Schon holten sie zu einem Umgehungsmanöver aus, und die Klippen rings um die Bucht bevölkerten sich mit roten Uniformen. Glücklicherweise war die Mehrzahl der Dragoner nicht mit Musketen, sondern mit Pistolen und Säbeln bewaffnet. Auf einen Befehl des Leutnants versuchten zwei der Rasendsten, direkt auf den Strand hinunterzuspringen. Aber sie brachen sich beim Aufprall die Beine, und ihr Schmerzgeheul dämpfte den Kampfeseifer ihrer Kameraden so nachdrücklich, daß sie nicht weiter auf diesem taktischen Einfall bestanden.

Der einzig mögliche Zugang blieb weiterhin unter der Kontrolle der Mannschaft der Gouldsboro. Andere Matrosen ließen die Kinder und Frauen von Hand zu Hand gehen und stopften sie in die Schaluppe, die alsbald dem noch vor Anker liegenden Schiff zuruderte. Die Rahen waren mit Matrosen besetzt, die mit Tauen in den Händen bereit standen, die Segel völlig schießen zu lassen und für das Absegeln parat zu halten.

Langsam zogen sich Maître Gabriel und Angélique, die Honorine an der Hand hielt, zurück. Der Malteser hatte Jérémie übernommen. Ebenfalls kriechend und sich duckend, vollzogen die Musketenschützen des Piratenschiffs ihren Rückzug.

Die Stimme des Leutnants schallte herüber:

»Keine Angst, Dragoner! Sobald die Banditen unten sind, werden wir sie nach unserem Belieben abknallen können ... Ihr dort drüben, feuert auf die Schaluppe!«

Er wandte sich an die Soldaten, denen es weiter zur Rechten geglückt war, die Kante der Klippenwand zu erreichen. Sie waren zu weit entfernt, um die Flüchtlinge und Piraten aufs Korn nehmen zu können, solange diese im Schutz der überhängenden Felsen blieben. Doch sobald die Schaluppe vom Ufer abstieß, um dem Schiff zuzusteuern, bot sie trotz ihrer Entfernung guten Schützen ein erreichbares Ziel.

Kugeln begannen rings um das Boot ins Wasser zu spritzen, und aus der Schar der Frauen und Kinder, die zusammengepfercht darin saßen, erhoben sich Schreckensschreie. Trotz der Proteste der Besatzung erhob sich Pastor Beaucaire. Mitten im Tumult stimmte seine geborstene Altmännerstimme ein geistliches Lied an.

Die Matrosen in der Schaluppe beeilten sich, aus der gefährlichen Zone herauszukommen. Diesmal glückte es ihnen, ohne daß jemand an Bord verwundet worden wäre. Aber sie mußten noch einmal zurück, um die an Land Gebliebenen zu holen.

Die Dragoner würden inzwischen Zeit genug haben, sich auf ihr Ziel einzuschießen.

»Sie können uns nicht entwischen! Mut! Das nächstemal werden wir sie uns kaufen!« brüllte der Leutnant. »Bereitet Euch vor, Dragoner!«

Das Schnappen der Musketenhähne war zu hören, das Klappern der Ladestöcke, mit denen die Läufe gereinigt wurden, und das der Pulverhörner, die gegen die Ketten schlugen, an denen sie hingen.

Ermutigt durch den nahen Erfolg, stürzten ein paar Soldaten vor, um sich derjenigen zu bemächtigen, die noch auf dem Klippenrand geblieben waren.

Angélique begann sich eben auf den steil abwärtsführenden Pfad zurückzuziehen, als sie das schnurrbärtige Gesicht eines Dragoners vor sich auftauchen sah, der schon den Säbel erhoben hatte. Gabriel Berne warf sich vor sie, schoß, und der Mann brach zusammen. Doch in einer letzten konvulsivischen Bewegung hatte er zugeschlagen. Der Kaufmann taumelte, an Schläfe und Schulter verwundet. Er wäre über die Klippe hinuntergestürzt, wenn Angélique ihn nicht im letzten Augenblickgehalten hätte. Durch das Gewicht des großen, leblosen Körpers gezogen, drohte sie ihrerseits in den Abgrund zu rutschen. Das Gesicht vom Pulverdampf geschwärzt, kam ihr einer der Matrosen der Gouldsboro zu Hilfe. Den Schwerverletzten mit sich ziehend, geleitete er sie so gut es ging den Ziegenpfad hinab.

Vom Strand rief eine Stimme einen Befehl in englischer Sprache. Zweifellos war es ein Rückzugsbefehl, denn die letzten Piraten, die sich noch zwischen den Dünen verborgen gehalten hatten, sprangen wie Affen zum Klippenrand und kletterten hastig das schmale Felsband hinab, um sich mit ihren Kameraden zu vereinigen.

»Der Weg ist frei! Ihnen nach!« schrien die Dragoner, sich zum Angriff sammelnd.

In einer kleinen Lawine aus Gesteinsschutt erreichte Angélique den Strand. Während des Abstiegs hatte sie versucht, den blutenden Kopf Maître Bernes zu stützen.

»Er ist tot! Er ist tot! Oh, mein armer Freund! Er darf nicht tot sein!«

Zwei Hände packten sie um die Taille und zwangen sie, sich umzudrehen. Der Rescator stand vor ihr.

»Da seid Ihr endlich! Natürlich als letzte! Unverbesserlich, wie Ihr nun einmal seid!«

Sie hätte schwören mögen, daß er unter seiner Maske lachte. Als ob der Augenblick nicht schmerzlich genug gewesen wäre, als ob er selbst und seine Matrosen sich nicht in verzweifelter Lage auf einem Strand befänden, dem sich die Schaluppe angesichts der Dragoner über ihren Köpfen nicht nähern konnte, als ob nicht schon zahlreiche Verletzte das Geröll des Ufers mit ihrem Blut befleckten, als ob ihre letzte Stunde nicht kurz bevorstände .

Er lachte und preßte sie an sich, als ob er sie liebte, sie, die in Kandia gekaufte Sklavin, mit einer wilden, durch die Kränkungen und Schwierigkeiten, die sie ihm bereitet hatte, noch gesteigerten Leidenschaft.

Doch Angélique, von einer neuen, bedrängenden Sorge überwältigt, wehrte sich gegen seine Umarmung und wandte den Kopf verzweifelt nach allen Seiten.

»Honorine! Wo ist Honorine? . Ich ließ sie los, um Maître Berne zu halten, als er verwundet wurde . sie muß dort oben geblieben sein!«

Sie wollte sich losreißen, um hinaufzulaufen. Er hielt sie mit eiserner Faust zurück.

»Wohin wollt ihr? ... Bleibt hier, Unglückliche! Die Kanonen werden schießen. Nur Brei wird von Euch übrigbleiben.«

In der Flanke der Gouldsboro öffneten sich die maskierten Stückpforten und enthüllten die schwarzen Mündungen von zehn Kanonen.

Der rauhe Schrei eines getroffenen Tieres stieg aus Angéliques Kehle. Sie hatte Honorines grünes Mützchen auf der Klippe entdeckt. Das kleine Mädchen befand sich dem Absturz gefährlich nahe. Im allgemeinen Tumult waren ihre Schreie nicht zu vernehmen, aber es war ersichtlich, daß sie vor Schreck dort oben brüllte, winzig gegen das Blau des Himmels, eingezwängt zwischen den sich nähernden Dragonern und dem Rand des Felsens, auf dessen Grund sie ihre Mutter bemerkte.

»Meine Tochter!« schrie Angélique außer sich. »Mein Kind! Rettet sie! Sie werden sie töten! Sie wird abstürzen!«

Unerbittlich hinderte sie die stählerne Hand, sich loszureißen.

»Laßt mich! Es ist meine Tochter, mein Kind! Honorine! . Honorine!«

»Bleibt hier! Rührt Euch nicht. Ich werde sie holen.«

Vor Entsetzen gelähmt, sah sie den Rescator der Steilwand zuspringen und mit überraschender Behendigkeit den abschüssigen Pfad hinaufklettern. Einer der Soldaten des Königs war bei dem Kind angelangt. Die Pistole des Rescators entlud sich mitten in dessen Gesicht, während er mit der anderen Hand das Kind wie ein Bündel packte. Der getroffene Dragoner schwankte, stürzte vornüber und prallte mit dumpfem Geräusch wenige Schritte von Angélique entfernt auf die Felsen.

Gleichzeitig hatten die Kanonen der Gouldsboro mit ohrenbetäubendem Krachen eine Salve abgefeuert.

Angélique glaubte den Rescator und Honorine unter dem herniederprasselnden Regen von Erdklumpen und Gesteinssplittern für immer begraben. Allmählich unterschied sie jedoch die Gestalt des Piraten, der aus dem von Staub und Rauch gebildeten Dunstschleier auftauchte.

»Da habt Ihr Eure Tochter. Laßt sie nicht wieder los.«

»Ist sie verletzt?«

»Ich glaube nicht. Und nun zum Boot.«

Die Verwirrung nutzend, die die Salve bei den Dragonern hervorgerufen hatte, war die Schaluppe zum Ufer zurückgekehrt. Die letzten der Matrosen der Gouldsboro trugen die leblosen Körper Maître Bernes und eines der ihren, der gleichfalls verwundet worden war, durchs flache Wasser hinüber. Auch Angélique wurde ohne Umschweife hineingestoßen und erhielt die Anweisung, sich auf dem Boden des Bootes auszustrecken.

»Eine weitere Fahrt ist unmöglich«, sagte die Stimme des Rescators. »Keiner darf diesmal zurückbleiben.«

Er selbst betrat das Boot als letzter mit einer theatralischen Geste zu den weißen Mauern der Klippen hinüberdeutend:

»Adieu, ihr wenig gastlichen Gestade!«

Aufrecht am Heck der Barke stehend, bot er ein ausgezeichnetes Ziel.

Zum Glück dachten die Soldaten, demoralisiert durch die unvorhergesehene und mit zahlreichen Verlusten verbundene Kanonade, nicht mehr daran zu schießen. Ihr Leutnant war ernstlich verletzt worden.

Der Adjutant brüllte einander widersprechende Befehle, die das Echo bis zu den Flüchtlingen hinübertrug.

»Jemand galoppiere zum Fort Louis und bitte um Feuerunterstützung!«

»Verständigt die Flotte von Saint-Martin de Ré und das Fort auf der Landspitze von Sablonceaux .«

»Diese Banditen dürfen nicht entkommen!«

Mit lautem Kettengerassel hob sich der Anker der Gouldsboro. Gleichzeitig lockerten die Marsgäste die Segel, die der Wind alsbald prall füllte. Von der Brücke kamen die Befehle Kapitän Jasons, die so ruhig erteilt wurden, als ob er unter den Blicken der Müßiggänger feierlich im Hafen ablegte. Flink liefen die Matrosen die Rahen entlang und kletterten an den Masten empor, hier und da ein Tau oder eine Schote anziehend .

Das Schiff erbebte, bereit zur Fahrt.

Indessen hatte die überladene, vom Gewicht ihrer menschlichen Fracht tief ins Wasser gedrückte Schaluppe das Schiff umrudert. Sie war nun vor jedem Angriff sicher, und die Übernahme ihrer Besatzung konnte ohne jede Störung vonstatten gehen, während die Gouldsboro langsam aus der Bucht zu gleiten begann.