Das Meer! . Aber war es nicht zu spät? .

Sie betrachtete den Rescator und bemerkte, daß auch er sie durch die Schlitze seiner Maske fixierte.

Sie nahm an, daß er ihr befehlen würde zu gehen, da ihr Platz nicht auf der Brücke sei, daß er sie mit der Ironie, die er so gut gegen sie zu spitzen wußte, verjagen würde.

Doch er sagte nichts. Das Gefühl stieg in ihr auf, daß er sie so ansah, weil die Dinge eine schlimme Wendung nahmen und der Augenblick von unheilvoller Bedeutung sei. Sie, die bisher Vertrauen bewahrt hatte, verspürte Furcht.

»Ist es zu spät?« fragte sie.

In diesem Moment reckte sich Honorine in ihren Armen auf und wies zum Horizont.

»Da!« rief sie mit freudiger Miene. »Viele Vögel!«

Die Vögel ... waren Schiffe. Sie tauchten über den Horizont und versperrten die Ausfahrt aus der Bucht.

Nach einigen Augenblicken schon schien ihre Zahl unendlich. Eingekreist zwischen ihre Annäherung und die Phalanx der königlichen Flotte, ähnelte die Gouldsboro einem in die Enge getriebenen, von allen Seiten umringten Wild, das nicht einmal mehr die Möglichkeit hat, sich den zu seiner Vernichtung versammelten Feinden entgegenzustellen.

Die auf ihren Gefechtsposten verharrenden Matrosen stießen ungläubige und bestürzte Rufe aus. Diesmal war die Übermacht zu groß. Sie würden kämpfen, aber nicht siegen, und alle Fluchtwege waren ihnen versperrt. Doch fast zugleich ließ der Rescator einen Ausruf hören und brach in wildes Gelächter aus. Er vermochte nicht zu sprechen, so sehr überwältigte ihn das Lachen, das schließlich in einem Hustenanfall erstickte.

»Er ist toll geworden«, sagte sich Angélique versteinert.

Endlich gelang es dem Piraten, zu Atem zu kom-men:

»Die Holländer!«

Die allgemeine Bestürzung verwandelte sich in einen wahren Freudentaumel.

»Hißt die englische Handelsflagge am Großmast!« brüllte Kapitän Jason auf englisch in sein Sprachrohr.

Er wiederholte den Befehl in französischer Sprache.

Im Winde knatternd, stiegen die Flaggen hoch: die mit dem roten Kreuz über einem weißen Andreaskreuz auf blauem Grund am Großmast und am Heck die rote, die in einer Ecke das gleiche dreifarbige Kreuzemblem trug.

Hart mitgenommen durch den Sturm der vergangenen Nacht, glitten die schwerfälligen Handelsschiffe mit feierlicher Langsamkeit in die bretonische Enge. Zwei mächtige Linienschiffe liefen ihnen mit ihren fünf Masten, drei Batteriedecks und zweiundsiebzig Kanonen voraus. Ihnen folgte ein Schwarm von rund vierhundert Kauffahrern aller Tonnagen, deren kleinster aber noch dreihundert Tonnen überstieg. Diese dickbauchige Flotte wurde von zwanzig Kriegsfahrzeugen eingerahmt, die jedoch den Vergleich mit den großen Dreideckern nicht aushielten.

Die Gouldsboro schmuggelte sich mit der Behendigkeit eines Hasen, der sich im dichten Unterholz eines Waldes verliert, in ihre Reihen. Nach wenigen Augenblicken befanden sich an die zehn Schiffe der riesigen Flotte zwischen ihr und ihren Verfolgern.

Den Offizieren Seiner Majestät war es unmöglich, auch nur den kleinsten Kanonenschuß abzufeuern, ohne ehrliche Handelsleute zu treffen, die sich anschickten, in französischen Gewässern zu ankern.

So waren sie gezwungen, auf die Bestrafung des kühnen Piraten zu verzichten, der sie an der Nase herumgeführt hatte.

An der veränderten Bewegung der See erkannten die im Zwischendeck eingeschlossenen Flüchtlinge, daß sie das offene Meer erreicht hatten. Endlose Stunden hindurch hatten sie auf die Geräusche gelauscht, hatten sie den knirschenden Kampf des Schiffes gegen den ungünstigen Wind verfolgt. Das Manöver vor dem Fort Louis hatte sie im dumpfen Gedröhn der Kanonen durcheinandergeworfen, und sie hatten ihre letzte Stunde nahe geglaubt. Dann folgte die langsame, schleppende Fahrt durch den Kanal, die jäh hereinbrechenden, unheimlichen Augenblicke der Stille, die lärmenden Kampf Vorbereitungen, das Gelaufe der nackten Füße über ihren Köpfen, das Warten. Stunden des Betens, dazwischen kurze Worte, um die Angst zu vertreiben oder die unruhig werdenden Kinder zu besänftigen ...

Und wie in der Arche >gab es kein Fenster, und sie sollten nicht wissen, was draußen geschah<.

Dann begann das Schiff in langen, regelmäßigen, ruhigen Bewegungen zu rollen. Und sie hatten den Druck der endlich ohne Zwang gerichteten, geblähten, gespannten Segel gespürt, und der befreiende Elan, der den Schiffsrumpf durchdrang, ließ die Planken erzittern, als sei er ein flinkfüßiges Vollblut, dem man die Zügel nachläßt.

Und Le Gall erschien auf der Schwelle, erschöpft, mit einem zugleich triumphierenden und verzweifelten Ausdruck in seinen blauen, keltischen Augen.

»Wir sind ihnen entkommen«, sagte er. »Wir sind auf dem Meer. Wir sind gerettet!«

Ein qualvoller Schmerz zerriß aller Herzen.

Adieu, La Rochelle, unsere Stadt! Adieu, unsere Heimat! Adieu, unser König! .

Sie fielen auf die Knie, die Augen voller Tränen.

»Die Küste ist noch sichtbar«, sagte der Rescator, während er sich Angélique näherte und sie hart durch die Schlitze seiner Maske fixierte. »Dreht Ihr Euch nicht um, einen letzten Blick auf diese Gestade zu werfen, die Ihr für immer verlaßt, Madame?«

Angélique schüttelte den Kopf, »Nein«, sagte sie.

»Ihr seid wenig gefühlvoll für eine Frau. Es muß schlimm sein, von Euch gehaßt zu werden. Ihr laßt also kein Bedauern dort drüben zurück, keine Erinnerung, kein teures Wesen?«

Ein totes Kind, dachte sie, ein kleines Grab am Waldrand von Nieul ... Das ist alles.

»Ich nehme alles mit, was mir teuer ist«, erklärte sie, Honorine an ihr Herz drückend. »Meinen einzigen Schatz.«

Und wie jedesmal, wenn sie sich der unmerklich bohrenden Neugier des Rescators unversehens bewußt wurde, hatte sie den Eindruck, als würde sie beobachtet, als bedrohe sie die seltsame Teilnahme, die er ihr entgegenbrachte.

Unermeßliche Müdigkeit sank auf ihre Schultern. Es war die Last der Stunden, die sie eben durchlebt hatte, es war die Last ihres ganzen Lebens in einem Augenblick, in dem das Schicksal eine Pforte hinter ihr schloß, die sich nicht mehr öffnen würde. Sie fühlte den Schmerz ihrer erstarrten Arme, mit denen sie - sie wußte nicht, wie lange - Honorine an sich gedrückt hatte.

»Ich bin müde«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Oh, so müde. Ich möchte schlafen ...«

Angélique wußte nicht mehr, was zwischen jenem Augenblick, in dem sie diese Worte gesprochen hatte, und jenem anderen, in dem sie im purpurnen Licht des Sonnenuntergangs erwachte, geschehen war. Ihr Gesichtsfeld war erfüllt von einer rubinfarbenen Sonne, die sich wie eine riesige Laterne vom glanzlossilbernen Hintergrund des Meeres und des Himmels abhob.

Sie berührte den Horizont, wurde mit bestürzender Schnelligkeit von ihm verschlungen, ließ während eines kurzen Moments noch ein rosiges, die Abendröte überstrahlendes Leuchten zurück, das nach und nach verblaßte.

Um sich fühlte Angélique die Bewegung des Schiffes, jenes rhythmische, unaufhörliche Schwanken, das sie um einige Jahre ins Mittelmeer zurückversetzte. Damals, selbst während ihrer Gefangenschaft auf der Hermes, war es zuweilen geschehen, daß ein Gefühl von Unendlichkeit ihr Herz anschwellen ließ und ihre leidenschaftliche Seele mit Zufriedenheit erfüllte. Das waren die Erinnerungen, die sie an diese Reise, während derer sie tausend Tode erlitten hatte, mit einer Art von Schmerz und Entzücken denken ließen.

An diesem Abend würde sie das Meer wiederfinden. Durch das verglaste Fenster der Kajüte bot ihr die Dämmerung ihren kurz aufflammenden Brand, danach das feierliche Mysterium des dunkelnden Abends, des Vorspiels der Nacht.

Sie vernahm die Brandung der Wellen gegen den Schiffsrumpf und dazwischen das trockene Knattern der Segel und das Äolslied der Brise in den Tauen.

Sich aufrichtend, blieb sie auf dem Rand des orientalischen Diwans sitzen, auf den man sie gebettet hatte, stützte die Arme auf, der Kopf leer, gedankenlos, doch mit der geschärften Wahrnehmungsfähigkeit des Glücks, das sie überflutete. Sie war frei.

Honorine schlief an ihrer Seite, dem Schlummer hingegeben, eine pausbäckige Rose, deren Färbung der letzte schwindende Sonnenschimmer noch vertiefte.

Mit unendlicher Zärtlichkeit beugte sich Angélique über sie.

»Ich nehme dich mit, mein Schätzchen«, murmelte sie. »Fleisch meines Fleisches, Herz meines Herzens .«

Die übermenschliche Freude wurde fast schmerzhaft. Ein alter Traum wurde Wirklichkeit.

Siefuhr übers Meer, einem neuen Leben entgegen.

Ihre Lungen füllten sich mit salziger Luft. Ihre Augen verschleierten sich, ihr schwindelte in der Trunkenheit eines Gefühls, das keinen Namen kannte. Ein ekstatisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

Dort, allein im dunkelnden Licht des endenden Tages, bot Angélique dem Ozean wie einem wiedergefundenen Geliebten ihr Gesicht, das erwartungsvolle, hingegebene Antlitz einer Liebenden .