Wieder versuchte Saul, mich dazu zu bewegen, eine Waffe zu tragen, doch ich lehnte ab, denn ich glaubte, Gott werde uns retten, bevor die Römer die Stadtmauern durchbrachen, und ich konnte den göttlichen Ratschluß nicht durch derlei Tun in Zweifel ziehen.

Saul entgegnete:»Während du auf den Knien liegst und dafür betest, daß dein Messias kommen möge, verlieren beherzte Juden ihr Leben durch römische Speere. Hast du nicht gesehen? Hast du nicht gehört? Jüdisches Blut klebt an den Stadtmauern, und die Schreie der Sterbenden dringen bis zu den entferntesten Hügeln vor. Wo ist nun dein Messias?«

Und ich erwiderte:»Gott allein wird die Stunde bestimmen. «Es waren dies die letzten Worte, die wir miteinander sprachen, und sie bereiteten mir großen Schmerz. Saul war ein guter Rabbi und der beste Jude; aber wo war seih Vertrauen auf Gott? Als Titus’ Rampe von Tag zu Tag höher wurde und Jerusalem den ersten nagenden Hunger verspürte, zogen es viele Bürger vor, auf eigene Faust durch die Stadttore zu fliehen. Indem sie zum Feind überliefen, retteten sie ihr Leben, doch sollte dieses von kurzer Dauer sein.

Denn ein paar listige Männer trachteten danach, ihre Reichtümer mit auf die Flucht zu nehmen, und schluckten daher so viele Goldmünzen, wie sie konnten, bevor sie die Stadtmauern erklommen und auf der anderen Seite mitten unter den Römern landeten. Zunächst behandelte man die Abtrünnigen vernünftig und gewährte ihnen Schutz. Doch nachdem ein römischer Söldner einen alten Juden dabei ertappt hatte, wie er aus seinem eigenen Kot Goldmünzen herausklaubte, verbreitete sich in allen Lagern rasch die

Nachricht, daß die Flüchtlinge sich ihr Geld einverleibt hätten. Und so geschah es, daß in dieser schrecklichen Nacht und in allen darauffolgenden Nächten alle Juden, die in römischen Lagern Zuflucht gesucht hatten, bei lebendigem Leib aufgeschlitzt und ihre Eingeweide nach Gold durchsucht wurden.

Ich kann noch immer das Wehklagen derer hören, die in jener Nacht dahingeschlachtet wurden, denn ihr Geschrei wurde vom Wind in alle Teile der Stadt getragen. Diese armen Teufel, die in ihrer Unwissenheit und Treulosigkeit zum Feind übergelaufen waren, um ihre Haut zu retten, hatten auf abscheulichste Weise den Tod gefunden. Vielleicht an die viertausend Menschen wurden in dieser Nacht getötet, Männer, Frauen, ja sogar Säuglinge, aufgeschlitzt von römischen Soldaten wegen der unersättlichen Gier des Menschen nach Gold. Und es heißt, daß der ganze Schatz, den man bei den Ermordeten fand, sich auf nicht mehr als sechs Goldstücke belief.

Ich versuchte, mich nicht der Hoffnungslosigkeit anheimzugeben, wie es so viele um mich herum taten. Die Hungersnot war dabei, den Sieg über die Stadt davonzutragen, als das Getreide knapp wurde und die Wasservorräte zur Neige gingen. Wir von den Armen waren glücklicher dran als andere, denn diejenigen unter uns, die viel hatten, teilten mit denen, die nichts besaßen. Wir beteten täglich, daß der Messias zurückkehren möge, wie er es vierzig Jahre zuvor versprochen hatte. Die Zeit, von der er gesprochen hatte, war da. Diese waren die letzten Tage.

Die Kämpfe wurden schlimmer, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadtmauern. Diejenigen Juden, die noch immer über die Stadtmauer flohen, um ihr Glück mit den Römern zu versuchen, wurden von Titus auf den Bergspitzen gekreuzigt und dort als abschreckendes Beispiel tagelang hängengelassen.

Er wollte erreichen, daß wir ihm die Stadt übergaben, aber wir taten es nicht. Diejenigen von uns, die wir zu Zehntausenden in der Stadt geblieben waren, begegneten dem Hunger, sobald wir den Fuß vor die Haustür setzten. Und wenn wir uns auf die Straße wagten, wurden wir von halbverhungerten Wahnsinnigen belagert, die uns für ein verborgenes Stück Brot in Stücke zu reißen drohten. Wie schnell die Vernunft im Angesicht des Hungertodes weicht! Titus umzingelte die Stadt und brauchte nur wenig zu kämpfen, denn er ließ den Hunger für sich Krieg führen. Als die Wochen vergingen und die Hoffnung abnahm, beteten wir von den Armen unablässig, daß der Messias kommen und uns erlösen möge. Es könnte an diesem Nachmittag, an diesem Abend oder am nächsten Morgen sein, und dann würden wir die Trompeten des Herrn hören und wissen, daß wir gerettet wären. In dieser ganzen Zeit wich Rebekka mir nie von der Seite. Miriams Haus war nun zum Bersten voll, bevölkert mit Familien, deren Häuser nicht länger sicher waren. Wir versuchten, jedem zu essen zu geben, doch es war eine karge Kost. Und noch immer sangen wir die Loblieder auf den Neuen Bund und hofften, Josua unter uns zu finden. Sara und Jonathan hatten alle Hände voll zu tun, um die Kranken und Verwundeten zu pflegen und den Glauben derjenigen zu stärken, die schwächer wurden. Sara half beim Zubereiten und Verabreichen der geheimnisvollen Arzneien, die die Mönche vom Salzmeer ersonnen hatten und die Jakobus und die Zwölf bei ihren Heilungen verwandten. Und ich liebte sie in dieser Zeit mehr als je zuvor, wenngleich sie blaß und dünn geworden war und doppelt so alt aussah, als sie in Wirklichkeit war. Sara zog den göttlichen Ratschluß nicht ein einziges Mal in Zweifel, wie es so viele andere jetzt taten, und ich betrachtete sie als eine Heilige unter den Frauen. Nun ist der Augenblick da, in dem ich über die traurigste Zeit sprechen muß.

Die Nachricht erreichte unser Haus, daß Saul verwundet worden sei und in dem Haus eines Freundes in der Unterstadt liege. Der Junge, der die Botschaft überbrachte, war nicht älter als Jonathan, ein mageres Bürschchen, in einer zerfetzten Tunika, in dessen Augen sich die Greuel widerspiegelten, die er gesehen hatte. Er fiel über die kleine Scheibe Brot her, die wir ihm gaben, und erstickte fast, als er gierig aus dem Becher mit Wasser trank. Als ich dies sah, machte ich mir große Sorgen, denn ich wußte, daß Saul ebenfalls ohne Nahrung sein mußte.

So wickelte ich meine eigene kleine Ration ein und steckte sie in meinen Gürtel, zusammen mit einem Beutel mit weißem Pulver, das Jakobus oft in kleinen Mengen zur Linderung von Schmerzen verabreichte. Ich erzählte Rebekka von meinem Gang, nicht jedoch Sara, da ich nicht wollte, daß sie die schlechten Nachrichten von ihrem Mann erführe. Dann machte ich mich auf den Weg durch die abendlichen Straßen.

Wäre es möglich gewesen, mich auf den Anblick des Schreckens vorzubereiten, dem ich in den Straßen begegnete? Wie blind ich doch gewesen war! In welcher Unkenntnis über das wahre Ausmaß der Not, die in unserer Stadt herrschte! Während ich monatelang in Miriams Haus auf dem Fußboden gekniet und mit meinen Glaubensbrüdern zu Gott gebetet hatte, war Jerusalem ein Friedhof geworden.

Allenthalben lagen aufgedunsene Leichen umher, von denen ein solcher Gestank ausging, daß ich mich übergeben hätte, wäre mein Magen nicht so leer gewesen. Jämmerliche Gestalten, die einst angesehene Bürger gewesen waren, stöberten nun in der Gosse nach einem Stückchen Kuhdung, das sie verzehren konnten, und durchsuchten die Kleider der Toten nach etwas Brauchbarem. Überall um mich her sah ich hohlwangige Gesichter, ausgemergelt und eingefallen, als wären sie aus Gräbern auferstanden. Bis aufs Skelett abgemagerte Frauen hielten tote Säuglinge an ihre verwelkten Brüste. Wilde Hunde zerrissen die Schwachen und Wehrlosen, die am Wegrand lagen.

Es war für mich wie ein Keulenschlag, und ich erkannte, daß Saul die Wahrheit gesagt hatte und daß ich in diesen vergangenen Monaten meinen Mitmenschen den Rücken gekehrt hatte. Ich blieb unterwegs nicht ungeschoren. Mehrmals, als ich durch dunkle Gassen ging, wurde ich von wilden Kreaturen angefallen, die mit ihren Krallen an meiner Kleidung zerrten und nach Verwesung stanken. Doch ich war stärker als sie, in der Tat stärker als zehn von ihnen, denn ich hatte in den letzten Tagen gegessen, wenn es auch nur wenig gewesen war, während sie gar nichts zu sich genommen hatten. Und so war ich mit einiger Anstrengung imstande, meine Angreifer abzuwehren und mich irgendwie zu Sauls Versteck durchzuschlagen.

Er lag auf dem Steinboden mit zwei Freunden an seiner Seite. Das einzige Licht in der totenähnlichen Dunkelheit kam vom Mond, der silbrig durch das kleine, hoch oben gelegene Fenster schien. Ich weiß nicht, an was für einem Ort ich mich eigentlich befand, doch es stank widerlich nach Urin und Fäulnis. Die beiden Männer, die bei ihm saßen, glichen jenen hohläugigen Gespenstern, die in den Straßen umhergingen und nur nach einem Platz suchten, an dem sie sich zum Sterben niederlegen konnten. Sie waren wie mein lieber Saul mit Lumpen bekleidet, unglaublich schmutzig und mit Blut bespritzt. Als sie mich sahen, erhoben sie sich wortlos und ließen uns allein.

Ich stand eine Weile unentschlossen über meinem Freund, bevor ich neben ihm auf die Knie fiel, so betäubt war ich von seiner Erscheinung. Wo war der stattliche, fröhliche Mann, den ich so lange Zeit meinen Bruder genannt hatte? Wer war dieser arme, abgezehrte Teufel, der kaum atmete und in seinem eigenen Dreck lag?

Ich konnte die Tränen nicht unterdrücken. Mein treuer Freund rang sich ein Lächeln ab und meinte:»Du hättest nicht herkommen sollen, Bruder, denn draußen ist es gefährlich. In deinem Haus wärst du zumindest noch für eine Weile sicher gewesen.«

«Ich hatte unrecht!«rief ich voll Schmerz.»Wie blind ich doch war! Am ersten Tag, als du zu mir kamst, hätte ich das Schwert nehmen sollen, denn dann wäre dein Tod nicht umsonst! Jerusalem wird den Kampf verlieren, Saul, und wir werden für immer verloren sein!«

Aber er schüttelte den Kopf und erwiderte:»Nein, mein Bruder, ich bin es, der unrecht hatte, und du hattest recht. Es wird einen Messias geben, der eines Tages nach Israel kommt, und Zion wird wieder regieren. Aber es war noch nicht an der Zeit. Als ich das Schwert ergriff, David, begrub ich meinen Glauben an Gott. Du hingegen hast durch deine Gebete den Bund mit ihm eingehalten. In meiner Eitelkeit glaubte ich, Jerusalem eigenhändig retten zu können. Ich wollte den göttlichen Ratschluß mit Gewalt herbeiführen und trachtete danach, Gottes Handeln zu erzwingen. Doch jetzt erkenne ich, daß wir die Stunde, die der Herr für sein Volk bestimmt, nicht vorhersehen können. Wir können nur warten und beten und ihm unsere Würde bezeugen.