Der Riese Bendler sann einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf, erhob sich, setzte sich auf den Bettrand und stützte den langen Kopf in die Hände.

«Das klingt schön«, sagte er,»aber ich komme nicht mit! Ich bin die neue Zeit, die Revolution, die Umwertung aller Werte — ich habe von Robespierre und Danton gelernt, von Napoleon und Stein — und der Rousseau, lieber Kollege, dieser Rousseau ist ein toller Bursche, ein Genie der Freiheit wie der brodelnde Beaumarchais! Mögt ihr in Dresden nach dem Marsch des alten Dessauer die Hacken wirbeln und Schritte üben — euer Preußentum ist morsch! Was einmal die Welt beherrschen wird, ist die große Freiheit aller gegen alle — der unteilbare Raum der Welt für eine große Bruderschaft!«

Otto Heinrich Kummer blickte hinaus in die Nacht.

Die Rede des Kollegen wühlte ihn auf.

Seine Hände klammerten sich an dem Fensterrahmen fest, während er den Kopf an die kühle Mauer lehnte.

«Ich habe auch einmal so gesprochen, damals, vor einem Jahr in Dresden. Mein Vater verstand mich nicht — er strafte mich durch Arrest! Dann zitierte ich Schiller. Freiheit, rief ich, Freiheit. Den Don Carlos trug ich vor — Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire! — und die >Räuber< nahm ich mit in die Kammer und las sie im Kerzenschein unter der Decke. - Was nutzte es? Ich kam nach Frankenberg…«

«Weil du Schiller lasest?«stammelte der Riese.

«Nein.«, antwortete leise der Sinnende.»Weil ich selbst ein Dich-ter bin.«

Daraufhin war es eine lange Zeit still im Raum.

Um den Dachfirst sang der Nachtwind.

Irgendwo in der Ferne bellte verschlafen ein Hund.

Lauter als Wind und Bellen aber war der Atem der beiden Männer, deren Herzen sich in dieser Nacht fanden.

«Ich habe so einfach du gesagt«, murmelte Bendler nach einer Weile.»Laß uns dabei bleiben — ich glaube, wir sind beide irgendwie am Leben gescheitert. Wir müssen jetzt hart sein, um uns durchzubeißen — wir haben viele Feinde — die ganze zivilisierte Welt, das ganze Bürgertum mit seinen satten Moralitäten, die Aristokratie und den Staat. Wir stehen einsam, junger Freund, aber es ist unendlich schön, zu wissen, daß unsere Zeit noch kommt und wir die Tränen jener Sturmflut sind, die einst das Morsche wegschwemmt!«

Er stand auf und trat zu Otto Heinrich Kummer, legte ihm den Arm um die schmale Schulter und starrte mit ihm hinaus in die Nacht und die ziehenden Wolken.

«So habe ich manche Nacht gestanden«, sagte er leise.»Und manchmal dachte ich: jetzt machst du Schluß! Aber dann war es manchmal nur ein Kinderlachen, das mich zurückrief in die Wirklichkeit, manchmal nur ein Vogel, der hier vor mir auf der Dachrinne sang, oder auch nur das Rauschen der Bäume, wenn sie im warmen Sommerwind von der Ewigkeit erzählen. «Er lächelte schwach und wendete sich ab.»Jetzt hast du mich elegisch gemacht. Ich bin nämlich ganz anders, rauh, ungeschliffen, ein Tölpel, wie der alte Knackfuß wohl zigmal am Tage brüllt. Ich muß es sein, Kollege — denn mit Weichheit kommt man zu nichts! Man muß hart sein, um bestehen zu können! Laß uns schlafen! Wir haben noch soviel Zeit, die Zukunft und die Sehnsucht anzuhimmeln. Gute Nacht, Kamerad!«

Er drückte Otto Heinrich Kummer die Hand und ging zum Bett zurück. Dort warf er sich mit einem Schwung auf die Decken, verschränkte die Arme unter dem Kopf, schloß aber nicht die Augen, sondern starrte an die weißgestrichene Decke.

Er wartete, bis der neue Freund sich entkleidet und niedergelegt hatte, drehte sich dann auf den Bauch und blickte zu dem anderen Bett hinüber.

«Noch eins, bevor du einschläfst. Der alte Knackfuß hat eine Tochter! So etwas von Tochter hast du noch nicht gesehen. Ein Mädel, bei dessen Anblick dir der Atem stehenbleibt. Eine Schönheit, wie du sie in der Dresdener Oper nicht sehen kannst. Das glatte Gegenteil von dem Alten. Wo er häßlich ist, blüht sie, wo er brüllt, streichelt sie. Sie ist die Sonne der Sonnen-Apotheke. Die Mutter ist schon lange gestorben — nun führt sie hier den Haushalt. Diese Tochter ist der Rubikon. Knackfuß wechselt jedes Vierteljahr die Gesellen, weil sie diesem Mädel schöne Augen machen. Er bekommt regelmäßig einen Tobsuchtsanfall, wenn er sieht, daß ein >Flegel< — so nennt er alle — seine Tochter anhimmelt! Nimm dich also in acht. Schau sie nicht so oft an. Am besten ist, du übersiehst sie. Sonst hast du hier die Hölle en person! — Das wollte ich noch sagen. Und nun schlaf selig!«Er drehte sich geräuschvoll herum, zog die Decke bis zum Hals empor und schloß die Augen.»Trudel heißt sie…«, murmelte er noch, dann ging sein Atem wieder gleichmäßig und schwer wie der eines Schlafenden. Lange noch lag Otto Heinrich Kummer wach in seinem Bett und starrte an die Decke.

Als am Morgen die Sonne durch die Dachluke in die Kammer schien — eine trübe Septembersonne, ohne Kraft und Glanz, überzogen von nebligen Streifen, die von den Wäldern der Berge emporschwebten und wie feine Fäden durch die Wolken sich webten — stand Willi Bendler, wie er eben seinen Vornamen verraten hatte, schon im Flur an der Waschschüssel und tauchte den langen Schädel in das kalte Wasser.

Otto Heinrich dehnte sich in seinem Bett, breitete die Arme weit aus und blickte sich zum erstenmal mit Bewußtsein in seiner neuen Heimat um.

Die Kärglichkeit seiner Umgebung kam ihm erst bei dem grausamen Tageslicht voll zum Erkennen, und das Gefühl trotz des neuen Freundes nun erst richtig verlassen zu sein, einsam mit all sei-nem Leid und der Sehnsucht nach Licht und Freiheit, drückte ihm in der Kehle, daß er tief schlucken mußte und schnell aufsprang, um die drängenden Tränen nicht hervorquellen zu lassen.

Von draußen drang das Schnaufen Bendlers in die Kammer, der in seiner Waschschüssel wie ein kleiner Junge prustete.

Otto Heinrich mußte lächeln.

Sein Kamerad verstand das Leben — er kapselte sich gegen alles ab und war nur der wirkliche Mensch, wenn er in der Nacht in den Himmel starrte und die Größe des Alls sich vermischte mit der Einsamkeit seines heißen Herzens.

Langsam zog er sich an, wählte aus dem Koffer eine neue Halsbinde und eine frischgebügelte Hose, die ihm die Mutter als Sonntagsstaat mitgegeben hatte, und trat dann hinaus in den Flur, wo der Riese sich an einem Rollhandtuch abtrocknete und neues Wasser in die Schüssel geschüttet hatte.

«Guten Morgen, Kollege!«begrüßte er Otto Heinrich mit einer wohltuenden Fröhlichkeit.»Hinein mit dem Kopf ins kalte Wasser — ein Apotheker muß kühl denken und seine Sinne nicht erregen!«

Er warf dem Freunde einen großen Waschlappen zu, schrubbte sich selbst mit einer Riesenbürste die blitzenden Zähne und schickte sich dann an, seine Halsbinde unter viel Geschnaufe zu winden. Lachend half ihm Otto Heinrich aus dieser morgendlichen Qual, was Bendler damit vergalt, daß er ein großes Schwarzbrot auf den Tisch warf und einen Klumpen Butter dazu.

«Wohlan, mein Freund, laßt uns speisen!«rief er und knallte den einen Stuhl an den Tisch.»Unten bei dem alten Geizkragen gibt es zum Kaffee nur zwei dünne Honigschnitten — nebenbei vom schlechtesten Abfallhonig — und, wenn es hoch kommt, eine runde, möglichst kleine Semmel. Da heißt es vorher in der Stille essen und in der Sonne des Herrn den Kaffee loben!«

Mit einem großen Messer — bei Willi Bendler schien alles riesenhaft

— säbelte er einen mächtigen Kanten von dem Brot und legte die Butter in Scheiben darauf. Lächelnd sah ihm Otto Heinrich zu, setzte sich aber doch nach dem Waschen zu ihm und aß einige Schnit-ten des würzigen Gebäckes.

«So«, sagte nach einer geraumen Zeit der Riese,»jetzt gehen wir hinunter. Wenn der Knackfuß dich anbrüllt, bleibe höflich und bis zu einem gewissen Grade unterwürfig — er kann nichts mehr hassen als eine eigene Meinung. Die Meinung macht bei ihm der Herrgott und der Staat — na ja, du kennst sie ja, die typischen Spießer!«

Noch einmal bürstete sich Otto Heinrich schnell über den Rock, nahm das kleine Paket, das er in der Kutsche von der Reisetasche in den Mantel gesteckt, in die Hand und folgte dem Freunde die steile Treppe hinunter, die sie durch einen Nebenflur verließen. Auf ihm kamen sie in eine schöne, holzgeschnitzte, mit Spiegeln verzierte Halle, deren gewundene Treppe mit dicken, roten Teppichen belegt war. An den Wänden hingen handgetriebene Tranleuchter, wertvolle Gobelins oder standen alte, zeitgeschwärzte, geschnitzte Möbel und Truhen, deren Wert nur ein Kenner abzuschätzen verstand.

Vor einer Tür am Fuße der Treppe hielt Bendler an, räusperte sich, warf einen langen Blick auf Otto Heinrich und klopfte dann mit seinen dicken Fingerknöcheln an. Es klang wie ein dumpfes Dröhnen durch die stille Halle.

Aus dem Kamin antwortete ein Knurren.

«Das heißt: bitte«, flüsterte der Riese und riß die Tür auf. Aber kaum hatte er den Griff niedergedrückt, als ihm schon eine herrische, harte Stimme entgegenschrie:

«Wie oft soll ich Ihnen sagen, daß meine Tür keine Pauke ist?! Können Sie nicht leise klopfen?«

«Guten Morgen, Herr Knackfuß«, antwortete Bendler vergnügt.»Wem Gott eine kräftige Gestalt gibt, dem schenkt er auch ein kräftiges Klopfen. «Er schob den zögernden Otto Heinrich ins Zimmer und postierte ihn vor den herumfahrenden, erstaunten, im ersten Augenblick verblüfften Apotheker.

Herr Knackfuß mochte Ende der Fünfzig zählen. Seine mittelgroße Gestalt war hager, aber nicht dünn, sein Gesicht knöchern, ohne unschön zu wirken, aber die Augen unter der hohen Stirn und den spärlichen Haaren waren dunkel und stechend, der Mund schmal und wie verkrampft, während die Finger unruhig auf der weißen Tischdecke hin und her fuhren.

Er trug einen mandelfarbenen Morgenrock mit kecken Verschnürungen, helle, graue Beinkleider mit Lackschuhen und ein Spitzenhemd, das in dieser morgendlichen Kühle durch einen leichten Seidenschal verdeckt wurde. Eine aus Porzellan kunstvoll geformte Pfeife lag in einem silbernen Pfeifenständer, daneben eine Tabaksdose aus schwarzem, geschnitztem Holz und ein aus Kupfer getriebenes Glühbecken mit kleinen, leicht qualmenden Kohlen darin. Das Geschirr aus gemaltem Porzellan war schon zurückgeschoben, der Brotkorb abräumbereit am Ende des Tisches, während die Kanne mit dem Kaffee noch neben der Pfeife stand.