Ganz beschäftigt in der Auflösung der Knoten, bemerkte er nicht, wie ein Mädchen den schmalen Weg über den Hügel zu ihm hinunterstieg und hinter ihm anhielt, ihn eine Zeitlang beobachtend. Als sie sah, mit welch ungelenken Fingern er sich um die Knoten mühte, lächelte sie und trat dann einen Schritt vor, genau vor ihn hin.

Kummer schreckte auf. Aber noch mehr ergriff ihn ein Schrecken, als er erkannte, wer die Schöne war.

«Jungfer Trudel«, stotterte er.»Verzeihen Sie meine Überraschung — Sie hätte ich an diesem Ort am wenigsten erwartet.«

«Ich habe ein paar Beeren für den Mittagstisch gesammelt«, sagte das Mädchen und setzte sich ungeniert neben den Jüngling ins Gras.»Bekommen Sie den Knoten nicht auf? Darf ich Ihnen helfen?«

«Oh — ich danke bestens. Es geht schon. «Otto Heinrich, den der Liebreiz des ovalen Gesichtes und des jungen Körpers wie eine heiße Welle überspülte, fühlte sich täppisch und ungelenk. Im Innern schalt er sich selbst einen Tölpel, vermied es aber trotzdem, in die großen, fragenden Mädchenaugen zu sehen, die so nahe unter ihm glänzten.

«Das Päckchen ist von meinem Vater«, gestand er, nachdem er den Knoten gelöst hatte.»Ich sollte es dem Herr Knackfuß geben, wenn.«

Er schwieg wieder, erschreckt, daß er sich so weit versprochen hatte.

«Wenn…?«fragte Trudel langsam.»Was ist mit dem Wenn, Herr Kummer?«

«Sie kennen meinen Namen?«

«Mein Vater erwähnte ihn heute Herrn Bendler gegenüber.«

«Und Sie haben ihn behalten?«

Das Mädchen nickte, und es war, als verdunkelten sich ihre Augen.

«Wie leicht behält man solch einen Namen — der immer um mich ist.«

Der Apotheker wagte nicht, darauf etwas zu erwidern. Er packte geräuschvoll das Papier aus, öffnete den Karton und entnahm ihm ein Miniaturbild seines Vaters, an das ein Zettel geheftet war.

«Sollte mein Sohn Otto Heinrich bei Ihnen, verehrtester Herr Knackfuß, eine Heimat finden, so bitte ich Sie gnädigst, das beiliegende Bildlein in seiner Kammer anzubringen. Mit dem Ausdruck allervorzüglichster Hochachtung Ihr Benjamin Kummer, Münzmarschall.«

Der Jüngling schloß die Augen. Bebend preßte er das Bild an sein Herz.»Vater.«, stammelte er.»Guter, lieber Vater. ich habe keine Heimat mehr, ich bin einsam, so grenzenlos einsam unter all diesen Menschen. Keiner versteht mich. Und ich liebe doch so die Freiheit. Eine Heimat? Was ist eine Heimat? Die Kindheit, die Erinnerung, die Sehnsucht, die Hoffnung, die Liebe; Dinge, ungreifbar, unfaßbar, hoch über dem, was sich Mensch nennt. O Vater. Vater.«

Er preßte das Bild an die Lippen und öffnete die Augen.

Als er sah, daß das Mädchen noch immer neben ihm im Grase saß und erschreckt zu ihm aufschaute, spülte eine tiefe Scham über sein Gesicht, und er erhob sich mit einem jähen Ruck.

«Entschuldigen Sie, Jungfer Trudel, daß ich mich vergaß. Ich lie-be meinen Vater, auch wenn er mich nicht versteht und schuld ist, daß ich hier in diese Einsamkeit verbannt wurde.«

«Sie wollten das Bild meinem Vater geben, wenn Sie hier eine Heimat finden. - Ist es so bitter bei uns, Herr Kummer?«

«Ich bin einsam«, antwortete der Jüngling.

«Auch, wenn Sie mit mir sprechen?«

Otto Heinrich lächelte.»Jungfer Trudel — es gibt Menschen, die nicht wissen, warum sie leben. Oder haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welch einen Sinn Ihr Leben hat?«

«Nein«, antwortete das Mädchen zögernd. Aber dann raffte sie sich auf und meinte:»Ich glaube, ich lebe, um anderen Menschen Freude zu machen.«

«Sie werden stets der Sklave dieser Menschen sein.«

«Wenn ich ihnen damit helfen kann.«

«Das ist doch kein Leben!«rief der Jüngling erregt.»Leben ist doch eine Aufgabe, nicht ein Aufgeben des Ichs, sondern das Aufquellen der im Menschen verborgenen Möglichkeiten! Leben ist doch kein Martyrium, sondern eine Mission, den Menschen von Leben zu Leben zu veredeln! Aber veredelt sich der Mensch? Er verroht, er verliert die letzte Seele, er wird ein Apparat, der atmet, arbeitet, ißt, trinkt, schläft und alle körperlichen Funktionen wie ein Uhrwerk ausführt! Wo ist denn noch ein Mensch, der sagen kann: Seht, ich bin nicht vollendet, denn vollendet ist nur Gott — aber ich bin ein Mensch, der eins erkennt: die Menschlichkeit!«

Otto Heinrich Kummer ging erregt vor dem Baumstumpf hin und her und verkrampfte die Hände auf dem Rücken.

«Die neuen Geister der neuen Ordnung verbannte man! Schiller mußte flüchten, Kleist schoß sich eine Kugel durch den Kopf, Grillparzer verhungert in Wien, Grabbe ist dem Wahnsinn nahe, Hölderlin trieben die Menschen in den Irrsinn«- und plötzlich schrie er —,»und das alles, weil sie die Wahrheit sagten, ungeschminkt, grell, ein Fanal der Freiheit des Individuums! Wer kann an den Menschen glauben, wenn dieser Mensch die Rufer der Menschlichkeit in die Erde tritt?! Wo ist denn hier noch Sinn, eine aufbauende Logik in diesem faulenden Stückchen Leben, wenn die Kraft der neuen Sittlichkeit im Wahnsinn stirbt?! O glauben Sie mir, es ist manchmal unendlich schwer, nicht selbst zur Pistole zu greifen, um Schluß zu machen mit diesem Mummenschanz bürgerlicher Moral, um Schluß zu machen mit dem schmerzenden, kleinen, armen, eigenen Leben, das keinen Sinn hat, weil die Welt überhaupt nur leben kann, wenn sie im Sinnlosen sich gefällt!«

Erschöpft hielt er inne und legte den Kopf weit in den Nacken. Mit starren Augen blickte er hinauf in die trübe Sonne, vor der blauweiße Wolken in langen Streifen schwammen.

Da legte ihm das Mädchen leicht die Hand auf den Arm.

«Sie sind ein armer Mensch«, sagte sie mit einer traurigen Stimme, in der die unterdrückten Tränen weinten.»Sie müßten einen Menschen finden, der Ihren Kopf in den Schoß nimmt, mit Ihnen draußen sitzt in der Natur und Ihnen zeigt, wie herrlich das Leben im Kleinen und Großen ist, wie sehr ein Käfer um sein kostbares Leben bangt und die Blume mit allen Poren das Licht der Sonne trinkt.«

«Sonne!«Otto Heinrich Kummer lächelte bitter.»Und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns. Sagte es nicht Schiller? Die Sonne Homers! Vielleicht ist sie die letzte Sonne, die mich zu halten vermag, die Sonne der Genien. die Sonne Griechenlands. die Sonne der Musen. «Er steckte das Bild in die Tasche seines Rockes und wandte sich zu dem Mädchen um.»Gute Jungfer Trudel — Sie haben Kummer in den Augen. «Er lachte gequält und wischte sich mit der Hand über die Augen, als ob er einen Schatten verscheuchen wollte.»Es ist besser, wenn wir nicht weiter darüber sprechen«, sagte er.»Ihr Leben ist so licht und rein, daß es eine Sünde wäre, es mit meinem Dunkel zu vergiften. Lassen Sie uns nicht darüber sprechen, lassen Sie uns diesen Vormittag vergessen und… Fremde sein. Es ist besser für Sie und — mich. Und außerdem — Ihr Vater könnte uns sehr grollen.«

Er beugte sich über die Hand des Mädchens, küßte sie leicht und ließ das tief errötende Mädchen stehen. Mit langsamen Schritten bummelte er in den Birkenwald hinein, erklomm einen kleinen Hang und setzte sich dort auf eine ausgegrabene Wurzel.

Lange blickte er hinab auf das Städtchen, das still und fast ausgestorben in einer Senke zwischen zwei Bergen lag, und es war ihm, als sei diese Erde so weit von ihm entrückt und wesenlos, und sein Blick schweife von einem anderen Stern bewundernd über das Leben unbekannter Welten.

Er legte sich nach hinten in das hoch wuchernde Gras, starrte in die ziehenden Wolken und träumte von der Weite des Lebens.

Er vergaß Frankenberg und Knackfuß, Willi Bendler und Jungfer Trudel und träumte sich zurück in das väterliche Haus, in die weiten Zimmer des Münzmarschalls von Dresden, in denen er vor wenigen Jahren noch spielend der Mutter zu Füßen saß und die Nek-kereien der Geschwister mit Tränen oder Streichen heimgalt.

Er sah die Prager Straße vor sich, den Schloßturm und das Ko-sel-Palais, er sah sich auf dem weiten Opernplatz spielen und flache Steine über die Elbe schnellen, daß sie mehrmals aus dem Wasser hüpften, ehe sie versanken.

Er sah seine Gespielen wieder, den kleinen Grafen von Don-nersmarck, den Baron von Puttkammer und den Baron de Lou-mierais, er sah die goldene Hofkutsche wieder durch das breite Tor ziehen, die Wache unter das Gewehr treten und hörte ganz deutlich das Fanfarensignal, wenn die Königskutsche in den Schloßhof einfuhr.

Die hohe Kuppel der Frauenkirche glomm aus dem Dunst des Septembertages hervor, die mächtige Kuppel, in die ein französisches Geschütz eine Kugel jagte und die im Steine haften blieb.

Otto Heinrich Kummer schloß die Augen.

Die Mundwinkel zuckten leicht, die Lider zitterten, und die Flügel der schmalen Nase bebten.

Und mit einer jähen Bewegung drehte sich der Jüngling auf den Bauch, vergrub den Kopf zwischen seine Arme und lag so, stumm, ohne sich zu rühren, wie ein Toter, bis aus dem Tal die Kirchenuhr die mittägliche Stunde schlug und einen fremden hellen Ton in diese herbstlich trübe Stille trug.

Bisweilen schnitt die Erinnerung wie mit Messern in sein Bewußtsein, nie jedoch vermochte er sie abzuschütteln, sie war der Schatten, der ihn überall begleitete — die Erinnerung an die Nacht vor zwei Jahren.

Mit Fehlin zusammen, dem dicken, blonden Fehlin, seinem liebsten Studienfreund, war er Elbaufwärts zum alten Fährhaus geschritten, wo an diesem Abend die Versammlung des Bundes stattfinden sollte. Drei Tage vor dem Geburtstag seiner Mutter war es. Vierzehnter Oktober.

Und welche Nacht!

Die Türme der Stadt wie aus Silber gegossen. Ein Licht, wie aus den unendlichen Weiten des Alls herangeweht, ein transparentes Leuchten, das selbst die Schatten der Bäume auf den Weg zeichnete, so klar und stark, daß die Lichter der Kutschen und Laternen, die sich langsam über die Brücke bewegten, gelb und trübe wirkten.