Aber wozu? Aus welchem Grund? Sollte ich in diesem Drama der Vergangenheit eine aktive Rolle spielen? War ich dazu bestimmt, irgendwie einzugreifen?

Das mußte es sein. Eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Aus irgendeinem Grund war ich auserkoren worden, im Familiendrama der Townsends eine Rolle zu übernehmen. Während ich mich mit Fragen herumschlug, auf die ich bei mir keine Antworten finden konnte, rannte ich im Wohnzimmer umher wie in Raserei. Ich war enttäuscht über meinen Mangel an Wissen und Verständnis, zornig, daß ich nicht klar und deutlich erkennen konnte, worauf alles hinauslief.

Ich ging in die Küche, schenkte mir ein großes Glas von Großmutters Kirschlikör ein und kippte es hinunter. Es war nur ein leichter Likör, der mir nicht die erwünschte Entspannung brachte, aber es war immerhin etwas.

Als ich die Küchentür hinter mir schloß und die Polsterrolle wieder an ihren Platz schob, schoß mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, bei dem mir glühend heiß wurde. Wenn es mir soeben gelungen war, die Kluft zu Harriet zu überbrücken, und wenn diese Kluft, wie ich fest glaubte, mit der Zeit schrumpfen würde, bedeutete das dann nicht, daß ich bald auch mit Victor Townsend würde Kontakt aufnehmen können?

Ich ließ mich erregt aufs Sofa fallen. Mich Victor zeigen! Mit. ihm sprechen! Unvorstellbar!

Aber wieso unvorstellbar, da ich doch genau diese Vorstellung im Fall von Harriet und Jennifer ohne Schwierigkeiten akzeptieren konnte? Wieso war da eine Verbindung zu ihm für mich undenkbar?

Weil es nicht sein darf, kam die angsterfüllte Antwort aus meinem Innern. Du darfst dich ihm nicht zeigen. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Ich hatte die Berührung von Jennifers Hand an meinem Fuß gespürt. Ich hatte Harriet angesprochen und war gehört worden. Wie würde der nächste Schritt aussehen? Würde ich plötzlich mitten unter ihnen sichtbare Gestalt annehmen, mit Victor sprechen, seine Berührung fühlen.

«Es ist jetzt schon zwei Monate her«, sagte jemand ganz in meiner Nähe.

Ich hob mit einem Ruck den Kopf. Jennifer und Harriet saßen in den Sesseln vor dem

Feuer.

«Wir hätten doch wenigstens einen Brief bekommen müssen oder irgendein anderes Lebenszeichen«, sagte Harriet.»John ist jetzt genau zwei Monate fort.«

Jennifer war so verändert, daß ich erschrak. Ihre strahlende Schönheit war von einer tiefen Schwermut überschattet, die ihr Gesicht bleich machte und zu beiden Seiten ihres Mundes tiefe Linien eingegraben hatte. Ihre Schultern waren gebeugt, als trüge sie eine schwere Last, und ihr Haar war nachlässig frisiert. Sie wirkte um Jahre gealtert, und doch waren seit Johns Flucht erst zwei Monate vergangen.

Harriet, die an einem Taschentuch stickte, trug ein Spitzenhäubchen auf dem Kopf, das ihr kurz geschnittenes Haar ganz verbarg. Die beiden jungen Frauen wirkten niedergeschlagen und unfroh.

«Vielleicht«, meinte Jennifer, deren schmale Hände untätig auf den Sessellehnen lagen,»ist er an einem Ort, von wo er keine Briefe absenden kann. Oder vielleicht ist er auch sehr weit weg, und die Briefe, die er geschrieben hat, sind verlorengegangen.«

«Er hätte telegrafieren können.«

«Wer weiß, wo er ist, Harriet. Vielleicht befindet er sich schon auf der Rückreise und möchte uns überraschen. «Harriet schüttelte den Kopf.»Ich verstehe nicht, wie Victor das tun konnte. Wie er seinem eigenen Bruder so etwas antun konnte.«

«Keiner von uns ist ganz ohne Tadel, Harriet. «Ich versuchte, mich ihren Gedanken und Gefühlen zu öffnen, um das Unausgesprochene zu erfahren. Aber das einzige, was ich empfing, war eine einfache Botschaft von Jennifer: Ich habe Victor seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen. Das also war der Grund für ihre Veränderung, für den apathischen Blick, mit dem sie ins Feuer starrte. Es war so still im Zimmer, daß jeder Nadelstich Harriets in dem straff gespannten Leinen des Taschentuchs zu hören war.

Ich wünschte mir, ich hätte in diesem Augenblick mit Jennifer sprechen können, mit ihr allein, ohne Harriet. Ich hätte ihr so gern gesagt, daß Victor zurückkommen würde, daß ihre gemeinsame Zeit noch nicht um war.

Im Geist hörte ich Großmutters Worte: Victor kam eines Abends betrunken nach Hause und zwang sie.

Ja, dachte ich traurig, deine Zeit mit Victor ist noch nicht um.»Ich glaube, Victor ist völlig verbittert, seit er den Posten in Edinburgh ausgeschlagen hat«, bemerkte Harriet.»Er war ja wie verwandelt, als er nach Hause kam, nicht wahr? Und er ist nie mehr der alte geworden. Das ist jetzt zwei Jahre her, aber ich erinnere mich an den Abend, als wäre es gestern gewesen. Wie schockiert er war, als er von deiner Heirat mit John hörte! Und wie er Hals über

Kopf hinausstürmte und sich im Horse's Head einmietete. Ich habe nie verstanden, warum er Vater nachgegeben hat und hierher zurückgekommen ist. Es war doch abgemacht, daß er den Posten in Schottland übernehmen würde. Und dann tauchte er plötzlich hier auf.«

«Manchmal ändert man eben seine Pläne.«

«Ja, das ist wahr. Und vielleicht hat John auch seine Pläne geändert. Was ist, wenn er nicht mehr nach Hause kommt? Was wirst du dann tun?«

Jennifer zuckte die Achseln. Es war unwichtig. Ohne Victor war alles unwichtig.

Der ätzende Unterton in Harriets Stimme beunruhigte mich. In den drei Monaten, seit sie ihr Kind verloren hatte, schien Harriet bitter und hart geworden zu sein. Die abwertende Art, wie sie von Victor gesprochen hatte, gab mir Anlaß zu der Frage, ob nicht er derjenige gewesen war, der ihr zur Strafe das schöne Haar abgeschnitten hatte. Ich hatte noch die Worte im Ohr, die sie im Salon zu sich selbst gesprochen hatte.»Er hat dich bestraft, weil du es gesagt hast. Sein gutes Ansehen ist ruiniert. Er wußte nicht, wie er sonst seinen Zorn und seine Wut an dir auslassen sollte.«

Ich schüttelte die Erinnerung ab. Mochten die anderen ihn verdammen, ich konnte nicht glauben, daß Victor der schlechte und gemeine Mensch war, als den seine Nachkommen ihn hinstellten. Wie Großmutter ihn beschimpft hatte! Ihm allein hatte sie die Schuld an der Tragädie dieser Familie gegeben. Aber Victor war so sehr Opfer wie die anderen und gewiß nicht der allein Verantwortliche.

Mein Kopf begann zu schmerzen. Ich rieb mir die Augen und kämpfte gegen das Gefühl, daß an dem, was alle behaupteten, vielleicht doch etwas Wahres sein könnte. Großmutter hatte ihre Geschichten nur aus zweiter und dritter Hand, aber hier sprachen die, welche ihm am nächsten gewesen waren. Was war in diesen letzten drei Monaten wirklich geschehen?

Als ich meine Hände von den Augen nahm, sah ich, daß Jennifer und Harriet mich verlassen hatten. Ich war wieder allein in dem tristen kleinen Wohnzimmer, mein Kopf schmerzte zum Zerspringen, und mein ganzer Körper schrie nach Schlaf. Ich blickte trostlos auf das regenasse Fenster. Wie lange würde ich noch die Gefangene dieses Hauses und seiner Vergangenheit bleiben?

Zuerst glaubte ich, das Dröhnen sei in meinem Kopf, aber als ich die Augen öffnete und das wäßrig graue Morgenlicht durch die Scheiben sickern sah, erkannte ich, daß es von Großmutter kam, die oben mit ihrem Stock auf den Boden klopfte. Ich stand aus dem Sofa auf und versuchte, mich aus den Nebeln des Schlafs zu befreien. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, daß es fast acht war. Ich hatte anscheinend den größten Teil der Nacht geschlafen, aber ich fühlte mich wie gerädert. Ich war so schlapp und kraftlos, daß ich die Treppe hinaufkeuchte wie eine uralte Frau. Wie schaffte Großmutter das nur? Als ich in ihr Zimmer kam, saß sie schon aufrecht in ihren Kissen, und sie war es, nicht ich, die rief:»O mein Gott, du siehst ja schrecklich aus!«

«Wie fühlst du dich heute morgen, Großmutter?«

«Die Arthritis hat mich immer noch in ihren Fängen, Kind. Aber der Regen kann ja nicht ewig anhalten. Im Radio haben sie wenigstens gesagt, daß es heute abend besser wird. Dann bekommen wir vielleicht ein bißchen Sonne. Elsie und William werden sicher vorbeikommen, wenn der Regen nachläßt. Dein Großvater hat ja jetzt schon ein paar Tage keinen Besuch mehr gehabt. Wir dürfen ihn nicht beunruhigen.«

«Kannst du nicht aufstehen, Großmutter?«

«Andrea, was ist mit deinen Augen?«

«Ich weiß nicht. Warum?«

«Schau dich doch nur mal an. «Ich ging zum Toilettentisch und warf einen scharfen Blick in den Spiegel. Meine Augen waren so rot und verschwollen, als hätte ich einen Boxkampf hinter mir.

«Und wie blaß du bist. Du siehst richtig ausgelaugt aus. Ja, völlig ausgelaugt. Als hätte dir jemand das ganze Blut aus den Adern gesogen. Wie fühlst du dich denn?«

«Ach, ganz gut. Nur müde bin ich.«

«Ich glaube, für dich ist es das Beste, wenn du bald wieder nach Hause fliegst. Wenn dieses schlechte Wetter vorbei ist, gehst du ins Reisebüro und buchst einen Flug.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln.»Das klingt, als wolltest du mich loswerden.«

«Unsinn! Aber ich mache mir Sorgen um dich, Kind. «Meine Großmutter sah mich so ernst und durchdringend an, daß ich mich abwenden mußte. Tief im Innern spürte ich die Veränderung, die sich vollzog. Ich wußte, daß mir etwas fehlte, aber ich hatte zu große Angst, es mir einzugestehen. Wenn ich es einfach ignorieren, darüber hinweggehen, so tun konnte, als wäre es nicht da… Doch Großmutters tiefe Besorgnis machte mir auf unangenehme Weise bewußt, daß mit mir etwas nicht in Ordnung war.»Ich mache dir eine Tasse Tee, Großmutter. Und Toast dazu?«

«Ach, das ist lieb von dir. Obwohl es mir weiß Gott nicht recht ist, mich von dir bedienen zu lassen. Aber wer hätte gedacht, daß solches Regenwetter kommt, hm? Laß dir Zeit, Kind, und sag's mir, wenn das Wetter besser wird. Du weißt, sobald es ein bißchen heller wird, werden Elsie und William kommen. «Ich spürte ihren scharfen Blick im Rücken, als ich zur Tür hinausging. Im Flur, wo sie mich nicht mehr sehen konnte, lehnte ich mich an die Wand und holte mehrmals tief Atem. Ich fühlte mich so schwach wie kurz vor einem Zusammenbruch. Es war eine Kleinigkeit, den Tee zu kochen und den Toast zu machen, solange ich nur durch den Mund atmete und darauf achtete, daß der Geruch nicht in meine Nase drang. Wenn das doch geschah, bekam ich sofort heftigen Brechreiz und mußte schleunigst aus der Küche stürzen. Als ich schließlich mit einem einigermaßen appetitlich gerichteten Tablett zu meiner Großmutter ins Zimmer trat, sah sie sich ihr Frühstück erfreut an und fragte:»Wo ist denn deins?«