Angélique verhielt sich so still wie möglich und veranlaßte auch Honorine dazu.
Das kleine Mädchen schien zu begreifen, daß die Brücke eines Schiffs in der Stunde der Gefahr kein Platz für Frauen und Kinder war, aber um nichts auf der Welt hätte es woanders sein mögen.
Die Gouldsboro glitt mit größerer Sicherheit vorwärts.
»Und wenn uns nun das Fort von Grand Sablonceaux beschießt?« fragte Le Gall, indem er einen Blick zur äußersten Spitze der Ile de Ré hinüberwarf, auf der die Umrisse der Festung zu erkennen waren. »Wie’s Gott gefällt«, antwortete der Rescator.
Der Horizont verlor seine durchsichtige Klarheit. Mit der Hitze des aufsteigenden Tages erhob sich goldener Dunst, der die Ufer verschleierte.
Eine Stimme drang vom Mastkorb herunter:
»Kriegsschiff voraus! Mit Kurs auf uns!«
Kapitän Jason stieß einen Fluch aus. Seine Stimme klang entmutigt.
»Wir sitzen im Loch wie die Ratten!«
»Damit war zu rechnen«, sagte der Rescator, als spräche er von der natürlichsten Sache der Welt. »Gebt Befehl, die Geschwindigkeit zu verringern .«
»Warum?«
»Um mir den Vorteil der Überlegung zu gönnen.«
Das Kriegsschiff, das bis dahin außerhalb ihres Gesichtsfeldes geblieben war, erschien hinter der Landspitze von Sablonceaux. Seine entfalteten Segel hoben sich kreidig weiß vom diesigen Himmel ab. Da es den Wind im Rücken hatte, kam es rasch voran.
Der Rescator legte eine Hand auf die Schulter Corentin Le Galls.
»Die Flut beginnt zu fallen. Sagt, Monsieur, wenn die Durchfahrt bereits für uns schwierig wird, ist sie dann nicht unendlich gefährlicher für einen Gegner von größerer Tonnage, der sich auf uns zubewegt?«
Angéliques Blick fiel auf die Hand, die locker die Schulter des Seemanns umspannte. Eine zugleich muskulöse und rassige Hand, an deren Ringfinger ein schwerer Reif aus verziertem Silber saß. Sie fühlte sich erbleichen.
Sie kannte diese nackte Hand mit dem kraftvollen und doch zarten Gelenk. Wo hatte sie sie schon einmal gesehen? Zweifellos in Kandia, wo er den Handschuh abgestreift hatte, um sie zu einem Diwan zu führen. Aber es war nicht nur das. Sie erkannte sie wie etwas unendlich Vertrautes wieder, und es schien ihr, als ob das Nahen ihrer letzten Stunde ihre Sinne verwirre. Jenes Schicksal, das Osman Ferradji in den Sternen gelesen hatte - sollte sie sich in dramatischer Verkürzung seiner bewußt werden, während der Tod sich ihr näherte?
Doch gleichzeitig wußte sie auch, daß sie nicht sterben würde. Weil der Rescator es war, der ihr Geschick in seiner Hand hielt. Dieser rätselhaften Persönlichkeit haftete etwas von der Unverletzlichkeit des antiken Helden an. Mit kindlicher, närrischer Unbedingtheit glaubte sie daran, und bisher hatte sie sich in diesem unglaublichen Unternehmen nicht darin getäuscht.
Das Gesicht des Lotsen hellte sich auf.
»Wahrhaftig!« rief er aus. »Ihr habt tausendmal recht, Monsieur! Sie müssen verteufelt drauf aus sein, Euch zu erwischen, wenn sie sich um diese Stunde bis in den Kanal vorwagen. Bestimmt haben sie einen unserer guten Lotsen an Bord, aber ihre Position ist kitzlig.«
»Wir werden sie noch kitzliger für sie machen ... Und außerdem werden sie uns als Schild dienen, für den Fall, daß sich das Fort einmischen sollte. Ich werde sie zwingen, sich zwischen ihm und uns zu placieren ... Vorwärts! Bereitet Euch zum Kampf vor!«
Und während sich die Marsgäste in die Takelung stürzten, spritzte der Rest der Mannschaft aus der Back, wo er sich bis dahin aufgehalten hatte, Beile und Entersäbel wurden verteilt, und die Planen, die die Feldschlangen verbargen, wurden abgezogen.
Jeder hastete auf seinen Posten.
Mit Musketen bewaffnete Matrosen kletterten in die Körbe der drei Masten und hißten Kästen mit Granaten hinauf, die dazu bestimmt waren, aufs feindliche Deck geworfen zu werden.
»Sand auf die Decks?« fragte der zweite Offizier.
»Ich glaube nicht, daß es soweit kommen wird«, erwiderte der Rescator, das Auge fest ans Fernrohr gepreßt.
Und er wiederholte, unter seiner Maske ironisch lächelnd: »Sand auf die Decks ... Pah!« Angélique erinnerte sich dieser letzten, äußersten Vorbereitung aus dem Mittelmeer. Man bestreute die Deckplanken mit Sand, um zu verhindern, daß die nackten Füße der überlebenden Kämpfer im verströmten Blut ausglitten.
»Sie werden kentern, bevor sie uns einen einzigen Enterhaken zuwerfen können«, setzte der Pirat achselzuckend hinzu.
Er schien seiner Sache so sicher, daß während der folgenden Minuten, in denen sich die beiden Schiffe unausweichlich einander näherten, die Spannung nachließ. Übrigens war sehr schnell festzustellen, daß sich das Kriegsschiff in einer üblen Lage befand. Infolge des Gewichts seiner vierzig Kanonen und der Unklugheit, alle Segel zu setzen, vermochte es kaum seinen Kurs zu halten. Die Wellen trieben es gegen das Ufer.
»Und wenn es uns beschießt?« fragte Le Gall.
»Dieses Monstrum? . Es sitzt viel zu tief in der Tinte, um sich in Schußposition zu manövrieren. Und wir kehren ihm außerdem den Bugspriet zu. Das Ziel ist zu klein.«
Unerschrocken bewegte sich die Gouldsboro weiter voran. Das Kriegsschiff kämpfte mehr und mehr, um sich flott zu halten. Unwiderstehlich gegen die Felsen gedrängt, neigte es sich plötzlich, und ein dumpfes Krachen drang herüber.
»Gekentert!« schrie die Besatzung der Deckskajüte der Gouldsboro.
Die Matrosen schwenkten ihre Mützen und brachen in wildes Freudengeheul aus.
»Nehmen wir uns in acht, daß es uns nicht ebenso geht«, empfahl der Rescator. »Das Meer fällt gefährlich.«
Und er schickte Leute mit Meßruten zur Back.
Seinen Kurs verfolgend, glitt das Piratenschiff an seinem ohnmächtigen Gegner vorbei, von dem Beschimpfungen und Flüche zu ihnen herüberschallten.
»Schicken wir ihnen eine Salve?« fragte Kapitän Jason. »Wir sind in guter Position.«
»Nein! Es hat keinen Sinn, allzu böse Erinnerungen hinter uns zu lassen. Ganz abgesehen davon, daß wir uns noch nicht aus der Affäre gezogen haben.«
Auch Angélique dachte daran, daß andere Schiffe auftauchen und ihnen den Weg verlegen könnten. Aber es glückte ihnen, den Kanal ohne Gefährdung zu passieren und in die bretonische Enge einzulaufen.
Le Gall straffte sich, die Hände auf der Ruderpinne.
»Das Schwierigste liegt hinter uns, Monsieur. Ich würde vorschlagen, alle Segel zu setzen und der Nordküste bis zum Ausgang, der Spitze von Grouin du Gou, zu folgen.«
»Einverstanden.«
Das Manövrieren wurde leichter. Die Enge bot ihnen Schutz, und der Wind, dessen Heftigkeit nachgelassen hatte und der aus günstigerer Richtung blies, machte sich zu ihrem Verbündeten. Der leichte Dunst erlaubte es, die in weiter Kurve sich hinziehende Küstenlinie des Landes und die schneeige Kante der Salzteiche zu erkennen.
Doch auf der anderen Seite lag Saint-Martin de Ré, und bald lösten sich dort drüben die Schiffe der königlichen Flotte wie Gebilde eines Traums und steuerten ihnen, eins nach dem anderen, entgegen. Die Meute begab sich auf die Jagd.
In gespanntem Schweigen beobachteten sie ihr Vorrücken.
»So nahe dem Ziel«, murmelte Le Gall. »Wir sind schon an der Spitze von Arçay vorüber.«
»Setzen wir soviel Leinwand wie möglich! Der Wind hat sich leicht gedreht. Er hilft uns.«
»Ihnen auch.«
»Aber wir haben Vorsprung.«
Kurze Sätze, die dazu dienten, die Lage zu klären, die Chancen zu wägen und nicht die geringste ungenutzt zu lassen.
»Nachdem die vordersten Schiffe der Flotte mit beunruhigender Schnelligkeit größer geworden waren, schienen sie nun ihre Distanz zu bewahren. Die Gouldsboro befand sich noch außerhalb der Schußweite ihrer Kanonen.
Von neuem legte der Rescator eine Hand auf die Schulter des Rochellesers.
»Sehen wir zu, daß wir auf offene See gelangen, Freund. Auf die Ehre des Rescators verspreche ich Euch, daß wir draußen so vor den Wind gehen werden, daß keines der Schiffe Seiner Majestät uns einholen wird.«
»Wir werden hinausgelangen, Monsieur«, antwortete der Lotse, von der Zuversicht angesteckt.
Die Augen unverwandt auf die Wasserstraße vor ihm gerichtet, suchte er die leisesten Strömungen, die geringste Brise zu nutzen, um dem Schiff, das er führte, alle Möglichkeiten seiner Schnelligkeit zu verleihen. Ah, wie er dieses Gewässer kannte, wo er so oft singend seine Netze ausgeworfen und seine Hummernkörbe hochgezogen hatte, mit Liebe die klaren, vergoldeten Linien des Wassers, des Festlands und der Inseln um sich betrachtend, die die vertraute Landschaft seines Daseins bildeten! Von bretonischer Herkunft, war seine Familie vor drei Generationen in La Rochelle ansässig geworden, was sein Hugenottentum erklärte und die Hartnäckigkeit, mit der er seinem Glauben anhing wie ein katholischer Bretone dem seinen. Er dachte in dieser Stunde daran, daß er heute diese Landschaft seines Glücks durchfuhr, um sie zu fliehen, daß sich im Bauch dieses verfolgten Schiffes seine Frau und seine Kinder befanden und daß es schrecklich wäre, hier zu sterben, versenkt durch die Geschosse des Königs von Frankreich angesichts dieser Inseln und dieser Stadt.
Ihn quälte nicht so sehr die Furcht vor dem Tode, dem er so oft im Laufe seiner Fahrten ins Gesicht gesehen hatte, als vielmehr die Pein des Verrats.
»Oh, Herr, sieh, was wir in deinem Namen zu leiden haben! Warum? ... Warum?«
Angélique warf einen Blick zurück. Die Segel der Verfolger wuchsen von neuem hinter ihnen auf. Doch schon schien die Bewegung der See, schienen die schaumigen Kämme der Wogen die Nähe des offenen Meeres anzukündigen. Die Küste wich zurück, schrumpfte zu einem schmalen Streifen. Der Wind hinterließ einen bitteren Geschmack und wurde rauher. Der verschleierte Horizont ließ eine größere Weite ahnen.
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