»Ihr habt den sehnlichen Wunsch zu gehen, nicht wahr?«

»Ich wünsche es mehr als alles in der Welt.«

»Also kommt! Ich werde Euch die Beichte abnehmen und Euch dann einen Zettel für den Prior des Städtischen Hospitals mitgeben.«

»Habt Ihr denn die Macht, mir noch so spät Einlaß zu verschaffen?«

»Es gibt keine festgesetzte Stunde, in der man sich Gott nähern kann! Und ich bin Guillaume de Chalençon, Bischof dieser Stadt. Kommt, meine Tochter.«

Das Herz von wunderbarer Hoffnung durchdrungen, folgte Cathérine der weißen Gestalt des Prälaten.

Als Cathérine die Kirche verließ, schien sie förmlich zu schweben. Sie hatte das Gefühl, daß alles gut werden würde, daß ihre Hoffnungen ihre ganze Kraft wiederfänden, daß nichts mehr unmöglich sein würde.

Man brauchte nur Mut zu haben, und Mut hatte sie von jetzt an übergenug.

Am Eingang des Städtischen Hospitals, dessen hohes, spitzbogiges Portal, von zwei Steinlöwen bewacht, sich auf die Stufen der Kathedrale öffnete, fand sie Bruder Eusebius wartend vor, der, auf einem Eckstein sitzend, still den Rosenkranz betete. Als er sie bemerkte, sah er sie unglücklich an.

»Dame Cathérine, es gibt keinen Platz in den Schlafsälen. Die Pilger schlafen im Hof, und ich habe nicht einmal einen Strohsack für Euch auftreiben können. Ich kann ja immer in einem Kloster Unterkunft bekommen, aber Ihr?«

»Ich? Das ist unwichtig. Ich werde auch im Hof schlafen, mit den anderen. Übrigens, Bruder Eusebius, es ist Zeit, daß ich Euch zu dieser Stunde die Wahrheit gestehe. Ich werde nicht mit Euch nach Montsalvy zurückkehren. Morgen werde ich mit den anderen Pilgern nach Compostela aufbrechen … Nichts kann mich daran hindern. Aber ich möchte Euch wegen des Ärgers, den ich Euch verursachen werde, um Verzeihung bitten. Der Herr Abt …«

Ein breites Lächeln hellte das runde Gesicht des kleinen Mönchs auf. Unter seiner Kutte zog er eine Pergamentrolle hervor und gab sie Cathérine.

»Unser Sehr Ehrwürdiger Vater Abt«, unterbrach er, »hat mich beauftragt, Euch dies zu überreichen, Dame Cathérine. Aber ich sollte es Euch erst geben, nachdem Ihr Euer Gelübde erfüllt habt. Es ist erfüllt, nicht wahr?«

»Es ist erfüllt!«

»Also, hier!«

Mit zögernder Hand nahm Cathérine die Rolle, brach das Siegel auf und entfaltete sie.

Sie enthielt nur wenige Worte, aber während sie las, stieg ihr die Freudenröte ins Gesicht.

»Geht in Frieden«, hatte Bernard de Calmont geschrieben. »Und Gott begleite Euch! Ich werde über das Kind und Montsalvy wachen …«

Der Blick, den sie dem Bruder Pförtner zuwarf, war glückstrahlend. In ihrer Begeisterung küßte sie die Unterschrift des Briefes, bevor sie ihn in ihren Almosenbeutel steckte, dann streckte sie ihrem Gefährten die Hand hin.

»Hier trennen wir uns nun. Kehrt nach Montsalvy zurück, Bruder Eusebius, und sagt dem Sehr Ehrwürdigen Abt, daß ich mich schäme, ihm nicht genügend Vertrauen geschenkt zu haben, aber daß ich ihm danke. Bringt ihm die Maultiere zurück, ich brauche sie nicht. Ich werde meinen Weg wie die anderen zu Fuß zurücklegen.«

Dann wandte sie sich um und ging schnell davon, leicht wie ein befreiter Vogel, zur anderen Seite der Straße, wo ein schönes Schild hing, das einen Pilger mit einem großen Hut, den Stab in der Hand, zeigte und allen verkündete, daß für ›Die Straße nach Compostela‹ Meister Croizat eine Ausstattungsboutique für die fromme Reise unterhalte.

Die zum Aufbruch Gerüsteten zählten an die fünfzig, Männer und Frauen, aus der Auvergne, der Franche-Comté und sogar aus Deutschland. Sie gruppierten sich nach Herkunft oder geistiger Verwandtschaft, doch einige blieben für sich, zogen ihre Einsamkeit und ihre eigene Gesellschaft vor.

Inmitten ihrer neuen Gefährten wohnte Cathérine dem österlichen Hochamt bei. Sie sah nur einige Schritte von sich entfernt König Karl VII. vorübergehen und den hohen Sessel einnehmen, der für ihn im Chor aufgestellt war. Neben ihm erkannte sie die mächtige Gestalt Arthur de Richemonts. Der Konnetabel von Frankreich nahm an diesem Ostertag seinen Rang und sein Amt offiziell wieder ein. Zwischen seinen kräftigen Händen sah die junge Frau den großen blauen, mit goldenen Lilien verzierten Degen blitzen.

Sie sah auch die Königin Marie, und im Gefolge Richemonts entdeckte sie die hohe Gestalt Tristan l'Hermites … Tristan, ihr letzter Freund!

Die Versuchung war groß, die schweigenden Reihen, die sie umgaben, zu durchbrechen, zu ihm zu gehen … Es wäre gut, seine Freudenrufe zu hören, alte Erinnerungen aus vergangenen Tagen wachzurufen …

Aber sie unterdrückte ihre Regung. Nein … sie gehörte nicht mehr zu dieser glänzenden, farbigen, prunkvollen Welt. Zwischen ihr und dieser Welt stand jetzt das Versprechen vom Abend zuvor, die weiße Kutte dieses Bischofs, der da unten im erleuchteten Chor die Messe in vollem Ornat zelebrierte. Die unsichtbare Schranke, die sie von diesem Hof trennte, zu dem sie von Rechts wegen noch gehörte, wollte Cathérine nicht durchbrechen. Die Zukunft lag woanders, und weit davon entfernt, sich zu zeigen, machte sie sich ganz klein inmitten ihrer Nachbarn, zwischen einem riesigen, angegrauten und bärtigen Burschen, der mit einer Stimme wie eine große Orgel sang, und einer hageren, blassen Frau, deren fanatischer Blick am schimmernden Altar hing. Als sie sie betrachtete, schwankte Cathérine zwischen Mitleid und Abscheu, aber sie bezweifelte, ob diese Frau, die offensichtlich krank war und von Zeit zu Zeit einen trockenen, dumpfen Husten hören ließ, die Anstrengungen der Wallfahrt aushalten könnte.

Was sie betraf, wer hätte denn die Gräfin de Montsalvy, die schöne Witwe von Chinon, die von Pierre de Brézé angebetet worden war, wer hätte sie in dieser Frau, die wie alle ihre Gefährten gekleidet war, erkannt? Ein grobes graues Kleid aus dickem Wollstoff über einem Linnenhemd, feste Stiefel, ein weiter, jedem Wind und Wetter gewachsener Mantel und über dem dünnen, feinen Kopftuch, das ihr Gesicht umschloß, ein großer schwarzer Filzhut, dessen Krempe vorn durch eine Muschelspange aus Zinn aufgebogen wurde. Im Almosenbeutel an ihrem Gürtel hatte sie Gold und natürlich Arnauds Dolch, ihren treuen Kameraden in schweren Tagen und auf gefährlichen Reisen. Schließlich hielt sie in der rechten Hand das Sinnbild des Pilgers, den berühmten Pilgerstab, den langen Stock, an dessen Spitze ein runder Kürbis hing … Nein, niemand hätte sie in diesem Aufzug erkannt, und Cathérine freute sich darüber. Sie war nur eine Pilgerin unter anderen Pilgern …

Die Zeremonie ging ihrem Ende zu. Die ernste Stimme des Bischofs hatte seine guten Reisewünsche an die Aufbrechenden ausgesprochen. Jetzt segnete er die Pilgerstäbe, die ihm alle mit derselben Bewegung entgegenstreckten. Die Priester, die, das große Kreuz der Prozession vorantragend, dem Zug das Geleit bis zu den Stadttoren geben wollten, setzten sich bereits in Bewegung. Cathérine warf noch einen letzten Blick auf den Chor, schloß in diesen Blick auch den König, den Konnetabel, den von Bewaffneten bewachten glänzenden Hof ein. Sie schienen sich bereits in die Zeit, in die nebelhafte Welt der Wunder zurückzuziehen. Ganz oben, alles beherrschend, konnte sie Garins verfluchten Diamanten am goldenen Stirnband der starren kleinen Jungfrau im goldenen Mantel schwarze Funken sprühen sehen. Die großen Portale öffneten sich ins Freie, auf einen blaßblauen Himmel, über den die Wolken eilten …

Auf der Schwelle hob Cathérine die Brust und holte tief Atem. Sie hatte das Gefühl, daß diese Pforten sich ins Unendliche öffneten, auf eine Hoffnung, so groß wie die ganze weite Welt …

Hinter den Priestern und Mönchen stürzten die Pilger, Freudenrufe ausstoßend, die abschüssige Straße hinunter. Auf beiden Seiten drückten sich die guten Leute an die Häuser, um sie vorbeigehen zu sehen. Einige riefen ihnen gute Wünsche zu, andere sagten einem Freund, einem Verwandten ein letztes Lebewohl.

Nachdem die Granitwälle, auf denen die königlichen Lilienbanner knatterten, durchschritten waren, trennte sich die letzte Eskorte von den Pilgern. Vor der Kolonne wand sich ein steiler Weg einen Berghang hinauf, der wie die Himmelsleiter aussah. An der Spitze stimmte der Führer der Pilger, ein kräftiger Bursche mit feurigen Augen, mit kraftvoller Stimme das alte Marschlied an, das schon so viele durch zu lange Wegstrecken Entmutigte wiederaufgerichtet hatte, den fremden Gesang in alter Sprache, der einen so guten Takt für den Marschtritt abgab:

»E ul treia! (Und weiter!) E sus eia! (Und noch mal!) Deus aîa nos! (Gott hilft uns!)«

Das einfache, rhythmische Lied hob den Marschtritt gut hervor. Es pflanzte sich durch die Reihen der Pilger wie ein Lauffeuer fort. Cathérine stimmte es wie die anderen an. Ihr Herz war leicht, ihre Seele in Frieden, ihre Energie stärker als je. Hinter ihr, in der Stadt, die schon langsam verschwand, läuteten die Glocken mit voller Kraft. Ihr Siegesklang löschte die grausame Erinnerung an die Totenglocke von Carlat aus, die so lange in ihrem Herzen widergehallt hatte. Am Ende dieses vor ihr liegenden Weges war Cathérine gewiß, durch einen ebenso großen Glauben über sich selbst erhoben wie jener, der einst die Kreuzfahrer zur Eroberung des Heiligen Landes getrieben hatte, daß sie Arnaud antreffen würde! Und wenn sie bis ans Ende der Welt gehen müßte, um ihn zu finden, und sei es auch nur, um mit ihm zu sterben, würde sie bis dorthin gehen …

Oben, nach dem beschwerlichen Aufstieg, empfing ein scharfer, schneidender Wind und feiner, kalter Regen, der in die Gesichter peitschte, die Pilger beim Betreten des Plateaus. Cathérine senkte den Kopf, um sich zu schützen, und ging, auf ihren Stab gestützt, dem Wind entgegen. Aber weil sie den Elementen nicht das letzte Wort in diesem ersten Handgemenge lassen wollte, sang sie lauter als je. Dieser Wind, das war der Südwind. Er war vor ihr durch die unbekannten Lande gefegt, in die sie, Tag um Tag, weiter vordringen würde, um endlich ihre verlorene Liebe wiederzufinden … Er war ihr Freund!