Mit einem animalischen Schrei stürzte sie sich auf mich. Die Wucht des Aufpralls riss mich von den Beinen. Ich erwehrte mich nach Kräften ihrer Krallen, die mir das Gesicht zerkratzten, als auch schon die Tür aufflog und die Wächter hereinsprangen. Blitzschnell packten sie Lady Dudley und zerrten sie von mir fort. Wild um sich schlagend, kreischte sie die wüstesten Beschimpfungen.

»Nein!«, rief ich. »Lasst sie! Ich muss noch …«

Zu spät. Zwei Männer zerrten sie hinaus. Ihr Heulen hallte von sämtlichen Mauern wider. Bereits in diesem Moment war mir klar, dass es lange dauern würde, bis dieser schauerliche Laut aufhörte, mich bis in meine Alpträume zu verfolgen.

Das Echo verhallte. Stille breitete sich aus. Tom stand auf der Schwelle. »Zeit zu gehen. Auf Geheiß des Kronrats werden jetzt die Tore geschlossen. Ihr wollt doch nicht die Nacht hier drinnen verbringen.«

Ich nickte benommen und trat zur Tür. Hinter mir hörte ich ein ersticktes Schluchzen. Ein letztes Mal blickte ich über die Schulter. Guilford kauerte in sich zusammengesunken auf dem Boden, das Gesicht in den Händen verborgen. Ich versuchte, wenigstens einen Hauch von Mitgefühl aufzubringen. Es betrübte mich, dass sich nichts in mir regte außer Abscheu.

»Wo ist er?«, fragte ich.

Guilford hob die in Tränen schwimmenden Augen. »Wer?«, krächzte er.

»Master Shelton. Wo ist er?«

Tränen erstickten Guilfords Stimme. »Er … er ist unsere Pferde holen gegangen.«

Ich wirbelte herum und rannte hinaus.

Die Nacht war hereingebrochen. Im Außenhof verbreiteten Fackeln ein von Rauch getrübtes Licht. Die Glocken erklangen in bunter Disharmonie, da mehr als ein Gemeindepfarrer freudetrunken auf seinen Kirchturm geklettert war. Vor den Mauern des Towers war ganz London zusammengeströmt, um seine rechtmäßige Königin zu feiern, während im Inneren des Bollwerks das Chaos ausbrach. Spätestens jetzt erkannten diejenigen, die dem Herzog bis zum Schluss die Treue gehalten hatten, ihren Fehler und versuchten im letzten Moment die Flucht, obwohl die Festungsmauern bemannt waren und die Tore verriegelt wurden.

In vollem Lauf rannte ich die Treppe des Hauptgebäudes hinunter, nur um jäh stehen zu bleiben. Ich hielt über das Gewimmel im Hof hinweg nach jener Gestalt Ausschau, die ich zu Beginn wahrgenommen hatte und bei der ich mir inzwischen sicher war, dass meine überreizte Vorstellungskraft mir keinen Streich gespielt hatte.

Das war Master Shelton in einem schwarzen Umhang gewesen. Master Shelton: der Lady Dudley und Guilford bei der Flucht geholfen und Cecil zusammen mit mir zum Hauptgebäude hatte laufen sehen. Er musste immer noch in der Nähe sein. Lady Dudley wartete auf ihn, und er würde erst dann aufgeben, wenn für ihn feststand, dass er nichts mehr für sie tun konnte. Master Shelton war die Zuverlässigkeit in Person. Was auch geschehen mochte, er erfüllte seine Pflicht.

Aber wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, hatte er noch einiges mehr getan. Bevor er zum Haus Dudley gestoßen war, hatte er Charles von Suffolk gedient. Von ihrer gemeinsamen Zeit dort musste ihn Mistress Alice gekannt haben. Und ohne dass Lady Dudley etwas davon ahnte, hatte meine alte Amme ihm die Wahrheit über meine Geburt anvertraut. In seiner Trauer um meine Mutter hatte er Mary Tudor jenes Fragment eines größeren Schmuckstücks gebracht. Und er war der Mann gewesen, der mich bei meiner Flucht aus Greenwich verschont hatte. Was ich nicht wusste, war, wie tief das Band zwischen ihm und meiner Mutter war, ja, ob es am Ende sogar der Grund gewesen war, warum sie ihre Schwangerschaft verborgen hatte. Nur um Lady Dudley zu überrumpeln, hatte ich mich als Suffolks Sohn bezeichnet, aber irgendwo fehlte noch dasjenige Teilchen, mit dem alles stand und fiel. Einen Schlüssel hatte ich noch nicht, und erst wenn ich ihn entdeckte, würde sich mir das letzte Geheimnis offenbaren.

Diesen Schlüssel besaß Master Shelton. Nur er konnte mir verraten, ob er mein Vater war.

Fluchend spähte ich in die flackernde Dunkelheit, in der in Umhänge gehüllte Gestalten wie Schatten durcheinanderrannten. In diesem Chaos würde ich ihn nie finden. Ich hätte längst aufgeben und mich um meine eigene Flucht kümmern sollen, solange ich noch konnte, bevor sie alle Tore schlossen und ich selbst gefangen war.

Schon begann ich, in die Richtung zu laufen, in die die Mehrheit strebte, als ich unvermittelt einen Schatten vor der Mauer mir gegenüber bemerkte, die bereits in tintenschwarze Dunkelheit getaucht war.

Eine Kapuze schirmte sein Gesicht ab. Er stand regungslos da wie eine Säule. Ich verharrte, jeden Nerv zum Zerreißen angespannt. Da hob der Schatten den Kopf. Für einen elektrisierenden Moment begegneten sich unsere Blicke. Ich sprang auf ihn zu. Gleichzeitig wirbelte Master Shelton herum, rannte los und tauchte in der Menge unter, die wie eine in Panik geratene Herde in blinder Flucht zum Tor drängte.

Ich kämpfte mich vorwärts. Master Shelton war vor mir, zu erkennen an seinen massiven Schultern. Der gepflasterte Weg wurde immer enger und zwang die fliehenden Beamten und Schreiber, sich in einen Flaschenhals zu drängen. Das Fallgitter war geschlossen. Ein Schlund voller spitzer Zähne verhinderte jedes Entkommen. Hinter uns kündigte das Klappern von Hufen die Ankunft der berittenen Patrouille an. Sie wurde begleitet von Dutzenden Wächtern in Helm und Panzer.

Entsetzt beobachtete ich, wie die Soldaten begannen, scheinbar willkürlich Männer herauszugreifen und mit Fragen zu bestürmen. »Wem dienst du? Königin oder Herzog?« Im gleichen Takt stießen Lanzen in Fleisch und Knochen. Binnen Sekunden erfüllte ekelerregender Urin- und Blutgestank die Luft. Am Fallgitter krallten sich Männer in panischer Raserei ineinander, kletterten über Köpfe, Schultern oder Rippen, brachen und zermalmten noch mehr Knochen.

Master Shelton versuchte zurückzuweichen, sich an den Rand dieser Stampede zu kämpfen. Wenn ihn ein Wächter oder sonst jemand als Bediensteten der Dudleys identifizierte, war das sein sicherer Tod. Das Nahen eines blutverschmierten Wächters auf einem mächtigen fuchsbraunen Hengst zwang die Menge dazu, sich zu teilen. Eine Reihe von Männern hatte das Pech, zu stürzen und in den Burggraben zu fallen, wo schon andere schwammen oder gegen das Ertrinken ankämpften. Ich drängte unter Einsatz meiner Schultern an jenen vorbei, die sich hinter Master Shelton befanden. Der Haushofmeister warf den Kopf herum, deutlich zu erkennen an der hervortretenden Narbe quer über seinem Gesicht.

Wut blitzte in seinen Augen auf, als er erkannte, dass der Wächter es auf ihn abgesehen hatte. Ich hatte schon einen Warnschrei auf den Lippen, als mit einem Mal ein Ruck durch die Menge ging und ich ihn aus den Augen verlor. Das Fallgitter war aufgestemmt worden. Und damit brach endgültig das Chaos aus. Bei dem verzweifelten Versuch, unter den Spitzen hindurchzukriechen, rissen sich die Vordersten Hände und Knie auf. Denn sie wussten: Wenn sie blieben, wurden sie verhaftet oder zerquetscht.

Master Shelton war verschwunden. Um nicht von der Masse zu Boden gestoßen zu werden, musste ich mich mit Händen und Füßen wehren. Ich stolperte über die regungslosen Körper derer, die gestürzt und zertrampelt worden waren. Irgendwie geriet ich mit unzähligen anderen auf einen Landungssteg. Dort blickte ich mich erneut um.

Nirgends ein Zeichen von ihm.

Hinter meinem Rücken hörte ich die berittenen Wächter und die mit Spießen bewaffneten Fußsoldaten näher rücken. In nackter Todesangst sprangen viele der Männer um mich herum in den Fluss. Lieber riskierten sie, von der Strömung ins Meer gesogen zu werden, als diesem Gemetzel zum Opfer zu fallen.

»Nein!«, brüllte ich, selbst nach vorn drängend. »Nein!«

Immer noch brüllend, stürzte ich mich in die von der Flut angeschwollene Themse.

Stunden später wankte ich tropfnass und nach Abwässern stinkend über das Feld vor dem Stadttor. Über mir stand der Himmel, von Freudenfeuern erhellt, in Flammen. Hinter mir dröhnte ganz London von Glockenläuten.

Ich hatte es geschafft, die tiefen Stellen des Stromes zu vermeiden, wo mächtige Strudel die Oberfläche aufwühlten, und mich zu einigen halb verfallenen Steinstufen am Südufer zu retten. Erspart geblieben war mir der Anblick all derer, die von den wirbelnden Wassermassen in die Tiefe gezogen worden waren, und auch der von Männern, die sich zurück auf den Steg gerettet hatten, nur um den dort wartenden Soldaten in die Hände zu fallen. Wie viele Menschen heute Nacht noch sterben würden, weil sie dem Herzog – wenn auch in einer vielleicht völlig unbedeutenden Funktion – gedient hatten, darüber konnte ich nur spekulieren. Ebenso stand Cecils Schicksal in den Sternen. Ich bezweifelte freilich nicht, dass er entkommen war. Der Meistersekretär war auch ein Meister des Überlebens.

An Master Shelton wollte ich lieber nicht denken. Ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt schwimmen konnte.

Noch schmerzhafter war der Gedanke an Jane Grey, die ab sofort eine Staatsgefangene war, auf Gedeih und Verderb der Gnade der Königin ausgeliefert. Doch statt mich damit zu befassen, konzentrierte ich mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, den triefenden Umhang hinter mir herschleifend, bis ich die Straße erreichte. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie weit es von hier nach Hatfield sein mochte. Vielleicht würde mich am Morgen ein Karren mitnehmen, wenn ich wieder trocken war und nicht mehr wie ein Vagabund aussah.

Als ich die Stadt weit genug hinter mir gelassen hatte und mich einigermaßen sicher fühlte, ließ ich mich zu Boden sinken und untersuchte meinen Umhang. Vorsichtig barg ich das in seinem tropfnassen Tuch verwahrte Goldblatt und steckte es unter das Wams. Gerade wrang ich den Umhang aus, damit ich ihn zu einem Bündel schnüren und auf dem Rücken tragen konnte, als ich das Klappern von Hufen vernahm. Es ging in einen Galopp über – und kam schnurstracks auf mich zu.