Sie wandte sich vom Fenster weg und ging zu dem Tische, auf dem noch das Frühstück stand. Sie ergriff die winzige Karaffe, mit Sherry gefüllt, und goß sich ein halbes Glas ein. Sie liebte diesen Wein sonst nicht, sie fühlte sich nur so erbarmungswert schwach in diesem Augenblick. Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie das Glas hinsetzen, noch ehe sie ausgetrunken. »Herein!« sagte sie so tonlos, daß der Außenstehende es unmöglich hören konnte, aber Frau von Katzenstein öffnete trotzdem die Tür und kam freundlichernst über die Schwelle. Sie hielt ein Körbchen, mit weißem Seidenpapier verdeckt, in der Hand.

»Meine liebe Gerold«, sagte sie herzlich, »Ihre Hoheit beauftragt mich soeben, Ihnen dieses zu überreichen.« Sie stellte den Korb auf einen Seitentisch und trat Klaudine näher. »Die Herzogin erwartet Sie in einer halben Stunde««, fügte sie hinzu und drückte dem Mädchen die Hand. »Verzeihen Sie nur, wenn ich nicht verweile, ich kann die Kranke nicht verlassen.«

»Wie geht es ihr?« brachte Klaudine über die zitternden Lippen.

»Sie klagt heute nicht, sie sagt, es sei ihr leichter und freier auf der Brust«, erwiderte die alte Dame.

»Oh, und Sie bemühen sich selbst«, sprach Klaudine zerstreut, aber Frau von Katzenstein ging schon wieder zur Tür hinaus. Klaudine dachte kaum an das Körbchen. In einer halben Stunde sollte sie erfahren, ob er ihren Ring genommen hatte. Man würde ihr doch die Wahrheit sagen?

Sie begann unruhig umherzuwandern, obgleich die Füße sie kaum trugen. Dann trat sie ans Fenster. Die Wache hatte »Heraus!« gerufen, der Herzog fuhr eben im Jagdschlitten über den Schloßhof. Zwei andere Schlitten folgten, er suchte wohl dem Kummer und der Sorge zu entfliehen? Auch sie fühlte den Drang in den Park hinunterzulaufen und in der Schneeluft die heiße Stirn zu kühlen, sich müde zu gehen, Schlaf und Vergessen zu finden. Mechanisch war sie vor dem Körbchen stehen geblieben, das die Herzogin ihr schickte. Ein Reisegeschenk vermutlich – die hohe Frau versäumte ja nie, Freude zu bereiten.

Sie hob das Papier ein wenig auf. In einigen Minuten mußte sie hinunter, sich zu bedanken, man wollte doch wissen, wofür? In dem mit hellblauer Seide gefütterten Körbchen lag auf kostbarem, echtem Spitzengewebe ein Zweig blühender Myrte, und dieser Myrtenzweig war durch ihren Verlobungsring gezogen.

Das bleiche, heftig atmende Mädchen befand sich plötzlich auf der Treppe. Sie durcheilte die Korridore, und erst im Vorzimmer der Herzogin fühlte sie, daß die Füße sie nicht mehr tragen wollten. Dort stand der Medizinalrat und flüsterte mit Frau von Katzenstein. Die alte Dame deutete mit der Hand auf eines der Nebenzimmer und legte den Finger auf den Mund. »Hoheit schlafen eben ein wenig«, sprach sie leise.

Klaudine ging wie im Traume nach dem sogenannten Arbeitszimmer der Herzogin. Es war ein kleines, zu halber Höhe mit kostbarer Holztäfelung versehenes Gemach. Goldbedruckte Ledertapeten bekleideten die Wände, Bücherschränke und ein Schreibtisch aus dunklem Eichenholz, schwere Vorhänge und Teppiche, und die Büsten von Goethe, Shakespeare und Byron bildeten die Einrichtung. Es war fast dunkel hier an diesem grauen Tage. Durch eine der Türen, deren Vorhang halb zurückgenommen war, sah man in den Wintergarten, und dort stand in dem vollen Tageslichte, das durch die Glaswände hereinströmte, Lothar. Er hatte den Rücken hierher gewendet und betrachtete scheinbar mit Interesse einen Strauch blühender gelber Rosen.

Unwillkürlich trat Klaudine in den Schatten der hohen Bücherschränke. Sie sah ihn nicht mehr, sie wollte und konnte ihm jetzt nicht begegnen. Mit furchtbarem Herzklopfen lehnte sie in dem schützenden Winkel. Sie wollte auch den Ring nicht, der ihr als eine Gabe des Mitleids erschien, wußte sie doch, daß er ihn zurückgab, weil er sein Wort nicht brechen wollte, und sie durfte, konnte ihn nicht behalten. Plötzlich blickte sie sich um, ob sie nicht entfliehen könne, denn sie vernahm die harte Stimme der Prinzeß Thekla.

»Nun, Baron, fragte diese, »also endlich sieht man Sie? Wissen Sie, daß ich Ihnen ganz böse bin? Sie sind seit gestern hier und haben sich im roten Schlößchen noch nicht blicken lassen!«

»Es ist unrecht, Durchlaucht, allerdings! Ich fand aber hier so vielerlei zu tun, und außerdem macht man doch nicht gerade Besuche an seinem Hochzeitstage.«

»Hochzeitstage?« schrillte lachend die alte Dame. »Ich finde, Sie wählen die Zeit zu Ihren Scherzen recht eigentümlich. Die Herzogin ist todkrank! Wirklich, Lothar, Sie sind jetzt zuweilen sehr sonderbar. Wissen Sie, daß Ihre Hoheit noch heute sterben kann?«

»Ach, Durchlaucht nehmen an, ich erlaubte mir einen unpassenden Scherz? Nichts würde mir ferner liegen. Ich selbst bin durch die Nachricht überrascht worden. Indes, die Herzogin wünscht, daß unser Bund noch heute geschlossen wird – wenn meine Braut einwilligt, natürlich.«

»Meinen Glückwunsch, Baron! Weshalb sollte Ihre Braut nicht einwilligen?« klang es spöttisch, »sie willigte doch so rasch in die Verlobung, und naturgemäß pflegt dieser doch die Hochzeit zu folgen. Sonderbare Laune übrigens von Ihrer Hoheit!«

»Sonderbar? Ist es so sonderbar, wenn die Herzogin, noch ehe sie stirbt, das Glück zweier Menschen, sozusagen, in den sicheren Hafen flüchten möchte, aus allen Ränken und Schlichen hinaus, denen es preisgegeben ist, solange sie nicht verbunden sind? Ich gestehe, ich finde es so eigentümlich nicht, ich nehme dankbar diese ›sonderbare Laune‹ an.«

»Sie waren doch sonst nicht so schutzbedürftig, Gerold. Seit wann fühlen Sie sich so schwach? Sie wußten doch meine Einwilligung zu ertrotzen, als ich Ihnen die Hand meiner Tochter verweigerte? Seit wann überhaupt fürchten Sie das Recht des Stärkeren – sagen wir das Recht des Mächtigeren, oder –«

»Ich fürchte keinen ehrlichen Feind,« erwiderte er langsam. »Durchlaucht wissen ohne Zweifel aus der Fabel schon, daß der Löwe immer großmütig ist, ihn fürchte ich nicht als Gegner, ich fürchte die Schlangen, die da unbemerkt heranschleichen und Unschuldige mit ihrem Gifte bespritzen. Ich kann die, welche meine Gattin werden soll, nicht vor boshafter Verleumdung schützen, bevor sie nicht wirklich mein Weib geworden ist, denn ich kämpfe hier mit ungleichen Waffen. Mir ist trotz meines jahrelangen Hoflebens die Intrige ein unbekannter Boden geblieben, und, Durchlaucht, ich fürchte, ich würde es nie lernen, auch nicht durch das hervorragendste Beispiel.«

Aber die Prinzessin schien nicht verstanden zu haben. »Oder«, wiederholte sie, unbeirrt in ihrer Rede fortfahrend, »ängstigen Sie sich, daß Sie der Treue Ihrer Braut erst dann sicher werden, wenn Sie dieselbe, sozusagen, hinter dem Riegel des Gelübdes wissen?«

»Durchlaucht haben zum Teil recht«, erwiderte er höflich. »Ich ängstige mich indes nicht um die Treue und Festigkeit meiner Braut, ich ängstige mich, weil ich noch nicht weiß, ob meine Braut mir verziehen hat, daß ich mich mit der Dreistigkeit der Angst an ihrem Wege aufstellte, um ihr das ›Ja!‹ gleichsam abzuzwingen.«

Die alte Prinzeß lachte kurz auf. »Man könnte auf den entsetzlichen Gedanken kommen, lieber Baron, daß, falls Ihr Fräulein Braut nicht verzeiht, Sie sich das Leben nehmen oder sonst etwas schreckliches tun werden.«

»Das Leben nehmen? Nein! Denn ich habe ein Kind, dem mein Leben gehört, aber ein unglücklicher, einsamer Mann würde ich sein, Durchlaucht, denn ich liebe meine Braut!«

Klaudine war hervorgetreten, sie tat ein paar Schritte nach jener Tür zu, dann blieb sie stehen. Sie sah die Prinzessin dort in dem schwarzen seidenen Pelzmantel, sie sah, wie die Fächerpalme über ihrem Samthute leise schwankte und wie das gelbliche, magere Antlitz von der Röte unliebsamer Überraschung sich färbte. Sie mußte sich an dem geschnitzten Löwenkopf des Bücherschrankes festhalten, denn die Stimme der alten Durchlaucht sagte in unbeschreiblich verächtlichem Tone: »Daß Sie diese Dame lieben, Baron, ist mir noch keine Gewähr für die Charaktereigenschaften derjenigen, welche die Stiefmutter meiner Enkelin werden soll.«

»Durchlaucht«, erwiderte er schneidend, »wollen vermutlich noch einmal von mir hören, daß ich für mich ganz allein das Recht beanspruche, Leonies Erziehung zu leiten. Auf welche Weise das geschieht? Nun, ich übernehme mit Freuden die Verantwortung! Diejenige, welche Mutter des Kindes sein wird, ist in meinen Augen das edelste, das beste, das selbstloseste Wesen der Erde! Niemals sind auch nur ihre Gedanken von dem Pfade abgewichen, den Sitten und Ehre dem Weibe vorzeichnen, nie, das weiß ich. Meine Braut mag in ihrer Liebe für die kranke Freundin vergessen haben, daß tausend hämische, neidische Zungen bemüht waren, an ihrem Tun und Lassen zu deuteln und zu drehen. In meinem Herzen steht sie darum nur höher. Vor den Augen der Welt die Ehrbare zu spielen, das ist sehr leicht, Durchlaucht, aber allein, gestützt auf den Mut eines guten Gewissens, der Welt zu trotzen, die uns vernichten möchte, fest zu bleiben in dem, was man für Recht erkannt, und doch zu wissen, man wird falsch beurteilt, fest zu bleiben, indem man unter allen Umständen die Pflicht erfüllt, die man aus ehrlicher Zuneigung übernahm, und wäre es auch nur die von vielen angezweifelte Pflicht der Freundschaft, dazu gehört Seelenreinheit und ein starker Charakter, Eigenschaften, die ich bis jetzt vergeblich in–«

»Lothar!« schrie Klaudine auf. Vor ihren Augen schwankten das Kuppelgewölbe von Glas, es war, als ob der Boden, auf dem sie stand, zu wogen beginne. Dann fühlte sie sich umfaßt, und »Klaudine!« scholl es in ihr Ohr.

»Sei nicht so hart,« flüsterte sie, »sei nicht so hart! Er ist so schwer, der Gedanke, andere grollend zu wissen, wenn das Glück so allmächtig auf uns hereinbricht!«

Sie waren allein. Sie sah ihn jetzt an mit ihren blauen, in Tränen schimmernden Augen. »Kein Wort«, sagte sie und legte ihm die kleine Hand auf den Mund, »kein Wort, Lothar – jetzt ist es nicht Zeit, glücklich zu sein. Ich weiß genug und – dort drüben sitzt der Tod.«