichentuch gebraucht.« Ihre Stimme wurde rauchig. »Denk bloß nicht daran, mich zu verführen. Ich habe nicht vor, irgendeinem streunenden Kater nachzugeben, der plötzlich beschließt, zu Hause vorbeizuschauen.«

»Doch, das hast du vor, und das ist gut so«, raunte ich. Wir küssten uns erneut, bis sie mich zu einer Bank bugsierte. Einander an den Händen haltend, blickten wir in den sich verdunkelnden Himmel.

Unvermittelt sagte Kate: »Ich habe das hier für dich.« Aus ihrer Rocktasche zog sie das Goldblatt – und zu meiner Überraschung Robert Dudleys Silberring mit dem Onyx.

»Den hatte ich ganz vergessen«, murmelte ich und streifte ihn mir über den Finger. Er war zu groß.

»Weißt du, was passiert ist?«, fragte Kate.

»Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass die Armee des Herzogs desertiert ist, als er zum Marsch auf Framlingham blies.«

Sie nickte. »Nur hat er es nicht mehr erreicht. Die Nachricht ist heute eingetroffen. Kaum hatte der Kronrat Mary zur Königin ausgerufen, haben sich Arundel und all die anderen ihr zu Füßen geworfen und um Gnade gewinselt. Danach ist Arundel losgezogen, um Northumberland, Lord Robert und seine anderen Söhne zu verhaften. Sie werden jetzt in den Tower geschafft, wo Guilford bereits eingekerkert ist.« Sie zögerte. »Es heißt, dass Mary ihre Hinrichtung anordnen wird.«

Meine Finger schlossen sich um den Ring. »Wer könnte es ihr verdenken?«, sagte ich leise, während meine Erinnerung weit in die Vergangenheit zurückflog, als ein verwirrter Junge sich aus Furcht, entdeckt zu werden, in einer Dachkammer am Boden zusammenkauerte und eine Horde von Söhnen beneidete, die ihn nie als einen der Ihren akzeptieren würden.

Ich spürte Kates Hand auf der meinen. »Du hast immer noch die Blüte. Hast du erfahren, was sie bedeutet?«

Die Erinnerung verblasste.

»Es ist ein Blatt.« Ich blickte ihr in die Augen. Langsam öffnete ich ihre Finger und legte ihr das Goldblatt in die Hand. »Ich möchte dir alles erzählen. Nur brauche ich vorher noch Zeit, um es zu entwirren. Und sie erwartet mich. Mistress Ashley hat es mir gesagt.«

Ich spürte, wie sie sich fast unmerklich aufrichtete. Mir war klar, dass sie nie gegen ihre Gefühle ankommen würde und dass wir beide würden lernen müssen, mit dieser Situation umzugehen, wenn wir ein gemeinsames Leben aufbauen wollten. Elizabeth war ein zu wichtiger Teil von uns beiden geworden.

»Sie wartet allerdings«, bestätigte Kate. »Heute Nachmittag hatte sie wieder Kopfschmerzen. Das ist der Grund, warum ich im Garten Kräuter gesammelt habe. Daraus braue ich ihr einen Abendtrunk. Aber sie hat mich gebeten, dich zu ihr zu schicken, sobald du aufgestanden bist. Wenn du willst, kann ich dich nachher zu ihr bringen. Im Augenblick macht sie in der Galerie ihre Leibesübungen.«

Sie wollte aufstehen, doch ich hielt sie zurück. »Geliebte Kate«, flüsterte ich und führte ihre Hand an meine Lippen, »mein Herz gehört allein dir.«

Sie betrachtete unsere ineinander verschlungenen Finger. »Das sagst du jetzt, aber du kennst sie nicht so gut wie ich. Eine treuere Herrin gibt es nirgendwo auf der Welt, aber sie fordert dafür auch bedingungslose Hingabe.«

»Die hat sie schon. Aber das ist alles.« Ich stand auf, hob ihr Kinn sanft mit den Fingern an und küsste sie auf die Lippen. »Behalte dieses Blatt bei dir. Es ist jetzt dein, als Symbol für unsere Verbindung. Ich würde dir gern einen dazu passenden Ring schenken, wenn du mich nimmst.«

Der Glanz in ihren Augen wärmte mir das Herz. Später würde ich noch genug Zeit haben, ihr zu beweisen, dass nichts die Liebe beeinträchtigen konnte, die ich zusammen mit ihr erleben wollte – eine Liebe, die weit entfernt war vom Aufruhr unserer Tage und der Niedertracht des Hofs, eine Liebe, in der das Geheimnis um meine Vergangenheit endlich zur Ruhe gebettet werden konnte.

Ich folgte Kate zurück in das Landschloss. Am Torbogen vor der Galerie zögerte ich. Die schlanke Gestalt, an deren Seite sich Urian befand, wirkte Ehrfurcht gebietend. Noch einmal atme ich tief durch, dann trat ich mit einer Verbeugung vor.

Freudig bellend sprang mir Urian entgegen.

Elizabeth stand, nur als Silhouette erkennbar, in dem durch die Schießscharte hereindringenden Zwielicht, und ihr malvenfarbener Umhang schien die letzten Reste der Sonnenstrahlen aufzusaugen. Ihr offenes rotgoldenes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie kam mir vor wie ein erschrockener Faun, den man auf einer Lichtung überrascht hat, doch dann trat sie mit jener Entschlossenheit auf mich zu, die sie als Jägerin, nicht als Opfer auswies. Als sie mich schon fast erreicht hatte, bemerkte ich einen zerknüllten Pergamentbogen in ihrer Hand.

Ich stellte mich ihrem Blick. »Ich bin überglücklich, Eure Hoheit in Sicherheit anzutreffen.«

»Und bei guter Gesundheit, vergesst nur das nicht«, zog sie mich auf. »Das Gleiche gilt für Euch, mein Freund.«

»Ja«, bestätigte ich leise, »auch mir geht es gut.«

Lächelnd winkte sie mich zum Fenstersitz hinüber. Das durchgesessene Polster und der bedenklich hohe Stapel von Büchern davor wiesen ihn als einen ihrer Lieblingsplätze aus. Zögernd, weil ich noch Zeit brauchte, um mich an ihre überwältigende Gegenwart zu gewöhnen, ließ ich mich auf der Kante nieder. Urian beschnupperte meine Beine und legte sich dann zu meinen Füßen auf den Boden.

Elizabeth setzte sich neben mich, ohne mir dabei zu nahe zu kommen. Ihre ebenmäßigen Finger spielten nervös mit dem Pergament. Bei der Erinnerung daran, wie diese Hände mit einem Steinwurf einen Wächter betäubt hatten, konnte ich über diese Verwandlungsfähigkeit nur staunen, die ebenso zu ihrem Wesen gehörte wie die Farben, die sie trug.

Erst jetzt begriff ich, dass dies hier die Wirklichkeit war. Bisher hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr alles sagte. Würde sie mich als lange verschollenes Familienmitglied willkommen heißen? Oder würde sie wie ihre furchterregende Cousine, die Herzogin von Suffolk, eine Bedrohung in mir sehen? Wenn Charles Brandon tatsächlich mein Vater war, konnte ich das in ihren Augen durchaus sein. Vielleicht würde sie nie begreifen, dass ich keinerlei Ansprüche auf den Thron erhob, obwohl in meinen Adern Tudor-Blut floss.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte Elizabeth: »Ihr seht gut aus. So schlank, und dazu Eure hellbraunen Augen und Euer Haar – von der gleichen Farbe wie Gerste … Kein Wunder, dass Ihr Jane irgendwie bekannt vorkamt. Ihr ähnelt meinem Bruder Edward, oder vielmehr dem Mann, zu dem er geworden wäre, hätte er nur lange genug gelebt.«

Heftige Emotionen stiegen in mir auf.

Doch gleichgültig, ob sie mich als Verwandten akzeptieren konnte oder nicht – ich hatte mich schon vorher dagegen entschieden, mich ihr zu diesem Zeitpunkt zu offenbaren. Ich musste mich erst noch in dieser meiner neuen Welt zurechtfinden. Unabhängig davon, wie offen ich mich Kate gegenüber verhielt – und ich war aufrichtig und wollte es bis zum Tode sein –, hatte ich keinen Zweifel daran, dass ich auch Elizabeth liebte. Wie auch nicht? Nur war ich nicht wie ein Dudley von einer irdischen Leidenschaft besessen, und darüber war ich froh. Elizabeth Tudor zu lieben, das würde in der Tat mehr erfordern, als man erwarten konnte zurückzubekommen. Bei ihr war man dazu verurteilt, in einem endlosen Schwebezustand zu verharren, etwas zu ersehnen, das niemals Wirklichkeit werden konnte. In dieser Hinsicht tat mir Lord Robert leid. Seine physischen Ketten würden nie dieselbe Kraft entfalten wie diejenigen, die sie um sein Herz geschmiedet hatte.