«Ich brauche einen Kaffee«, verkündete Judy mit fester Stimme und stürmte in Richtung Küche davon.

Dort in der Dunkelheit, ihr Gesicht gegen die Wand gepreßt, sah sie den Entscheidungen ins Auge, die sie treffen mußte. Wenn sie bei Ben bleiben und seinen Wahnsinn ertragen wollte, führte kein Weg daran vorbei, daß sie selbst ein Teil dieses Wahnsinns würde.

Und als sie in die Dunkelheit starrte, kamen die Phantasiebilder zurück: das kurze Aufblitzen von Palmen, staubigen Straßen und engen Gassen, der Lärm von Straßenhändlern auf dem Marktplatz, der Duft von Jerusalem im Sommer, der Geschmack von gewässertem Wein.

Es wäre so leicht.

Judy riß sich selbst aus den Träumereien und schaltete das Licht ein. Daß ihr eigener gesunder Menschenverstand und ihr Bezug zur Wirklichkeit rasch dahinschwanden, darüber bestand kein Zweifel mehr. Alles, was ihr blieb, war die Entscheidung, es wieder geschehen zu lassen oder jetzt wegzurennen und nie mehr zurückzukommen. Judy hatte keine Zeit mehr, das eine gegen das andere abzuwägen, denn plötzlich wurde sie durch Geräusche, die aus einem anderen Zimmer kamen, aufgeschreckt. Sie trat aus der Küche und sah sich um.

Im Schlafzimmer brannte Licht. Sie näherte sich vorsichtig und blieb im Türrahmen stehen. Ben war dabei, die Schubladen der Kommode zu durchwühlen.»Was suchst du?«fragte sie.»Den Reisepaß.«

«Den Paß?«

«Ben hatte einen Reisepaß, aber ich erinnere mich nicht, wo ich ihn hingelegt habe.«

Judy stellte sich neben ihn und musterte ihn stirnrunzelnd.»Wozu willst du deinen Reisepaß?«

Ohne aufzusehen, brummte er:»Um nach Israel zu kommen. «Sie riß die Augen auf.»Israel!«

«Er muß irgendwo hier drinnen sein. «Und er begann, Haufen von Kleidungsstücken herauszuheben und auf den Fußboden zu werfen.

«Ben. «Sie legte eine Hand auf seinen Arm.»Ben, warum willst du nach Israel gehen?«

Er gab keine Antwort. Seine Bewegungen wurden hastiger, hektischer.»Ich weiß, daß er da drinnen ist!«

«Ben, antworte mir!«schrie sie.

Endlich richtete er sich auf, und der vor Wut rasende Blick, den Judy in seinen Augen wahrnahm, jagte ihr panischen Schrecken ein.»Um nach Israel zu gehen!«brüllte er zurück.»Es wird dort einen Aufstand geben, und ich muß bei ihnen sein. Ich kann nicht hier in diesem fremden Land bleiben, während meine Brüder vom Feind erschlagen werden.«

«Erschlagen! O Ben, hör mich an!«

Er fing wieder an, die Schublade zu durchwühlen. Judy packte ihn am Arm und rief:»Aber du kannst nicht nach Israel gehen! Dort wartet nichts auf dich. Dieser Krieg fand doch schon vor zweitausend Jahren statt. Er ist vorbei, Ben. Er ist vorbei!«

Zweimal versuchte er, ihre Hand abzuschütteln, doch das dritte Mal ergriff er sie und stieß sie von sich.»Steh mir nicht im Weg, Frau!«

«Aber Ben.«

Judy versuchte abermals, ihn festzuhalten, diesmal mit beiden Händen. Doch als sie das tat, drehte sich Ben jäh zu ihr um, packte sie an den Schultern und schleuderte sie heftig von sich. Judy taumelte zurück, blieb mit dem Fuß am Bett hängen und stürzte zu Boden. Sie lag ausgestreckt zu seinen Füßen und blickte erstaunt zu ihm auf. Im nächsten Moment erstarrte Ben. Er blieb wie angewurzelt stehen und blickte ungläubig zu Boden. Dann sank er wortlos auf die Knie nieder und streckte in einer Gebärde der Hilflosigkeit die Hände aus.

«Was habe ich getan?«stammelte er.

Judy rührte sich nicht, sondern blieb mit zitterndem Körper und leicht geöffneten Lippen liegen.

Ben starrte sie noch immer an. Sein Gesicht drückte Bestürzung und Verwirrung aus.»Die Person, die ich über alles liebte, die Frau, die mir teurer war als mein eigenes Leben und die ich einmal sogar über die Thora stellte. «Seine Stimme klang belegt und dumpf.

Ben schaute auf seine Hände hinunter und versuchte zu verstehen, was geschehen war. Und während er so vor dem stummen Mädchen kniete, überkam ihn ein heftiges sexuelles Verlangen. Und er wußte, daß es tausendmal stärker war als das, was er damals, vor vielen Jahren, im Olivenhain verspürt hatte. Er wurde überwältigt von dieser schrecklichen, brennenden Begierde, diesem plötzlichen heftigen Verlangen, noch einmal in Sara einzudringen, noch einmal die Gesetze der Thora und den Bund der Freundschaft mit Saul zu brechen. Als er so vor ihr auf den Knien lag und sie wie einen Sperling zittern sah, hatte er auf einmal den Wunsch, diesen wunderbaren Nachmittag von einst noch einmal zu erleben und an nichts anderes zu denken als daran, diese Frau zu besitzen.

Aber ich darf es nicht, hielt sein Verstand dagegen, denn sie ist keine freie Frau, und ich bin kein freier Mann. Es ist ein unmittelbarer Verstoß gegen Gottes Gesetz und eine Herabwürdigung meiner Freundschaft zu Saul. Und dennoch.

Er starrte weiter auf seine Hände und zwang sich, nach unten zu sehen, denn er wußte, wenn er einmal zu Sara aufblickte, würde er sich in der Tiefe ihrer Augen verlieren.

«Ben«, flüsterte eine zarte Stimme. Sie war schwach und zerbrechlich wie der Körper, von dem sie kam, zart wie die Frau, die er so abscheulich von sich gestoßen hatte.

Er antwortete nicht. Schauer der Leidenschaft marterten seinen Körper, und der gepeinigte Mann kämpfte mit seiner ganz Willenskraft gegen die heftige Begierde an, die in ihm brannte. Dann ein anderes sanftes Flüstern:»David. «Es war eine einschmeichelnde Stimme. Eine süße, unwiderstehliche, schüchterne Einladung.

Schließlich gab er auf und sah sie an. Und der Anblick des kleinen, blassen Gesichtes und der langen, schwarzen Haare ließ sein Herz fast zerspringen. Nachdem er einmal schwer geschluckt hatte, brachte er mit schwacher Stimme heraus:»Wir dürfen es nicht, Sara, Liebste. Dieses eine Mal hätte nie sein dürfen.«

Eine unendliche Trauer lag in ihren Augen, ein Leid, das ihn bestürzte. Es war, als ob sie ihn wollte und dennoch in ihrem Innern einen persönlichen Kampf austrug, von dem er nichts wußte. Wie hätte er es auch wissen sollen? Daß sie in ihrer großen Liebe zu Ben und im Bewußtsein, daß sie Ben niemals würde haben können, gewillt war, sich David hinzugeben. Aus dem Verlangen heraus, Ben zu haben, würde sie sich einem Fremden schenken und vorgeben, eine andere Frau zu sein.

«Es ist schon lange her«, flüsterte sie und streckte die Hand nach ihm aus.

Er faßte ihre Hand und drückte die Fingerspitzen an seine Lippen. Ein gewaltiges Grollen wurde in seinen Ohren laut. Jegliches Empfindungsvermögen schien ihn zu verlassen. Sanft hob Ben Judy vom Boden auf und trug sie auf seinen starken Armen zum Bett, wo er sie behutsam niederlegte.

«Sara, weine bitte nicht«, murmelte er in völliger Verwirrung.»Ich lasse dich, wenn das dein Wunsch ist.«

Doch sie streckte ihre kleine Hand nach der seinen aus, und er spürte, wie fiebrig sie war. Wieder hielten ihn seine treue Ergebenheit zu Saul und die strengen Vorschriften der Thora vom nächsten Schritt zurück, so daß er eine Sekunde lang unentschlossen über ihr stand. Judy blickte flehentlich und ebenso verwirrt wie er zu ihm auf. Sie spürte, wie ihr eigenes sexuelles Verlangen alle anderen Empfindungen zurückdrängte und den letzten Zweifel besiegte. Schließlich ergab sie sich und murmelte:»Wenn nicht Ben, dann eben David. «Und zu dem Mann, der über ihr stand, sagte sie:»Nun, mein Liebster, so wollen wir die Gunst der Stunde nutzen. «Im Nu war er über ihr, und seine Leidenschaft entfesselte sich. Er küßte ihren Mund mit einer Heftigkeit, über die sie beide erschraken. Judy schmeckte, wie sich das Salz ihrer Tränen mit dem Geschmack seiner Zunge mischte. Sie spürte, wie sein Mund den ihren verschlang, und versuchte, die Schluchzer in ihrer Kehle zu unterdrücken.

Kapitel Siebzehn

In den nächsten zwei Tagen weilten sie weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit, sondern lebten in einem zwielichtigen Reich, das sie sich für ihre eigenen Bedürfnisse geschaffen hatten. Ben wartete geduldig auf die dreizehnte Rolle. In diesen langen Stunden saß er ruhig da und starrte auf die Fotos von den Papyrusstücken, die sich allmählich bei ihm angehäuft hatten, und bei jeder Aufnahme verweilte er, als ob er dabei eine süße Erinnerung durchlebte. Judy war weniger selbstsicher, obgleich sie sich nun einer Kraft ergeben hatte, die zu groß war, um dagegen anzukämpfen. Sie liebte Ben so sehr, daß es ihr mittlerweile gleichgültig war, was mit ihnen geschehen würde, und sie sich keine Sorgen mehr um die Zukunft machte. Denn sie war überzeugt davon, daß ebenso wie alles bisher Geschehene so hatte kommen müssen, auch alle anderen Tage mit einer Unvermeidlichkeit verlaufen würden, die nicht geändert werden konnte.

Sie liebten sich danach noch dreimal, und jede Begegnung war so explosiv wie die erste. Wenn sie bis spät in die Nacht eng umschlungen dalagen und in beglückender Weise die warme Nacktheit des anderen spürten, erzählte Ben leise in einem antiken hebräischen Dialekt von den Wundern Jerusalems und dem Optimismus seiner Zeit.»Ich hatte unrecht«, sagte er in der alten Sprache, die Judy größtenteils verstehen konnte,»ich hatte unrecht, nach Israel gehen zu wollen. Denn zu den Waffen zu greifen und den Feind zu bekämpfen ist ein Akt der Treulosigkeit gegen Gott. Hat er nicht versprochen, den Messias, den Gesalbten, zu schicken, um Israel aus der Unterdrückung zu befreien? In meiner

Schwäche wurde ich ungeduldig und wollte das Urteil Gottes in Frage stellen. Du hattest recht, meine Geliebte, als du versuchtest, mich zurückzuhalten. «Judy kuschelte sich an seinen Körper und ließ ihren Kopf auf seiner Brust ruhen. Es gab keine schönere Stunde als diese, wenn sie in Bens Armen lag und sich die Phantasiebilder ausmalte, die seine sanfte Stimme beschwor: Er sprach von Spaziergängen am Ufer des Sees Genezareth; von den roten Anemonen, die im Frühling blühten; von der Freude über eine reiche Olivenernte; von dem Frieden und der Ruhe auf einem Hügel in Judäa. Sie wollte, daß dieser Augenblick ewig währte. Aber er tat es nicht.