«Unten, Großmutter. Ich esse gleich unten, wenn du nichts dagegen hast.«
«Natürlich. Sieh zu, daß du runterkommst und setz dich an die Heizung. Dreh sie ruhig ganz auf. Ach, warum ziehst du nicht eine Wolljacke von mir über.«
«Im Wohnzimmer ist es ja warm.«
«Weißt du, du bist furchtbar mager geworden. Was soll denn deine Mutter sagen, wenn sie dich sieht? Sie wird sich fragen, was wir hier mit dir angestellt haben. Ehrlich, du bist so klapprig wie ein Skelett.«
Ich nickte nur und dachte, gestern hast du mich mit einer Leiche verglichen. Vielleicht werde ich wirklich langsam eine. Als ich wieder unten im Wohnzimmer war, ließ ich mich in einen der beiden Sessel fallen und rührte mich nicht mehr von der Stelle. Ich war wirklich wie tot. Ich konnte nur auf die Entfaltung der nächsten Episode warten, meine kostbaren Momente mit der Vergangenheit. So unglücklich und tragisch sie waren, ich sehnte mich nur nach ihnen. Sie waren meine Wirklichkeit. Aber warum raubten sie mir Schlaf und Appetit? War das notwendig? Wie lange konnte ich das durchhalten, ohne tatsächlich zusammenzubrechen? Wenn Elsie heute abend oder morgen vorbeikam, würde sie bestimmt erschrecken — ich war ja selbst erschrocken, als ich mich im Spiegel gesehen hatte — und versuchen, mich zu sich nach Hause zu holen.
Würde ich gehen dürfen? Oder hielten sie mich hier fest, um mich langsam zu töten, damit ich eine der Ihren werden würde?
Am Nachmittag war ich wieder in der Vergangenheit. Ich war eingeschlafen, aber ich fand weder Frieden noch Ruhe in diesem Schlaf. Schreckliche Träume quälten mich, und eine tödliche Kälte hüllte mich langsam ein, drang durch meine Haut und meine Knochen bis ins Mark. Zitternd vor Kälte hatte ich mich den ganzen Nachmittag herumgewälzt und war, als ich erwachte und Jennifer allein am Kamin sitzen sah, noch matter und erschöpfter als zuvor.
Sie war dabei, einen Brief zu schreiben. Ich rutschte bis an die äußerste Kante des Sofas und beugte mich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, so weit vor, wie ich konnte. Nun konnte ich lesen, was sie schrieb.
«Juli 1894 Liebster Victor, ich schreibe diesen Brief in der Hoffnung, daß er von einem hilfreichen Menschen befördert wird, der weiß, wo Du Dich aufhältst, und daß er Dich so über kurz oder lang erreicht. Ich habe Dir mittlerweile drei Briefe geschrieben, die alle ohne Antwort geblieben sind. Vielleicht hast Du sie nicht erhalten. Vielleicht möchtest Du mir nicht antworten. Ich werde dennoch versuchen, an der Hoffnung festzuhalten, daß Du am Leben und bei guter Gesundheit bist und mir antworten könntest, wenn Du nur wolltest.
Vier Monate sind vergangen, seit ich Dich das letzte Mal gesehen habe. Wie gut ich mich an den Tag erinnere. Ich sehe noch Mr. Johnson vor mir, wie er dich von der Kanzel herab verdammte, während Du stolz und aufrecht in der Kirche saßest und mit keiner Miene verrietst, wie sehr die Verletzungen schmerzten. Und als ich Dich später am selben Nachmittag beschwor, Dein Schweigen zu brechen und Dich zu verteidigen, sagtest du nicht ein einziges Wort zu mir, sondern gingst daran, deine Koffer zu packen. Ich werde niemals verstehen, warum Du es schweigend hinnahmst, daß diese Stadt Dich an den Pranger stellte, obwohl doch Menschen dawaren, die an Dich glaubten. Ich weiß nicht, ob Du getan hast, was man Dir vorwirft, und ich würde mir niemals anmaßen, ein Urteil über Dich zu fällen. Aber ich weiß eines — an dem Tag, an dem Du aus Warrington fortgingst, ist etwas in mir gestorben.
Ich möchte, daß Du zurückkommst, Victor. Oder daß Du mich zu Dir kommen läßt, ganz gleich, wo Du bist. Warum willst Du nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die Dich lieben und Deine Abwesenheit nicht ertragen können?
John ist nicht zurückgekehrt und hat auch niemals geschrieben. Ich fürchte, ich werde nie wieder von ihm hören. Wo immer Dein Bruder auch sein mag, vielleicht ist er dort glücklicher. Ich frage mich, ob Du es auch bist.«
Jennifer hörte plötzlich zu schreiben auf, packte das Blatt mit einer raschen, zornigen
Bewegung, zerknüllte es in ihrer Hand und warf es ins Feuer. Dann schlug sie beide Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen.
Ich war ihr so nahe, daß ich den Duft ihres Rosenwassers riechen konnte. Ihre schmalen Schultern zitterten, Sie dauerte mich so sehr, daß ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Ich besaß das Wissen, das sie trösten konnte; ich wußte, daß Victor zurückkehren würde. Aber wie konnte ich ihr das mitteilen?
Ich versuchte es wieder.
Ich holte tief Atem, um mir Mut zu machen, und sagte dann in ruhigem Ton:»Jennifer.«
Mit einem Ruck hob sie den Kopf und kniff die Augen zusammen, als versuche sie, mich zu sehen.
«Jenny«, sagte ich, ohne mich von der Stelle zu rühren. Mein Herz klopfte wie rasend. Jetzt war es soweit! Das war der Moment des Durchbruchs.»Jenny, du brauchst nicht zu weinen. Er wird zurückkommen. Victor wird zurückkommen. «Sie hielt einen Moment den Atem an.»Wer — wer bist du?«Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden vor Anstrengung und Spannung.»Eine Freundin.«
«Du kommst mir bekannt vor…«
«Er kommt zurück, Jenny…«Doch noch während ich mit Jennifer sprach, verschwand sie mir aus den Augen. Ich glitt von der Couch und blieb wie betäubt auf dem Boden liegen. Das Zimmer drehte sich in schwankenden Kreisen um mich, der Boden hob sich, und die Zimmerdecke senkte sich herab. Die Wände kamen mir entgegen und wichen wieder zurück. Ich krallte meine Finger in den dünnen Teppich, um nicht ins Leere zu stürzen. Ich spürte, wie der Boden unter mir sich öffnete, und ein Gefühl überkam mich, als treibe ich im freien Raum.
Als das Zimmer wieder ruhig wurde und ich wieder festen Boden unter mir fühlte, stand ich stöhnend auf. Ich war so matt, daß diese einfache Handlung meine ganze Kraft und Konzentration in Anspruch nahm, und als ich mich endlich hochgerappelt hatte, schaffte ich es nicht, aufrecht stehenzubleiben. Ich taumelte so stark, daß ich mich sofort wieder in das Sofa fallen ließ.
Mein ganzer Körper war schweißgebadet. Das T-Shirt lag naß auf meiner Haut, mein feuchtes Haar klebte mir im Nacken. Und ich fühlte mich am ganzen Körper krank und elend. Ich hatte, wenn auch nur einen flüchtigen Moment lang, die Zeitbrücke überschritten.
Jennifer hatte mich gesehen, hatte zu mir gesprochen. Sie mußte mich einen Augenblick lang in aller Deutlichkeit wahrgenommen haben, denn sie hatte ja geglaubt, mich zu kennen. Lag es an der Familienähnlichkeit? Oder hatte es einen anderen Grund? Langsam wurde mir die Tragweite dessen, was geschehen war, voll bewußt. Ich hatte die Kluft zwischen den Zeiten überwunden. Einen Herzschlag lang war ich in der Welt des Jahres 1894 gewesen.
Ich wußte jetzt mit Gewißheit, daß meine nächste Begegnung länger dauern, intensiver sein würde. Ich würde mit ihnen sprechen, sie berühren — und was noch? Und mit wem? Victor? Wäre ich nicht körperlich so geschwächt gewesen, so wäre ich vielleicht auf den Gedanken gekommen, mich zu fürchten. So aber, erschöpft und ausgelaugt wie ich war, konnte ich nur immer über das Phänomen nachdenken, dem ich mich jetzt gegenübersah. Es gab jetzt für mich keinen Zweifel mehr daran, daß meine Reisen in die Vergangenheit einen ganz bestimmten Sinn hatten. Es hatte seinen guten Grund, daß ich in die Vergangenheit geholt wurde.
Aber was für ein Grund war das?
Ich streckte mich auf der Couch aus und ließ in der linden Wärme des Zimmern meine Haut und meine Kleider trocknen. Nebelhaft noch begann sich eine Vorstellung in meinem Hirn zu bilden. Es hatte etwas mit Veränderung zu tun.
Schon einmal hatte ich die Zeitkluft überwunden und hatte den Ablauf der Ereignisse im Jahr 1894 unterbrochen. Ich hatte Jennifer aus ihrer Traurigkeit gerissen und ihr gesagt, daß Victor zurückkehren würde.
Was würde ich das nächste Mal tun? Was würde ich zu dem nächsten toten Townsend sagen, mit dem ich zusammentreffen würde?
Natürlich. Das war es. Das war der Sinn. Das war der Zweck, den ich zu erfüllen hatte.
Ich konnte zurückgehen in der Zeit und die Geschichte verändern.
Schon hatte ich den ersten kleinen Schritt in dieser Richtung getan. Ich hatte Jennifer getröstet und ihr gesagt, daß sie Victor wiedersehen würde. Hätte ich es nicht getan, so hätte sie weiter getrauert und geweint, wäre todunglücklich gewesen, bis zu dem Tag seiner Rückkehr. So aber, dessen war ich sicher, saß sie jetzt, in diesem Moment, an einem Juliabend des Jahres 1894 in ihrem Wohnzimmer und machte sich Gedanken über die Prophezeiung, die sie aus dem Mund einer geisterhaften Erscheinung gehört hatte. Und zweifellos hatte sie jetzt wieder einen Funken Hoffnung, der ihr versagt geblieben war, hätte ich nicht eingegriffen.
Was also würde dann als Nächstes kommen? Was würde ich bei der nächsten Begegnung mit einem Mitglied der Familie Townsend sagen oder tun?
Eines fiel mir auf und irritierte mich: Ich hatte keine Entscheidungsfreiheit darüber, ob und wann ich rückwärts reisen wollte; ich konnte nicht einmal aus eigener freier Wahl dieses Haus verlassen. Dennoch war es mir überlassen, mit meinen Vorfahren Verbindung aufzunehmen oder nicht. Ich war nicht gezwungen worden, jene Worte zu Jennifer zu sprechen. Ich hatte sie aus freiem Willen gesprochen. Die Entscheidung, einzugreifen oder nicht, lag offenbar ganz bei mir.
Aber welchen Zweck, welche Aufgabe sollte ich dann erfüllen? Warum war ich auserkoren worden, in die Vergangenheit zurückzukehren, wenn es dann ganz mir überlassen blieb, ob ich in die Ereignisse eintrat oder an ihrer Peripherie verharrte? Und wozu eingreifen? Warum sollte mir überhaupt der Gedanke kommen einzugreifen?
Das hatte doch nur einen Sinn, wenn es einem guten Zweck diente.
Plötzlich hatte ich die Antwort.
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