»Wie«, dachte er, durch ihr sonderbares Benehmen geängstigt, »wenn die Herzogin dennoch recht hätte, wenn sie den Herzog wirklich liebte? Wenn ich selbst ihr gleichgültig wäre, wirklich gleichgültig?«

Sie war indes den steilen Schloßberg hinaufgefahren und stieg an dem Tor des Flügels ab, den die Herzogin-Mutter bewohnte. Die aufgehende Sonne tauchte eben die verschneiten spitzen Giebeldächer, die Türmchen und Mauern in Purpurglut, und in demselben Augenblick entrollte sich das herzogliche Banner auf dem Hauptturm der Stadt, die unten noch in grauer Dämmerung lag, ein Zeichen, daß die Herrin heimkehre, ja – heimkehre, um zu sterben.

Klaudine fand im zweiten Stockwerk ein paar gemütliche Zimmer zu ihrer Verfügung und ward noch im Laufe des Vormittags zur alten Hoheit beschieden. Die freundliche Dame hatte verweinte Augen, sie saß an dem bekannten Erkerfenster und blickte über die Dächer ihrer guten Stadt hinweg, weit in das verschneite Land hinein. Oh, wie oft hatte Klaudine hier vor ihr gesessen, in dem lauschigen Zimmer mit den steifen kostbaren Möbeln und den vielen Bildern an den Wänden, und hatte sich mit ihrer Gebieterin der herrlichen Aussicht gefreut. In der gegenwärtigen Stunde hatten sie beide kein Auge für diese Schönheiten. Sie sahen dort hinaus, wo der Schienenstrang aus dem Walde hervortrat, auf dem der Zug daherkommen sollte, der die arme Kranke brachte.

Die Herzogin hatte in Cannes einen neuen Blutsturz gehabt. Sie wollte nur noch eines – ihre Kinder wiedersehen und verschiedenes ordnen vor ihrem Sterben. Die kleinen Prinzen waren daheim geblieben, sie sollten der Mutter nicht zuviel Unruhe machen, der Arzt hatte es so gewünscht, obgleich sie dagegen gekämpft: »Herr Doktor, ich sterbe vor Sehnsucht!«

Die alte Hoheit schüttelte nur immer leise das greise Haupt, während sie dies alles erzählte: »Es ist hart, es ist besonders hart für Adalbert, denn sie hatten sich ganz und vollständig gefunden, sie waren auf dem besten Wege, ein glückliches Paar zu werden. Er schreibt so liebevoll von ihr, und nun?« Sie seufzte.

Die Herrschaften hatten sich jeden Empfang verbeten, aber die alte Hoheit wollte doch mit dem Erbprinzen hinunterfahren zum Bahnhof und befahl Klaudine, sie zu begleiten. Gegen zwei Uhr fuhren sie den Schloßberg hinab, ein trüber Novemberhimmel hing über der Stadt und sandte große, dicke Schneeflocken hernieder. Aber trotz des schlechten Wetters standen Hunderte von Menschen in der Straße, die zum Bahnhof führt.

Der Landauer der Herzogin hielt dicht vor der Rampe des fürstlichen Wartezimmers. Die Schutzleute bemühten sich, der Menge zu wehren, die sich stumm herzudrängte. Alle standen denn auch ruhig in weitem Bogen um die Kutschen. Auf dem Bahnsteig befanden sich einige Herren, der Schnellzug, der die herzogliche Familie bringen sollte, war bereits gemeldet. Endlich brausten die Wagen unter die Halle, es entwickelte sich plötzlich ein buntes Treiben auf dem Bahnsteig. Der Herzog war zuerst ausgestiegen, er küßte seiner Mutter die Hand, dann hob er selbst die leidende Gemahlin aus dem Wagen. Aller Augen waren auf ihr bleiches, schmales Gesicht gerichtet, dessen große Augen den Erbprinzen suchten. Sie umarmte die alte Herzogin und küßte ihr Kind mit einem traurigen Lächeln. »Da bin ich wieder«, flüsterte sie matt. Kaum vermochte sie die paar Schritte zum Wartezimmer zu gehen. Der Erbprinz und der Herzog stützten sie. Freundlich müde erwiderte sie die Grüße. Prinzeß Helene und ihre Hofdame, Frau von Katzenstein und die Kammerfrau, die Herren vom Gefolge, alle hasteten durcheinander.

Als sie Klaudine sah, zuckte es in ihrem Gesicht. Sie winkte mit der Hand und deutete auf den Wagen.

Das schöne Mädchen eilte hinüber. »Hoheit«, stammelte sie ergriffen und beugte sich über die Hand der Herzogin.

»Komm, Dina!« flüsterte diese, »fahr mit mir, und du, mein Herz«, wandte sie sich an den Erbprinzen. »Adalbert wird mit Mama fahren.« Während sie durch die schweigende Menge fuhr, sagte sie: »Grüße, mein Kind, grüße sehr freundlich! Die Leute wissen alle, wie krank ich bin.«

Sie selbst bog sich mit Anstrengung ein wenig vor und wehte matt mit dem weißen Tuche.

»Das letztemal! Das letztemal!« murmelte sie. Dann faßte sie des Mädchens Hand. »Wie gut, daß du da bist!« Oben am Schloßtor entließ sie die Freundin: »Wenn ich geruht habe, so lasse ich dich rufen, Dina.«

Klaudine suchte ihr stilles Zimmer auf und schaute in den winterlichen Schloßhof hinab. Kutschen fuhren ab und zu, die Wache zog auf und die großen Gepäckwagen kamen langsam den Berg herauf. Dort unten läuteten die Glocken der Marienkirche, hier und da blitzten schon Lichter auf, trotz der frühen Nachmittagsstunden, und es schneite, schneite immerzu.

Stunden vergingen. Man brachte Klaudine den Tee in ihr Zimmer. Sie dachte an Lothar und wie er ihr seine Einsamkeit und Sehnsucht auf dem verlassenen Schlosse in Sachsen geschildert. O ja, es ist schwer, allein zu sein mit den marternden Gedanken, der schrecklichen Ungewißheit. Ungewißheit? Sie war fast zornig auf sich, ach Gott, sie wußte es ja nur zu gewiß!

Prinzessin Helene hatte gut ausgesehen, ihr Gesicht hatte einen etwas anderen Ausdruck gezeigt. Das Leidenschaftliche, Unruhige war von ihr gewichen, sie hatte wohl Hoffnung, begründete Hoffnung!

Was wollte nur die Herzogin von ihr selbst? Ach, es war ja klar! Sie würde, nachdem sie Lothars Antwort erhalten hatte, zu ihr sagen: »Klaudine, sei großmütig, gib du ihm sein Wort zurück! Er fühlt sich gebunden.«

Freilich, das wußte sie, er würde die Verlobung nicht lösen, nie! Er war auf ihre Großmut angewiesen. Ein heißer, leidenschaftlicher Trotz erfüllte sie. »Und wenn ich jetzt nicht will? Und wenn ich lieber elend an seiner Seite werden will, als elend ohne ihn? Wer kann mich hindern?« Sie schüttelte den Kopf. »O nimmermehr! Nein!«

Die altmodische Uhr auf dem Spiegeltisch schlug neun. Es fror sie plötzlich in dem dunklen Zimmer, im Kamin glühte nur noch ein schwacher roter Schein. Sie begann umherzuwandern. Bis zehn Uhr wollte sie noch warten, dann zur Ruhe gehen. Vielleicht konnte man ja schlafen. Aber gegen zehn Uhr kam doch die Kammerfrau und beschied sie hinunter.

Sie ging die Korridore entlang und über verschiedene Treppen und Treppchen, bis sie in die wohldurchwärmte und hellerleuchtete Halle vor den Gemächern Ihrer Hoheit gelangte, empfand sie auch heute wieder den eigentümlichen Zauber dieser prächtigen Räume. Überall dieses satte Rot auf Wänden, Teppichen und Vorhängen, überall das gedämpfte Licht rötlich verschleierter Ampeln und Lampen, überall Gruppen üppiger fremdländischer Pflanzen und überall prächtige, farbenglühende Gemälde in breiten, funkelnden Goldrahmen.

Die Herzogin lag in ihrem Schlafzimmer, in dem niedrigen mit schweren roten Vorhängen umgebenen Bette, deren Falten oben an der Decke ein vergoldeter Adler in seinen Klauen hielt. Auch hier eine rötliche Beleuchtung, die das bleiche Gesicht mit trügerischen Rosen überhauchte.

»Es ist spät, Dina«, sagte die Kranke mit verschleierter Stimme, »aber ich kann nicht schlafen, fast nie mehr, und ich kann nicht allein sein, ich fürchte mich. Ich habe mir darum einen Vorhang des Bettes so legen lassen, daß ich die Tür nicht sehe. Mich erfaßt mitunter eine unerklärliche Angst, es möchte etwas schreckliches über die Schwelle kommen, unser Hausgespenst, die weiße Frau, die mir melden will, was ich ja schon weiß: daß ich sterben muß. Ich lag sonst so gern im Dunkeln. Erzähle, Klaudine, erzähle mir alles, ich meine, oft wird es nicht mehr sein, daß ich dir zuhören kann. Wie erging es dir, Dina? Sprich!«

Klaudine meinte, sie müsse hinauseilen aus diesem reichen Zimmer mit seiner vergoldeten Decke und dem betäubenden Maiblumenduft, der vom Wintergarten herüberzog.

»Mir geht es gut, Elisabeth, ich bin nur traurig, daß du leidest«, sagte sie und nahm zur Seite des Bettes Platz.

»Klaudine«, begann die Kranke, »ich habe noch so vielerlei zu schreiben und zu ordnen, und wenn erst mein Vater hier ist und meine Schwestern – sie werden bald eintreffen – und wenn ich die Angst wieder bekomme, die erstickende Angst, dann ist es zu spät. Hilf mir ein wenig dabei.«

»Elisabeth, du regst dich unnötig auf.«

»Nein, o nein, ich bitte dich, Dina!« Und sie wandte ihr abgemagertes Gesicht um und blickte das Mädchen mit den großen glänzenden Augen an, als wollte sie in das Herz der Freundin schauen. »Du bist eine so seltsame Braut, Klaudine«, begann sie nach einer Weile flüsternd, »und seltsam ist auch Euer Brautstand. Er dort, du da. Klaudine, gestehe, es war ein frommes Opfer von dir, als du an jenem gräßlichen Tage deine Hand verschenktest! Sprich, Klaudine, du liebst ihn nicht?«

Mit wahrhaft verzehrender Angst hingen ihre Blicke an dem nassen Antlitz des Mädchens.

»Elisabeth«, sagte dieses nach einer Pause und legte die Hände auf ihre Brust. »Ich liebe Lothar, ich habe ihn geliebt, als ich noch nicht wußte, was Liebe ist, als halbes Kind habe ich ihn schon geliebt!«

Die Herzogin schwieg, aber sie atmete rasch.

»Glaubst du mir nicht, Elisabeth?« fragte Klaudine leise.

»Ja, ich glaube dir, Dina. Aber liebt er dich? Sage, liebt er dich auch?« flüsterte die Herzogin.

Sie senkte die Wimper. »Ich weiß es nicht«, stammelte sie.

»Und wenn du wüßtest, er liebt dich nicht, würdest du trotzdem sein Weib werden wollen?«

»Nein, Elisabeth!«

»Und du würdest dich nie entschließen können, einem anderen deine Hand zu schenken, der dich unsäglich liebt?«

Das schöne Mädchen saß wie ein Steinbild, ohne zu antworten.

»Klaudine, weißt du, weshalb ich gekommen bin?« fragte die Herzogin leidenschaftlich erregt. »Um mit der letzten Lebenskraft demjenigen, der mir am teuersten ist auf dieser Welt, ein heißersehntes Glück zu retten. Als ich fortging nach Cannes«, sprach sie weiter, »da kämpfte noch meine törichte Schwachheit, mein verwundetes eitles Herz mit der besseren Einsicht. Klaudine, der Herzog liebt dich – mich hat er nie geliebt. Er liebt dich mit aller Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, deren sein edles Herz fähig ist. Ich habe während der Jahre unserer Ehe in jedem Zuge seines Gesichts lesen gelernt – er liebt dich, Dina! Und er wird dich nie vergessen. Sitze nicht so stumm da, um Gottes willen, antworte!«