Er schlug Kummer auf die Schulter und drehte sich um. Otto Heinrich sah ihm nach und beneidete ihn: Fehlin; er ruhte in seinem Fleisch, war stets auf die gleiche Art ironisch und distanziert, selbstsicher und gelassen. Und du? Dich bestürmen Worte, du versuchst sie zu bändigen, verbringst deine Tage in der Universität und bildest dir ein, bei all dem Gerede über Zusammensetzung und Veränderung der Stoffe ein Nachfolger der großen Alchimisten zu sein. Zu Hause spielst du den gehorsamen Sohn und liest heimlich die revolutionären Verse der Emigranten, inszenierst dein ureigenes, persönliches kleines Welt-Theater. Und dann, beim ersten ordentlichen Trink-Comment kommt schon der Zusammenbruch.

Ins Bett! Den Kopf unter kaltes Wasser. Und morgen, morgen wirst du nachdenken. Morgen.

Breit hingelagert, einer Festung gleich, lag mit flachansteigendem Giebel das Haus des Münzmarschalls Kummer.

Kapitel 2

Otto Heinrich war stehengeblieben. Er spürte das Klopfen des Herzens hoch oben am Hals. Dort, rechts? Im ersten Stock schimmerten drei erleuchtete Fenster. Das Arbeitszimmer seines Vaters.

Gerade noch Revolutionär — und nun schon Feigling. Aber diese Furcht ließ sich nicht unterdrücken. Wenn er dich in diesem Zustand erwischt. wäre zuviel, als daß es der Magen noch ertragen könnte.

So ließ er den Schlüssel in der Tasche der Samtjacke und näherte sich dem Dienstboteneingang von einer Seitengasse.

Hier stand die Türe offen.

Die Glutreste in der Küche zeigten ihm den Weg zur Hintertreppe. Vorsichtig, auf Zehenspitzen, fluchend, wenn ihm der Gleichgewichtssinn erneut einen Streich spielte, erreichte Kummer schließ-lich den zweiten Stock. Als er den Korridor durchging, am großen Treppenhaus vorbei, um zu seiner Tür zu gelangen, vernahm er hinter sich ein Geräusch.

Er blieb stehen. Licht drang durch die geöffnete Tür. Eine helle Mädchenstimme rief leise:»Otto Heinrich.«

Mein Gott, das war Anna Luise, seine Schwester. Den Leuchter trug sie in der Hand. Die dunklen Augen in dem schmalen Mädchengesicht unter der Nachthaube wirkten riesengroß und beschwörend, das weiße Leinen des Nachthemds reichte bis zum Boden, bedeckte ihre Füße, so daß sie wie eine kleine, weiße Säule wirkte, die sich näherte.

«Wo warst du bloß? Gut, daß ich dich gehört habe.«

«Wieso denn?«

Sie zog die Brauen zusammen.»Was ist denn mit dir?«

«Was soll sein?«

«Du schwankst so komisch.«

«Aber nein. Sag mir lieber, ist irgend etwas geschehen?«

«O ja, es ist etwas geschehen. Der Vater ist außer sich. Den ganzen Abend wartet er schon.«

«Auf was denn?«

«Auf was? — Auf wen, mußt du fragen. Auf dich. Da waren zwei Herren da. Und einen kannte ich. Er ist ein hoher Kommissär bei der Polizei. Sie wollten Vater sprechen. Und dann mußte Mama ins Zimmer, und als sie herauskam, sagte sie, es gehe um dich.«

«Um mich?«

«Ja. Vater ist noch nicht einmal zum Abendessen erschienen. Und Mama war ganz aufgeregt. Du kennst sie doch, in solchen Momenten bekommst du kein vernünftiges Wort von ihr. Sie rannte nur hin und her und hatte das Taschentuch vor dem Mund und sagte >mon dieu, mon dieu<, und das in einem fort. Was ist bloß? Otto Heinrich, was hast du angestellt?«

Anna Luises dunkle Kinderaugen.

Und kein vernünftiges Wort, kein vernünftiger Gedanke in seinem Schädel. Doch die Alkoholnebel existierten nicht mehr. Verflogen waren sie, als sei ein Vorhang zerrissen.

«Es ist was Schlimmes, nicht wahr?«

«Aber nein.«

Von unten schallte durchs Treppenhaus die Stimme des Münzmarschalls:»Ist da jemand? Otto Heinrich, bist du das?«

Er beugte sich über das Geländer:»Da. Bin gerade zurückgekommen.«

«Ach nein? Wirklich? — Hättest du dann vielleicht die Güte, dich zu mir zu bemühen?«

Es klang wie purer Hohn, nein, wie nackter Zorn.

Gotthelf Kummer erwartete den Sohn nicht an der Türe; schmal und steil aufgerichtet, im engen, braunen Schlafrock, das Kinn emporgereckt, die Augen im bleichen Gesicht dunkel und brennend, stand er hinter seinem Schreibtisch.

Sacht, ganz vorsichtig schloß Otto Heinrich die Türe, blieb nichts als ein Schatten, der den Lichtkreis der Öllampe um den Schreibtisch scheute.

«Komm näher.«

Leise war jetzt die Stimme des Münzmarschalls.»Steh nicht herum wie der Idiot, der du bist.«

Leise Worte, schmerzhaft wie Peitschenhiebe.

«Es gibt viel, was ich bei einem jungen Menschen zu ertragen bereit bin, Otto Heinrich. Doch auch meiner Geduld sind Grenzen gesetzt. Versuchte ich die eigenen Gefühle außer acht zu lassen, so würde es noch schlimmer. Dann müßte ich sagen: Du verdienst es nicht, in diesem Haus zu wohnen, du verdienst nicht, die Luft dieser Stadt und dieses Staates zu atmen und schon gar nicht deine Ausbildung und die Bemühungen deiner Lehrer, dich als Apotheker zu einem geachteten Mitglied unserer Gesellschaft zu machen. Dies soll zuvor einmal klargestellt sein. Hast du das verstanden?«

«Nein, Herr Vater«, hörte er sich sagen.

«Nein? Was soll das heißen?«

An den Schläfen des Münzmarschalls schwollen die Adern. Das quadratische Gesicht färbte ein verräterisches Rot, die Hand zuckte über den Schreibtisch, nahm ein Papier und riß es anklagend hoch:»Willst du mich auch noch belügen? Hier! Ein Protokoll. Und die Polizei hat es mir selbst ins Haus gebracht. Rat Wallerscheid hat sich dieser Mühe unterzogen. Und das nur, weil er ein Freund ist, ein wahrer Freund. Aber diese Sache ist so himmelschreiend, daß auf ihn nicht länger zu zählen ist. Ich tu's auch nicht. Denn dies ist ein Dokument der Schande, ich sagte ja, dies ist für mich eine Blamage, die zum Himmel stinkt.«

Otto Heinrich fühlte, wie sich sein Rücken verkrampfte. Sein Herz, wie es klopfte! Und auch der Kopf begann wieder zu schmerzen. Er versuchte nachzudenken. Er vermochte es nicht zu glauben. So wenig Zeit war vergangen. Wie sollte sein Vater jetzt schon einen Bericht von dem Burschenschafter-Comment im Fährhaus bekommen haben? Oder hatten die Polizei-Spitzel Fehlin und ihn bereits auf ihrem Weg verfolgt? Waren sie tatsächlich überall?

Sein Hals war trocken. Er brachte keinen Ton heraus. Und sein Vater sah ihn noch immer mit denselben dunklen, drohenden Augen an. Doch dann kamen die Zeilen in grellem Spott herausgeschleudert.

«Sei nicht mehr die weiche Flöte, das idyllische Gemüt, sei des Vaterlands Posaune, sei Kanone, sei Kartaune, blase, schmettere, donnere, töte!«

Gotthelf Kummer warf das Blatt verächtlich auf den Tisch.

Schweigen.

Dann sprach der Münzmarschall, leise, ungläubig, als könne er der eigenen Stimme nicht vertrauen:»Mein Sohn! Und was predigt er? Mord und Totschlag. «Plötzlich fing er an zu brüllen:»Das ist Aufstand! Jawohl, was ist das anderes als Aufstand? Revolution! — Und wer predigt das?«

«Ich habe nicht gepredigt, Herr Vater.«

«Ach nein?! Und was steht hier?«Die Faust des Münzmarschalls donnerte auf das Polizei-Protokoll.»Willst du vielleicht.«

«Ich will gar nichts. Ich will nichts, als die Wahrheit feststellen. Ich habe ein Gedicht deklamiert. Und dieses Gedicht stammt aus der Feder eines Mannes, den ich, und ich scheue mich nicht, dies Ihnen zu sagen, aus tiefstem Herzen verehre.«

«Nun hör.«

«Nein, Herr Vater. Ich bitte, daß Sie mich hören. Dieser Mann kann als einer der kühnsten und größten deutschen Geister gelten. Und wo muß er leben? In Paris. Und warum? Weil ihn Reaktion und Presse-Zensur aus dem Land gejagt haben. Ihn, einen Mann, dem nichts höher ist als die Freiheit.«

«Freiheit? Reaktion. Presse-Zensur. Schon die Wortwahl sagt alles.«

Wieder holte Otto Heinrich Kummer tief Luft.»Bei allem Verständnis, das ich aufzubringen vermag, wenn ich an Ihr Amt denke, Herr Vater — aber der Geist der Freiheit war auch Ihnen vertraut. Ja, er wohnte auch in Ihrem Herzen. Warum haben Sie denn bei Leipzig gekämpft?«

Nein, seine Stimme schwankte nicht. Und alle Zweifel, sie waren verflogen. Stolz war Otto Heinrich, stolz darauf, nicht nur zum ersten Mal in seinem Leben dem Vater die Stirne zu bieten, stolz auch, weil er sich angesichts der Gefahr zu solchen Gefühlen bekannte.

«Das ist also aus dir geworden? Ein Jakobiner.«

«Ich sprach von der Freiheit.«

«Freiheit, Freiheit!«Nun schrie der Münzmarschall völlig außer sich:»Jawohl, Freiheit! Wir haben dafür gekämpft. Wir haben gekämpft, um dem deutschen Volk seine Freiheit zurückzugeben. Aber auch seine Ordnung. Doch nicht, damit ein aufrührerisches Gesindel, eine Mischung aus Hitz- und Dummköpfen, Burschenschaftlern und anderen Verrückten dieses gottgefügte Gesetz wieder zerstört. Deshalb doch nicht! — Nun wirst du gleich sagen, daß die Ordnung nicht von Gott, sondern von Menschen gefügt werde.«

Otto nahm den Kopf noch höher.»Ja. Das sage ich. Und ich sage mehr: Daß es nicht nur die Gesetze der Obrigkeit gibt, sondern ein anderes Gesetz — das, das in einer Brust wohnt.«

«O Gott! Auch noch.«

Der Münzmarschall schüttelte den Kopf, preßte die Fäuste gegen die Schreibtischplatte, schüttelte wieder den Kopf, ließ sich in seinen Sessel fallen, lehnte sich zurück, schloß die Augen, und eine Art Lächeln, ein ironisch-überlegenes Lächeln entspannte sein Gesicht.»Weißt du, was am unerträglichsten ist? Diese ewige Überspanntheit. Normal könnt ihr wohl nicht mehr reden? Sobald man euch hört, sitzt man im Theater. Jeder sein eigener Schiller! Und was bist du? Ein Apotheker. Das willst du zumindest werden. Und daran will ich dich erinnern. Ein Apotheker, der sich seines Berufes schämt und deshalb nach hohlen Phrasen sucht. Gesetz in deiner Brust? Soll das Kant sein? Aber nicht einmal den hast du gelesen. Denn wenn du Kant wirklich kennen würdest, würdest du auch wissen, was er von euresgleichen gehalten hat. Daß es kein größeres Verbrechen gibt, als Aufruhr zu predigen. Daß das Volk nur eines zu tun hat, zu gehorchen. - Na, Herr Philosoph, was sagen Sie dazu?«