An diesem Tag hatte man auf dem Dorfplatz, vor der Kirchentür, einen von einem Baldachin in den Farben der Familie geschützten Herrenstand errichtet, und nach der von Abt Bernard zelebrierten feierlichen Messe ließen Michel und seine Mutter sich dort nieder, um die Huldigung ihrer Lehnsleute entgegenzunehmen, die für diese Gelegenheit ihre schönsten Kleider angezogen hatten. Saturnin, in feinem braunem Tuch, eine Silberkette um den Hals, hatte auf einem Kissen die Weizenähren der Felder und die Trauben der Weinspaliere dargereicht. Er hatte eine schöne Rede gehalten, vielleicht etwas zu breit, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, die aber dennoch jedermann für vortrefflich hielt; dann waren nacheinander alle Bewohner von Montsalvy, alle Bauern der umliegenden Höfe vor der Herrenbank vorbeigezogen und hatten Michel das Händchen geküßt. Das Kind lachte vor Freude, glücklich über den schönen weißen Samtanzug, den Sara ihm zurechtgeschneidert hatte, sich aber sichtlich viel mehr für die Kette aus Gold und Topasen interessierend, die seine Mutter ihm um den Hals gelegt hatte. Die Zeremonie war, um die Wahrheit zu sagen, für einen kleinen Herrn, der noch nicht zwei Jahre alt war, ein wenig lang. Aber die Tänze der Schäfer und die Zweikämpfe, die sie sich darauf mit bloßen Händen lieferten, entfesselten seine Begeisterung. Trotz aller Bemühungen Cathérines, ihn halbwegs still zu halten, kletterte Michel auf seinen Armstuhl und zappelte wie ein kleiner Teufel in einem Weihwasserkessel. Ganz in seiner Nähe lag seine Großmutter, die man auf einer Trage hergebracht und unter ein Zeltdach gestellt hatte, damit sie bei dem Fest anwesend sein konnte, und betrachtete ihn bewundernd …
Der Tag endete mit einem großen Freudenfeuer, das von Michel persönlich auf der Ebene angezündet worden war. Natürlich hatte ihm Cathérine das Händchen geführt. Während sodann Jungen und Mädchen auf dem noch grünen Gras muntere Reigen tanzten, brachte man den erschöpften neuen Herrn zu Bett, der übrigens, den blonden Kopf an Saras Schulter gekuschelt, schon schlief.
Die ganze Nacht hörte Cathérine ihre Leibeigenen singen und tanzen, glücklich über ihre Freude, die ihr großes Leid offenbar nicht trüben konnte. Sie hatte sich während des Tages bemüht, ihre tiefe Trauer zu verbergen, um ihnen nicht zu zeigen, wie grausam sie dieses Fest berührte. Der Herrschaftsantritt Michels stieß seinen Vater in die Vergangenheit zurück, diesen Vater, von dem seit anderthalb Monaten niemand mehr etwas wußte …
Doch am anderen Morgen wurden die guten Leute von Montsalvy, die sich in ihrer Freude und Lebenslust sehr spät schlafen gelegt hatten, vom schauerlichen Geläut der Totenglocke geweckt und erfuhren so, daß ihre alte Burgfrau verschieden war.
Als Sara am Morgen ihr eine Schale Milch bringen wollte, fand sie sie tot in ihrem Bett. Isabelle lag ausgestreckt da, die Augen geschlossen, die Hände über dem Rosenkranz gefaltet, und ein Sonnenstrahl, der über ihren blassen Händen flimmerte, ließ den Smaragd der Königin Yolande funkeln. Zuerst war Sara einen Augenblick auf der Schwelle der Kammer stehengeblieben, verblüfft über die außergewöhnliche Schönheit der Toten. Die verwüstenden Spuren der Krankheit waren verschwunden, und das Gesicht, wie Milch und Blut, wirkte entspannt und unendlich viel jünger als am Abend zuvor. Ihr weißes Haar umrahmte es mit zwei dicken Zöpfen, und ihre Ähnlichkeit mit ihren Söhnen war wieder auffallend.
Sara hatte sich bekreuzigt, dann war sie, die Schale Milch an der Tür abstellend, bei Cathérine eingetreten, die erst am frühen Morgen eingeschlafen war. Sie hatte sie sanft gerüttelt, und als die junge Frau sich mit einem nervösen Zucken aufgerichtet hatte und sie mit der verstörten Miene jemandes, den man brüsk weckt, ansah, hatte sie gemurmelt:
»Dame Isabelle hat aufgehört zu leiden, Cathérine … Du mußt aufstehen! Ich werde den Abt benachrichtigen. Wecke inzwischen Michel im Zimmer nebenan, und übergib ihn Donatienne. Der Tod ist kein Anblick für ein Kind!«
Cathérine hatte gehorcht wie eine Schlafwandlerin. Seit ihrer Rückkehr erwartete sie dieses Ende. Sie wußte, daß die alte Dame es als Erlösung herbeisehnte, und ihre Vernunft flüsterte ihr ein, daß sie nicht betrübt zu sein brauchte, wenn Isabelle endlich Frieden gefunden hatte. Doch die Vernunft vermochte nichts gegen den plötzlichen Schmerz, der sie durchdrang … Sie entdeckte, daß Isabelles Anwesenheit ihr viel kostbarer gewesen war, als sie glaubte. Solange die Mutter Arnauds gelebt hatte, hatte Cathérine jemand gehabt, mit dem sie über ihn sprechen konnte, jemand, der ihn besser kannte als sie selbst, dessen Erinnerungen unerschöpflich waren. Und nun, da auch diese sanfte Stimme verstummt war, wurde die Einsamkeit der Hinterbliebenen noch größer … Arnaud war verschwunden, Gauthier hatte sich seit einem Monat ins Unbekannte gestürzt und jetzt … Isabelle …
Nachdem sie einen Augenblick später mit Saras Hilfe der Verstorbenen das letzte Kleid angelegt hatte, blieben beide am Fußende des Bettes stehen, auf dem sie ruhte, in das fromme Gewand der Klarissen gekleidet, denn Isabelle hatte vor langer Zeit den Wunsch geäußert, darin ihren letzten Schlaf zu schlafen. Die Strenge der weiten schwarzen Gewänder verlieh ihr eine außerordentliche Majestät, und unter ihren bläulichen Lidern schienen die Augen sich gleich öffnen zu wollen.
Ganz sanft hatte Cathérine vom Finger Isabelles den gravierten Smaragd gestreift, dessen profane Herrlichkeit mit dem klösterlichen Kleid nicht zu vereinbaren war. Dann hatte sie mit Sara die Tote lange betrachtet, ehe sie zu den ersten Gebeten niederknieten, genau in dem Augenblick, in dem der Abt eintrat, von zwei Geistlichen begleitet, die das Weihrauchfaß und den Weihwasserkessel trugen.
Die darauffolgenden drei Tage vergingen der jungen Frau wie ein schauerlicher Traum. Die Leiche wurde im Chor der Kirche aufgebahrt und von zwei Mönchen bewacht. Cathérine, Sara und Donatienne lösten sich auf dem Kissen zu Füßen des Katafalkes ab. Für Cathérine hatten diese Stunden der Wache in der stillen Kirche etwas Unwirkliches. Die Mönche, die neben der Bahre standen, die Kapuzen tief ins Gesicht herabgezogen und die Hände in ihren weiten Ärmeln vergraben, kamen Cathérine wie Geister vor, und das zitternde Licht der dicken gelben Wachskerzen verlieh ihrer Unbeweglichkeit etwas Erschreckendes. Um dem Schrecken zu entrinnen, den sie empfand, zwang sich Cathérine zu beten, aber die Worte wollten nicht kommen … Sie wußte nicht mehr, wie sie sich an Gott wenden sollte. Sie fand es viel leichter, sich ganz einfach an die Verstorbene zu wenden.
»Mutter«, flüsterte sie ganz leise, »da, wo Ihr jetzt weilt, muß alles viel einfacher, viel leichter sein! … Helft mir! … Macht, daß er wiederkommt oder daß er wenigstens erfährt, daß ich nie aufgehört habe, ihn zu lieben! Mich verzehrt mein Kummer!«
Aber das wächserne Gesicht blieb unbeweglich, und das halbe Lächeln der geschlossenen Lippen hütete sein Geheimnis. Cathérines Herz wurde immer schwerer, je mehr die Zeit verging.
Am Abend des dritten Tages wurde die Leiche Isabelle de Ventadours, Dame von Montsalvy, in Anwesenheit der ganzen Bevölkerung ins Grab hinabgelassen. Hinter dem hölzernen Gitter ihrer Einzäunung sangen die kräftigen Stimmen der Mönche der Abtei das Miserere. Und unter ihren Trauerschleiern, die an diesem Abend eine neue und doppelte Bedeutung annahmen, sah Cathérine unter den Steinfliesen der Kirche die zerbrechliche Gestalt derjenigen verschwinden, die vor fünfunddreißig Jahren dem Mann das Leben geschenkt hatte, den sie anbetete …
Beim Verlassen der geweihten Stätte kreuzte sich der Blick der jungen Frau mit dem des Abtes, der die Totenmesse gelesen hatte. Sie sah in ihm gleichermaßen eine Frage und eine Bitte, wandte aber den Kopf ab, als wollte sie einer Antwort ausweichen. Wozu? Der Tod Isabelles befreite sie nicht. Die kleinen Hände Michels hielten sie fest an ihrem Platz. Und sie hatte keinen Grund, ihn zu verlassen, nachdem Gauthier sich zur Verfolgung Arnauds aufgemacht hatte. Solange er ihr keine Nachricht gab, mußte sie hierbleiben und warten … warten!
Der Herbst ließ das Gebirge in allen seinen Gold- und Purpurfarben leuchten. Die Umgebung Montsalvys bedeckte sich mit gelbroter Pracht, während am Himmel die niedrighängenden Wolken immer grauer wurden und die Schwalben in schnellen, schwarzen Zügen gen Süden flogen. Cathérine folgte ihnen mit den Blicken von der Höhe der Klostertürme aus, bis sie verschwunden waren. Doch bei jedem über ihrem Kopf dahinziehenden Schwarm fühlte sich die junge Frau etwas trauriger, ein wenig entmutigter. Sie beneidete von ganzem Herzen die sorglosen Vögel, begierig nur nach der Sonne, die in die Länder zogen, in die sie ihnen so gern gefolgt wäre!
Nie waren die Tage so langsam, so eintönig vergangen. Jeden Nachmittag, wenn das Wetter es erlaubte, ging Cathérine mit Sara und Michel zum Südportal, wo Mönche und Bauern mit der Ausschachtung des Unterbaues für das neue Schloß begonnen hatten. Auf den Rat des Abtes hatte man beschlossen, die Festung, wo sie früher stand, an den Abhängen des Berges Arbre, nicht wieder aufzubauen, sondern dicht an dem Portal von Montsalvy, wo Schloß und Dorf sich gegenseitig die wirksamste Hilfe geben könnten. Die Verwüstungen durch den alten Praktikus Valette waren noch allen in nachdrücklicher Erinnerung.
Die beiden Frauen und das Kind verbrachten immer ein Weilchen auf der Baustelle und gingen dann weiter, um den Holzhauern bei der Arbeit zuzusehen. Tatsächlich mußte man, nachdem die englische Bedrohung nachließ, im Wald das Land zurückerobern, das man in den Zeiten der großen Not hatte verwildern lassen. Das Unterholz, das so viele Male als Zuflucht gedient hatte, war hochgeschossen und fast undurchdringlich. Man mußte es roden, um Weizen oder Viehfutter zu säen. Aber die Augen Cathérines schweiften immer über die Reihe der dunklen Bäume hinweg, in die weiten blauen Fernen, durch die Arnaud gekommen sein mußte. Dann, die kleine Hand Michels fest in der ihren haltend, ging sie langsamen Schrittes wieder ins Haus zurück.
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