Du, mein Bruder David, stehst in deiner Würde über allen anderen Menschen, während ich unwürdig bin. Ich und andere, die wie ich ein mangelndes Vertrauen in Gott bewiesen haben, tragen Schuld daran, daß der Tag der Erlösung zurückgedrängt worden ist. Hätte auch ich zusammen mit dir gebetet, wie ich es hätte tun sollen.«

Saul erlitt einen Husten- und Spuckanfall, daß mir angst und bange wurde.

Und während er trotz seiner unerträglichen Schmerzen noch immer lächelte, flüsterte er:»Ich habe dich über alles geliebt, mein Bruderbund benutze meinen letzten Atemzug, um eine Bitte an dich zu richten.«

Ich konnte nicht antworten, sondern schluchzte nur. Er fuhr fort:»Kümmere dich an meiner Statt um Sara und Jonathan. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind; ich habe sie aus den Augen verloren. Mache sie ausfindig und rette sie irgendwie vor dem Schicksal, das jenseits der Stadtmauern auf sie wartet. Ich könnte es nicht ertragen, wenn die Römer Hand an sie legten. Versprich mir, David, daß du sie beschützen wirst!«

Und ich versprach Saul, daß ich sie behüten würde, sollte es mich mein eigenes Leben kosten.

«Und jetzt«, flüsterte er,»jetzt gibt es noch etwas, das ich dir sagen muß. Ich sage es dir, weil ich im Sterben liege und weil du leben wirst, und ich sage es dir auch, weil ich dich liebe. Ich weiß schon seit vielen Jahren, daß du Sara liebst, David. Ich weiß es, weil du mein Bruder bist und wir keine Geheimnisse voreinander haben. Ich habe es stets in deinen Augen gesehen, und ich habe es auch in den ihren erkannt. Ihr habt euch von jenem Tage an geliebt, da ich euch zum erstenmal miteinander bekanntmachte, und ihr liebt euch bis zu dieser Stunde. Ich nehme es dir nicht übel und habe es auch nie getan, denn Sara ist eine gute Frau. Ich kann verstehen, was dir so an ihr gefällt. Und du bist ein guter Mann. Ich weiß, warum sie dich liebt.

Indes vermute ich, lieber Bruder, daß du über Jonathan nicht Bescheid weißt. Sara ist sich auch nicht bewußt, daß ich davon weiß. Sie glaubt vielmehr, daß sie allein das Geheimnis all die Jahre hindurch gehütet habe. Doch ein Mann weiß diese Dinge, so wie du es jetzt erfahren mußt. Jonathan ist dein Sohn.«

Ben brach an seinem Schreibtisch zusammen. Er schluchzte laut und durchweichte das Foto mit seinen Tränen, während Judy leise weinte und ihre Hand sanft auf seiner Schulter ruhen ließ. Es verging eine ganze Weile, bevor sie imstande waren, zum nächsten Teilstück überzugehen. Und als sie soweit waren, schrieb Ben die Übersetzung nicht länger nieder, sondern las sie gleich mit lauter Stimme vor.

«Wie kann das sein?«rief ich.

Saul antwortete:»Wenn du nur deine Augen öffnest, wirst du dich selbst in Jonathan erkennen. Er wurde zwei Monate zu früh geboren, doch du bemerktest es nicht, mein lieber, begriffsstutziger Freund. Da wußte ich, daß du Sara erkannt hattest und daß sie keine Jungfrau gewesen war. Zuerst war ich verletzt, aber ich liebte sie so sehr, und ich liebte dich so sehr, daß ich den Schmerz überwand und Jonathan als mein leibliches Kind betrachtete. Doch wenn ich tot bin, wird Sara ihm erzählen, daß du sein Vater bist, und Jonathan wird nach dir suchen. Finde heraus, wo sie sind, David, bevor es zu spät ist!«

Saul starb in meinen Armen, noch immer mit demselben Lächeln auf den Lippen, und von diesem Augenblick an beneidete ich ihn. Aber der Tod kommt niemals zu dem, der ihn sucht, und obgleich ich unbewaffnet und ohne nach links und rechts zu sehen durch die Straßen lief und immer noch ein Stück Brot in meinem Gürtel trug, wurde ich nicht behelligt.

Als ich zu Miriams Haus — oder zu dem, was davon übrig war — zurückkehrte, stand ich davor, wie ein Mensch, der den Untergang miterlebt. Ich empfand überhaupt nichts mehr und zeigte beim Anblick des völlig zertrümmerten Hauses keinerlei Gefühlsregung. Oh, welch ein Gemetzel! Wie können Unschuldige zu Opfern eines solchen Überfalls werden? Wer wäre imstande, wehrlose Frauen und Kinder abzuschlachten, sie derart zu verstümmeln und sie so widerlich zu schänden?

Wäre ich in diesem Moment bei vollem Verstand gewesen, hätte mich eine rasende Wut gepackt. Doch jetzt geschah nichts dergleichen. Die letzten paar Stunden hatten mich so abgestumpft, daß ich zu nichts anderem mehr fähig war, als dazustehen und die Grausamkeit und die Zerstörung um mich her zu betrachten. Diese freundlichen, sanften Juden, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie auf ihren Heiland gewartet hatten, waren wegen ihrer paar Stücke Brot niedergemetzelt worden. Und nicht der römische Feind hatte dies verbrochen, sondern jüdische Glaubensbrüder.

Meine liebe Rebekka lag unter dem Leichnam von Matthäus, der wohl versucht haben mußte, sie kämpfend zu verteidigen, und ihr rotes Haar mischte sich mit dem roten Blut, das ihr aus einer klaffenden Wunde am Kopf strömte.

Und warst du nicht derjenige, lieber Matthäus, der oft sagte, daß jene, die mit dem Schwert leben, auch durch das Schwert sterben werden?

Wie unrecht du damit hattest! Wie unrecht ihr alle hattet! Ich stolperte blind durch den Gesteinsschutt und über die Leichen meiner lieben Brüder und Schwestern, aber Sara und Jonathan fand ich nicht unter ihnen. Wenn sie geflohen waren, wohin mochten sie wohl gegangen sein? Denn nirgends in der Stadt war man mehr sicher. So kniete ich nieder und sprach ein einfaches Gebet. Es gab nichts, was ich hier noch hätte tun können. Die Schlacht war verloren. Und während ich zum letztenmal auf die Leichname meiner Frau und meiner Freunde blickte, fühlte ich, wie eine Flut von Haß und Wut in mir aufwallte, die einen Geschmack, so bitter wie Gift, in meinem Mund hinterließ. So stand ich auf diesem Massengrab, schüttelte meine Faust himmelwärts, und mit einer

Entschlossenheit, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte, verfluchte ich den Gott Abrahams für alle Zeiten.

Die nächsten Stunden, die Stunden vor Tagesanbruch, verbrachte ich damit, nach Sara und Jonathan zu suchen. Doch ich konnte sie nirgends finden.

Wer weiß was ihnen zugestoßen war? Welches ruchlose Schicksal sie ereilt hatte? Ich konnte nur beten, daß sie jetzt tot waren und dies alles nicht länger miterleben mußten.

Und so ergab es sich, daß ich in der letzten Stunde vor Tagesanbruch, als Titus’ Truppen ihre letzten Anstrengungen unternahmen, über die Stadtmauern hereinzubrechen, an das Haus eines Mannes kam, den ich kannte.

Ich hatte ihn oft bei Miriam gesehen. Er war ein guter Jude und ein Pharisäer, der an die Rückkehr des Messias glaubte. Drinnen in seinem Haus hatten sich viele Menschen versammelt, die mit vor Angst geweiteten Augen in der Dunkelheit kauerten. Als er mich erkannte, lud er mich ein, hineinzukommen. Er sagte:»Wir haben für uns alle noch eine Scheibe Brot und ein wenig Opferwein übrig, den wir versteckt hielten. Wir werden jetzt das Abendmahl abhalten und beten. Willst du dich zu uns gesellen?«

Ich nahm die Einladung an, und weil ich einst Schüler im Tempel gewesen war, bot ich ihnen an, sie beim Gebet anzuleiten. Ich brach die kleine Scheibe Brot in winzige Stückchen und verteilte sie an die Versammelten mit den Worten:»Dies Brot ist der Leib des Messias, der eines Tages das Abendmahl mit uns teilen wird.«

Dann schenkte ich den letzten Wein in ein paar Becher, und als ich dies tat, schaute ich in die Gesichter der Anwesenden. Es waren jämmerliche, verhungernde Gestalten, die aus verwirrten Augen vor sich hin starrten. Und als ich sie so anblickte, sah ich wieder die Leichname von Rebekka und Jakobus und Philippus und all der anderen vor mir, die einst so hoffnungsvoll gewesen waren wie diese. Dann erinnerte ich mich an den Beutel mit dem weißen Pulver, den ich eigentlich Saul zugedacht hatte und den ich noch immer in meinem Gürtel trug. Und in einem unbeobachteten Augenblick schüttete ich das ganze Pulver in die Becher. Dann reichte ich den Wein herum, so daß jeder von ihnen trinken konnte und sprach:»Dieser Wein ist das Blut des Erlösers, der eines Tages das Abendmahl mit uns teilen wird.«

Und nachdem der Besitzer des Hauses das Gift getrunken hatte, fragte er mich:»Willst du nicht mit uns vom Blute des Messias trinken?«

Und ich erwiderte:»Ich werde aus dem Becher meines Meisters trinken.«

Er richtete einen verwirrten Blick auf mich, und einen Augenblick später verschied er friedlich.

Es befanden sich ihrer neunundachtzig in diesem Haus, von einem steinalten Greis bis zu einem sechsjährigen Kind. Und alle waren sie tot, bevor ich an die kühle Morgenluft heraustrat. Wie lange ich durch die Straßen irrte, über Leichen stolperte und im Dreck ausrutschte, vermag ich nicht zu sagen. Auch weiß ich nicht, wie ich es schaffte, unversehrt durchzukommen, außer daß dies vielleicht die Strafe war, die der Herr für mich ausersehen hatte. Und so lautete der Urteilsspruch für mein Verbrechen, daß ich bis ans Ende meiner Tage mit der Last des Schuldgefühls für die Missetat leben sollte, die ich begangen hatte. In der reinen, schneidenden Morgenluft gingen mir plötzlich die Augen auf. Und als ich erkannte, was mein wahres Verbrechen in dieser Nacht gewesen war, wußte ich, daß ich ein zur Vergessenheit verdammter Mann war.

Denn mein Verbrechen hatte nicht darin bestanden, jene neunundachtzig Menschen in dem Haus zu töten, sondern darin, sie der letzten Möglichkeit beraubt zu haben, den

Messias zu sehen. Ich fiel auf den Pflastersteinen auf die Knie, zerriß meine Kleider und heulte laut.

Weil ich, David Ben Jona, eine Nacht lang aufgehört hatte, an das Kommen des Messias zu glauben, hatte ich diesen gütigen Menschen ihre letzten paar Stunden der Hoffnung genommen! Während sie noch lebten, hätte er kommen können. Nur weil ich den Glauben verloren hatte, bedeutete dies nicht, daß der Messias niemals käme.

Und dies, mein Sohn, war deines Vaters scheußliches Verbrechen, die niederträchtige Tat, die ihn aus der Gemeinschaft der Menschheit ausgestoßen hat.