Auch Frau von Colombique wurde munter und schaute unruhig aus dem Fenster, als die Kutsche mit einem harten Ruck vor der hellerleuchteten Türe des Gasthofes hielt und der Wirt mit seinem runden Käppchen an den Wagenschlag trat.

«Willkommen in Frankenberg«, sagte er und riß die Tür auf.»Reisen die Herrschaften weiter?«

«Zum Teil«, antwortete Herr von Seditz.»Wann geht die nächste Post?«

«Morgen um fünf in der Frühe«, beeilte sich der Wirt zu sagen.»Es sei denn, Sie nehmen die Extrapost! Kommt in der Nacht an. So gegen zwölf.«

«Die nehme ich«, sagte Seditz, und auch die Dame nickte zustimmend.

Dann stiegen sie aus, während die Knechte schon die Pferde abschirrten und die Gepäckstücke abschnallten, eine mühevolle Arbeit, denn Frau von Colombique kam mit dem Zählen ihrer Koffer nicht zum Ende und vermißte laufend Stücke, die dann nach wenigen Minuten vom Dach der Kutsche gehoben wurden.

«Sie werden sicherlich erwartet«, sagte Seditz zu Otto Heinrich Kummer, der sich mehrmals umschaute.»Leben Sie wohl, junger Freund. Ich habe Ihren Herrn Vater schätzengelernt und würde mich für Sie freuen, wenn Sie einmal so würden wie er. Meine besten Wünsche sind bei Ihnen. Und wenn Sie einmal einen Freund brauchen, so schreiben Sie an mich nach Dresden.«

Er drückte dem verwunderten Apotheker die Hand und wandte sich dann ab, dem Wirte und der Frau von Colombique in die Wirtschaft zu folgen.

Kopfschüttelnd sah ihm Otto Heinrich Kummer nach, nahm seinen Koffer und seine Bündel auf, ging um den Gasthof herum auf die Straße, die nach Frankenberg hineinführte, und sah sich dann wieder wartend um, ob niemand gekommen sei, ihn nach der lan-gen Fahrt abzuholen.

Aber die Straße war leer, kein Mensch war zu sehen — nur in der Ferne verklang das Rollen eines Wagens.

Mit einem neuerlichen Kopfschütteln und einem resignierenden Achselzucken nahm der Apotheker seine Sachen auf den Rücken, klemmte den Stock in den Henkel des Koffers und schritt dann mit langen Schritten die Straße entlang nach Frankenberg hinein, der Zukunft, dem Ungewissen, dem Schicksal entgegen.

Am Fenster des Gasthauses verfolgte ihn Herr von Seditz mit einem langen, lächelnden Blick.

«Armer Junge«, sagte er leise vor sich hin.»Du bist alles andere als ein Apotheker. Zu zart, zu beseelt, zu — dichterisch. Auch ich war einst wie du — na — wirst deinen Weg schon gehen.«

Otto Heinrich Kummer trat unterdessen in den Schein der ersten Häuser Frankenbergs ein und fragte einen Bürger nach der Apotheke. Zwei Straßen weiter auf dem kleinen Markt mit dem winzigen Brunnen blieb er vor einem spitzgiebeligen Haus stehen, dessen Dach mit dem Nachthimmel verschmolz, setzte sein Gepäck ab und betrachtete lange seine neue Heimat.

Die Fensterläden waren geschlossen, die Malerei des Balkenschnitzwerkes leicht verwittert, und die breite eisenbeschlagene Tür sah mehr nach dem Eingang zu einer Schmiede als zu einer Apotheke aus.

Sinnend trat er ein paar Schritte auf den stillen Markt zurück, umfaßte mit einem langen Blick noch einmal das ganze, dunkle, große, spitze und schön verzierte Haus, dann setzte er sein Gepäck vor die Tür, zog an der laut bimmelnden Eisenklingel und wartete, bis er tappende Schritte die Stiege im Hause hinuntergehen hörte. Und er schalt sich einen Schwächling weil er spürte, daß sein Herz plötzlich schneller und weher schlug.

Ein baumlanger, hagerer, verschlafener, griesgrämiger Geselle öffnete spaltbreit die Tür.

«Wer da?«murmelte er und schien wenig Lust, die Tür ganz zu öffnen.

«Otto Heinrich Kummer«, sagte der Riesige laut.

«Wer?«

«Otto Heinrich Kummer aus Dresden«, wiederholte der Wartende, denn es schien, als erwecke sein Name keinerlei Erstaunen, Freude oder gar Verstehen.»Ich bin der neue Apothekergeselle!«

«Himmel — in der Nacht!«

Die schwere Tür flog auf, und Otto Heinrich sah eine gespenstige Gestalt in einem überlangen Nachthemd.

«Lieber Kollege — so spät hätte ich Sie nicht erwartet. Wenn das der Alte merkt, gibt es gleich zur Einführung einen Veitstanz! Kommen Sie schnell und leis hinein, hinauf, ins Bett, und rühren Sie sich nicht bis morgen.«

Damit nahm der Riese die Gepäcke wie eine Feder auf die Schulter, schlich die Stiege hinauf und vermied es krampfhaft, daß die Treppenstufen knarrten.

Verwundert über diesen Empfang, folgte ihm Otto Heinrich, erhielt einen bösen Blick, weil er bei einem Fehltritt auf der unbeleuchteten Treppe Lärm schlug, und trat dann in ein kleines Zimmer unter dem Dach ein, in dem neben zwei Betten nichts stand als ein Tisch, zwei Stühle und ein Regal mit Haken für die Kleidung.

Erst in der Kammer entzündete der Riese eine Kerze, warf das Gepäck auf das zweite, unbenutzte Bett, kratzte sich den Schädel, sah den Neuangekommenen an und sagte dann:

«Mein Name ist Bendler. Ich bin der erste Provisor.«

Dann, als erkenne er erst die Lage des Kollegen aus Dresden, rückte er ein Brot und etwas Käse auf den Tisch, lud mit einer Handbewegung zum Essen ein und meinte:

«Wundern Sie sich nicht, Kollege — Sie sind nicht mehr in der Dresdner Hofapotheke, sondern beim Apotheker Knackfuß in Frankenberg im Erzgebirge! Wenn Sie nicht wissen, was das heißt, so werden Sie das in spätestens einer Woche genau wissen! Sie dürfen sich nicht wundern, Sie dürfen nicht klagen, noch weniger etwas erwarten — Sie dürfen nur an das Vergängliche allen Fleisches denken, das ist das einzige, was Sie in Zukunft obenhalten kann! — So, und jetzt essen Sie, legen sich hin und schlafen. Wenn die Sonne scheint, werden Sie dem Meister vorgeführt. Er wird Sie zwar nicht fressen, aber anbrüllen bestimmt!«

Damit löschte er die Kerze aus, ohne Rücksicht, ob Otto Heinrich mit dem Essen zu Ende war, und wälzte sich mit einem Stöhnen auf das Bett, das sich für seine Länge als viel zu kurz erwies, so daß er stets krumm lag. Ein tiefes, gleichmäßiges Atmen ließ nach kurzer Zeit erkennen, daß der Riese Bendler eingeschlafen war.

Otto Heinrich Kummer saß noch lange im Dunkeln an dem Tisch und schaute durch das Lukenfenster hinauf in den fahlen Nachthimmel.

Frankenberg, dachte er.

Jetzt bin ich in Frankenberg.

In der Einsamkeit.

In der Fremde.

In der Verbannung.

Und dort, weit weg, hinter den Bergen und Wäldern, viele Tagesreisen durch Schluchten und Dörfer liegt Dresden, das sonnige, herrliche, mächtige, königliche Dresden.

Die Residenz des Königs.

Das Schloß. Der Traum des Zwingers.

Die weite, große Oper mit der Quadriga der Panther auf dem Dach.

Die breite Brühlsche Terrasse an der noch jugendlichen Elbe.

Könnte ich jetzt in den Gärten wandeln, am Nymphenbrunnen des Zwingers die Serenaden hören, durch die Gänge der Gemäldegalerie wandeln und im Grünen Gewölbe den Porzellan- und Goldschatz des Starken August bewundern. Nur durch die Straßen gehen, das Leben aufsaugen, das bunte, vielfältige und doch so einfältige Leben, die Straßen sehen, die meiner Kindheit Glanz und Erleben gaben.

Otto Heinrich Kummer stand auf und trat an das Fenster.

Traurig lehnte er den Kopf an den Rahmen und blickte hinaus in die ziehenden Wolken mit dem Wunsch, mit ihnen zu reisen, denn sie zogen in die Heimat und würden morgen vielleicht am glänzend blauen Himmel über dem weiten Bau des Zwingers hängen.

Auf dem Bette rührte sich die Gestalt des Riesen Bendler. Knurrend wälzte er sich herum und bemerkte den Stummen an dem Lukenfenster.

«Schon Heimweh?«sagte er halblaut.»Kenne ich. Habe ich auch gehabt, als ich vor fünf Jahren nach Frankenberg in die Fänge des alten Knackfuß kam. Geht schon vorüber, Kamerad — mußt die Zähne fest aufeinanderbeißen und den Kloß, der dir dabei im Halse steckt, einfach hinunterschlucken! Zu ändern ist doch nichts! Warum kommst du auch zu diesem Knackfuß!«

«Mein Vater hat es so bestimmt«, antwortete Otto Heinrich leise.

Bendler pfiff laut durch die Zähne.»Der Vater — das ändert vieles. Der Alte verkaufte dich also?! Kennt er den Knackfuß?«

«Ich weiß nicht. - Er hatte eine Empfehlung.«

«Empfehlung!«Der Riese lachte schrill.»Auf solch eine Empfehlung pfeife ich! Ich muß bleiben, ich habe kein Geld, um die Stellung zu sichern — aber du! Du bist was Feineres — habe ich gleich gesehen! Geh morgen erst gar nicht hinunter — fahre mit der nächsten Post wieder nach Dresden zurück! Hier vermißt dich keiner!«

«Ich muß bleiben — der Herr Vater befahl es. Befehle werden bei uns gehalten, auch wenn man daran zerbricht!«

«Herr Vater! Befehl! Bis man zerbricht! Blödsinn! Menschenschinderei! Die Französische Revolution hat die Freiheit des Individuums gelehrt! Du kannst das tun, was du willst, wenn du es verantworten kannst. Oder willst du hier zu Grunde gehen?«

«Wenn man es zu Hause will?«

«Hast du keinen Mut, zu leben?«

«Ich kenne nur Gehorsam.«

«Himmelstockschwerenot! Gehorsam hört da auf, wo Gehorchen Wahnsinn und Mord ist! Mach deinem Vater klar, daß Knackfuß ein Unhold ist — dann wird er schon einsehen, wer recht hat!«

Otto Heinrich schüttelte den Kopf.»Mein Vater ist Münzmarschall in Dresden. Er kennt im Leben nur ein Ideal: Dienen! Dienen bis zur Selbstaufgabe! Dienen, bis der Tod das letzte Siegel setzt. Und er verlangt es auch von mir. Kennst du den >Prinzen vom Homburg< des Dichters Kleist? Auch dieser Prinz wurde verurteilt, weil er einem Befehl nicht gehorchte und frühzeitig eine Schlacht begann. Er gewann die Schlacht, aber sein Urteil lautete auf Tod, weil er eigenmächtig handelte. - Wie dieser Kurfürst, so ist mein Vater! Hart, gerecht, eisern, aufgewachsen in der absoluten Pflicht — seine Liebe ist Gehorsam!«