»Eine Treppe? Träumst du?«
»O nein, Messire. Eine richtige, in den Felsen geschlagene Treppe, natürlich sehr schmal. Sie beginnt im Innern eines der Türme. Nur der alte Sire von Cabanes und ich kennen sie. Escorneboeuf ist auf diesem Wege geflohen, Dame Cathérine, damals, als …«
Cathérine erinnerte sich mit Schaudern an den Tag, an dem in diesem selben Turm der gaskognische Haudegen versucht hatte, sie ins Verlies zu stürzen. Manchmal sah sie in ihren Alpträumen das rote, schwitzende Gesicht des groben Sergeanten wieder, in dessen Augen Mordlust funkelte.
»Wieso kannte er das Geheimnis?« stieß sie hervor.
Der kleine Seneschall senkte den Kopf und drehte die Kappe in den Händen.
»Wir … wir stammten aus derselben Gegend der Gascogne«, stammelte er. »Ich wollte nicht, daß er aus diesem Grunde zu Tode käme.«
Cathérine enthielt sich einer Antwort. Dies war nicht der Augenblick, von diesem Mann, der eine so wertvolle Auskunft gegeben hatte, Rechenschaft dafür zu fordern, daß er einen Mörder beschützt hatte. Kennedy, der in tiefes Sinnen versunken war, hätte es sowieso nicht geduldet. Mit gekreuzten Armen, den Kopf auf eine Schulter geneigt, starrte er völlig ausdruckslos ins Feuer. Mechanisch fragte er, ob die Treppe für Frauen benutzbar sei, und als dies bejaht wurde:
»Gut, wir werden es noch besser machen. Man muß von der Tatsache profitieren, daß Villa-Andrado noch nicht die Möglichkeit gehabt hat, das Schloß ganz einzuschließen. Vermutlich hält er es in Anbetracht der Höhe der Nordwand auch nicht für so dringlich; aber er kann seine Meinung schon morgen ändern. Wir haben also keine bessere Chance als heute nacht. Dame Cathérine, bereitet Euch auf den Aufbruch vor.«
Leichte Röte stieg der jungen Frau in die Wangen, und sie preßte die Hände gegeneinander.
»Soll ich allein gehen?« fragte sie einfach.
»Nein. Sara, Bruder Etienne und Gauthier werden Euch selbstverständlich begleiten. Gauthier wird Euch außerhalb Carlats vorübergehend verlassen und, während Ihr in Aurillac auf ihn wartet, Mac-Laren treffen. Er wird ihm den Befehl überbringen, sich mit seinen Leuten zu Euch zu begeben und Euch für den Rest Eurer Reise als Eskorte zu dienen.«
»Und Ihr, was tut Ihr inzwischen?«
Der Schotte hatte ein lustiges, schallendes Lachen an sich, das die gespannte Atmosphäre in dem hohen, gewölbten Raum wie durch ein Wunder vertrieb. Mit diesem Lachen entflohen alle Dämonen der Furcht und Angst.
»Ich? Ich werde in aller Ruhe noch einige Tage hierbleiben, um Villa-Andrado zu amüsieren. Ich muß ja warten, bis der neue Gouverneur eintrifft, der jedoch nicht kommen kann, solange Carlat eingeschlossen ist. In einigen Tagen, just so lange, wie Ihr braucht, um Euch einen schönen Vorsprung im Falle einer eventuellen Verfolgung zu verschaffen, werde ich Villa-Andrado rufen lassen und ihm freundlichst klarmachen, daß Ihr das Weite gesucht habt. Worauf er, da er nichts mehr zu erhoffen hat, verschwinden wird. Mir bleibt dann nur noch übrig, meine Machtbefugnisse meinem Nachfolger zu übergeben und die Koffer zu packen.«
Bruder Etienne näherte sich Cathérine und nahm die kalten Hände der jungen Frau in die seinen.
»Was haltet Ihr davon, mein Kind? Ich finde, der Feldhauptmann hat sehr klug gesprochen.«
Diesmal lächelte Cathérine wirklich ganz offen, ein schönes, warmes Lächeln, mit dem sie den kleinen Mönch und zum Schluß auch noch den großen Schotten bedachte, der vor Erregung plötzlich rot anlief.
»Ich glaube«, sagte sie leise, »der Plan ist gut. Ich werde mich jetzt vorbereiten. Komm, Sara! Messire Kennedy, ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir Männerkleidung besorgen würdet, auch für Sara.«
Diese stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie hatte einen Horror vor Männerkleidung, die ihre rundlichen Formen stets lästig einzwängte. Doch die Zeit der Abenteuer war offenbar noch nicht vorüber, und man mußte sich in Ermangelung eines Besseren eben ins Unvermeidliche schicken.
Einige Minuten später betrachtete Cathérine in ihrem Zimmer einigermaßen erstaunt die Kleidungsstücke, die Kennedy ihr geschickt hatte. Der schottische Hauptmann hatte sie von seinem Pagen geliehen. Es war die übliche Männerkleidung seines Landes, allerdings mit einer kleinen Abweichung. Die rauhen Gebirgler der Hochebenen, an ein unfreundliches Klima gewöhnt, hatten eine zähe, lederartig gegerbte Haut. Ihre gewohnheitsmäßige Kleidung bestand aus einem in den Farben ihres Clans karierten großen Stück Wollstoff, in das sie sich hüllten, aus einer Flanelljacke und einem Panzerhemd. Eine verzierte Eisenbrosche hielt das Gewand an der Schulter fest. Als Kopfbedeckung dienten ihnen konische Helme oder flache, mit Reiherfedern geschmückte Mützen, und sie gingen mit nackten Beinen und manchmal sogar barfuß. Bei König Karl VII. unter dem sie von dem Konnetabel John Stuart Buchan aufgestellt wurde, trug die berühmte Schottische Garde Silberharnische und prunkvolle Reiherfederbüsche, doch im Feld griff sie gern auf ihre traditionelle Kleidung zurück, in der sie sich am wohlsten fühlte.
Daher hatte Kennedy Cathérine einen Tartan in den Farben des Kennedy-Clans-Grün, Blau, Rot und Gelb-, einen enganliegenden roten Mannsrock und eine blaue Mütze, kurze, feste Lederstiefel und einen Ziegenfellbeutel geschickt. Als einzige Konzession an die Temperatur hatte er enganliegende Hosen aus demselben Blau wie die Mütze und einen großen schwarzen Reitermantel beigefügt.
»Wenn Ihr Euch mit MacLaren trefft, werdet Ihr als sein Page gelten«, hatte der Hauptmann zu ihr gesagt, »und auf diese Weise werdet Ihr Euch nicht vom Rest der Truppe unterscheiden.«
Er hatte noch einen zweiten Anzug derselben Art, aber beträchtlich größer und weniger elegant, für Sara mitgeschickt. Die Zigeunerin hatte sich anfangs kategorisch geweigert, sich derartig albern auszustaffieren.
»Man kann auch fliehen, ohne sich lächerlich zu machen!« erklärte sie. »Wie sehe ich denn in diesem geschmacklosen Plunder aus?«
»Wie sehe ich aus?« erwiderte Cathérine leise, die, kaum daß die Tür hinter dem Boten Kennedys zugefallen war, sich entkleidet und den seltsamen Anzug angelegt hatte. Dann hatte sie ihre zerzausten blonden Locken zurückgestrichen, die Mütze aufgesetzt und sich vor einem großen, polierten Zinnspiegel niedergelassen, die Faust in die Hüfte gestemmt und sich mit kritischen Augen betrachtet. Ein Glück, daß sie so dünn war, denn diese kräftigen Farben machten sie dicker, und sie hätte Schwarz hundertmal vorgezogen und wäre dabei noch ihrem Gelübde treu geblieben, nie mehr etwas anderes zu tragen als Schwarz oder Weiß. Diese Nacht jedoch war eine Ausnahme, ein Fall von höherer Gewalt, da es nicht möglich gewesen war, schwarze Männerkleidung aufzutreiben, die ihr paßte. Trotz allem empfand sie einen Schauer des Vergnügens. Dieses bizarre Kostüm verlieh ihr das Aussehen eines Tollkopfs, eines jungen Pagen mit zu hübschem Gesicht. Sie drehte sich eine Haarsträhne um den Finger. Das Haar schien um einen Ton dunkler nachzuwachsen. Sein glänzendes Gold bronzierte leicht und hatte eine weniger leuchtende, aber dafür wärmere Farbe, die ihren zarten Teint und ihre großen dunklen Augen noch mehr hervortreten ließ. Sara, die sie schweigend beobachtete, brummte bärbeißig:
»Es ist einfach nicht statthaft, so schön zu sein! Ich fürchte, der Spiegel wird mir kein so gelungenes Bild zurückwerfen!«
Tatsächlich bot Sara, abgesehen davon, daß sie ihr dichtes schwarzes Haar unter die Mütze stopfen mußte, in diesem Aufzug einen unwiderstehlich komischen Anblick.
»Du mußt die Schärpe um die Brust drapieren«, riet Cathérine. »Man sieht zu deutlich, daß du eine Frau bist!«
Sie hatte das gleiche bei sich getan, obwohl sie ihre Brüste vorsichtshalber umbunden hatte, bevor sie in das Wams geschlüpft war. Als sie eben dabei war, den schwarzen Diamanten und einen Teil des Geschmeides in ihrem Ziegenfellbeutel verschwinden zu lassen – den Rest würde Sara tragen –, klopfte jemand an die Tür.
»Seid Ihr bereit?« fragte die Stimme Kennedys.
»Müssen wir wohl!« brummte Sara, die Schultern hochziehend.
»Tretet ein«, sagte Cathérine. Auf der Schwelle zeigte sich die Gestalt des Schotten. Er lächelte.
»Was für einen schönen Pagen Ihr abgebt!« bemerkte er, sichtbar beeindruckt. Aber Cathérine lächelte nicht.
»Diese Maskerade gefällt mir gar nicht. Ich habe ein Bündel aus meinen Kleidern gemacht und werde sie anlegen, sobald es möglich ist. Alsdann, gehen wir …«
Bevor Cathérine das Zimmer verließ, in dem sie ihre letzten Glücksstunden und ihr Golgatha erlebt hatte, überflog sie es mit einem letzten Blick. Es schien ihr, als bewahrten die schmucklosen Wände den Reflex des Lächelns Arnauds und das Echo von Michels Lachen. Sie entdeckte, daß sie ihr teuer geworden waren, und sie fühlte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Aber sie ließ sich von dieser Anwandlung nicht überwältigen. In diesem Augenblick brauchte sie ihren ganzen Mut und kaltes Blut. Entschlossen drehte sie dem so vertrauten Raum den Rücken zu und legte die Hand auf den langen Dolch, den sie sich in den Gürtel gesteckt hatte. Es war der Dolch mit dem Sperbergriff, mit dem Arnaud Marie de Comborn getötet hatte, und für Cathérine der kostbarste Gegenstand, den sie besaß. Im Vergleich zu seinem bläulich schimmernden Knauf, der so oft von der Hand ihres Gatten erwärmt worden war, war der schwarze Diamant nur ein wertloser Kiesel, und sie hätte ihn ohne Zögern dem anderen geopfert.
Im Hof fand sie Kennedy vor, der sie, eine Blendlaterne in der Hand, erwartete. Gauthier und Bruder Etienne standen bei ihm. Ohne ein Wort zu sagen, nahm der Normanne Sara den Kleiderballen ab, den sie trug, dann machte sich der kleine Trupp auf den Weg. Einer hinter dem anderen gingen sie der Umfassungsmauer zu. Die Kälte hatte im Laufe der Nacht zugenommen und war grausam beißend geworden. Von Zeit zu Zeit fegte ein kurzer, heftiger Windstoß weiße Wirbel empor, so daß man in der Mitte des großen Hofs nur gebeugt vorwärts kam. Aber je mehr sie sich den Wällen näherten, desto mehr verloren die Wirbel an Wildheit. Dann und wann durchdrang das Brüllen eines Tiers die Stille oder auch das Schnarchen eines der Flüchtlinge, die, in ihre Decken gehüllt, auf dem nackten Boden nahe am Feuer schliefen.
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