«Und?«fragte Colin heiser.»Er hat Spuren des Gifts darin gefunden.«

«Nein! Mein Gott, Leyla, ich muß dich sofort von hier wegbringen.«

«Colin — «

«Das ist ja unfaßbar. Und ich ahnte nicht einmal, was hier im Haus vorging. Ich bin nur mit dir hier heraufgekommen, um dich zu bitten, doch noch einmal zu versuchen, deinen Erinnerungen auf die Spur zu kommen. Ich dachte, du würdest mir widersprechen, meine Vermutungen für lächerlich erklären, bestenfalls widerstrebend auf meinen Vorschlag eingehen. Statt dessen höre ich all diese grauenvollen

Tatsachen von dir. Leyla!«Er faßte mich wieder bei den Schultern.»Du mußt von hier weg. Geh sofort nach London zurück.«

«Nein, Colin«, widersprach ich ruhig.

«Es ist nicht nötig, daß du dich in Gefahr begibst. Ich werde das hier allein lösen, und wenn alles geklärt ist, komme ich dir nach — «

«Nein, Colin. Ich muß hier bleiben.«

«Das kann ich nicht zulassen«, sagte er zornig.

«Aber ich kann von hier nicht weggehen. «Ich sprach ruhig, aber bestimmt.»Wir wissen so viel, Colin, und doch wissen wir das Entscheidende nicht. Wir wissen nicht, wer der Mörder ist. Wenn wir es je erfahren wollen, muß ich mich erinnern, was damals im Wäldchen geschehen ist. Und das kann ich nur hier, nicht in London.«

Colin war sehr aufgeregt, doch er wußte keinen Ausweg. Er konnte die Wahrheit dessen, was ich gesagt hatte, nicht leugnen, hatte aber große Angst um mich.

«Solange der Mörder glaubt, ich wüßte nicht, daß ich langsam vergiftet werde, bin ich nicht in Gefahr«, sagte ich.»Ich muß einfach meine Rolle weiterspielen, Kopfschmerzen und Übelkeit vortäuschen, bis es mir gelingt, mich an alles zu erinnern. Nur wenn der Mörder merkt, daß ich seinen Plan entdeckt habe — «

«Oder ihren.«

«— bin ich in Gefahr. Wenn er — oder sie — nichts merkt, haben wir Zeit.«

Ich hörte Colins schweren Atem. Unsere kleine Kerze war so weit abgebrannt, daß sie kaum noch Licht spendete.

«Wieviel Zeit?«fragte er angstvoll.»Bei deinem ersten Besuch im Wäldchen hast du dich an gar nichts erinnert. Wie oft wirst du noch zurückgehen müssen?«

Ich überlegte mir meine Worte, ehe ich antwortete.»Doch, an eine Kleinigkeit habe ich mich erinnert, ich habe dir nur nichts davon gesagt. Als ich da unten ganz allein unter den Bäumen stand, hatte ich plötzlich ein flüchtiges, aber sehr deutliches Bild.«

«Wovon?«

«Es kann sein, daß es mit den Geschehnissen von damals nichts zu tun hat — «

«Aber es kann auch ungeheuer wichtig sein. Woran hast du dich erinnert?«

«Ich sah plötzlich den Rubinring, der Theo gehört. «Ich merkte, wie Colin erstarrte.»Den Ring?«sagte er tonlos.»Das ist merkwürdig.«

«Das fand ich auch. Er hat wahrscheinlich mit dem Tod meines Vaters gar nichts zu tun, und trotzdem erinnerte ich mich seiner, als ich im Wäldchen stand. Ich hätte wahrscheinlich überhaupt nichts darauf gegeben, wäre der Ring nicht kurz danach verschwunden.«

«Ich bin sicher, das ist nur ein Zufall«, sagte er wenig überzeugend. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, hatte ich das deutliche Gefühl, daß Colin stark beunruhigt war.»Darf ich dich etwas fragen?«Er nickte.

«Wieso warst du eigentlich so sicher, daß mein Vater unschuldig war? Wieso hast du nicht, da du doch auch an die Krankheit glaubtest, die allgemeine Erklärung hingenommen? Hast du an der Geschichte von dem Tumor gezweifelt?«

«Nein. Ich glaubte genauso daran, wie alle anderen. Und ich glaubte wie alle anderen, daß Sir John und sein Bruder von der Krankheit in den Wahnsinn getrieben worden waren. Aber bei deinem Vater konnte ich nicht daran glauben.«

«Warum nicht, Colin?«

Er schien einen Moment zu brauchen, um seine Worte zu bedenken, dann sagte er:»Du warst an dem Tag, an dem dein

Vater und dein Bruder starben, nicht der einzige Beobachter im Wäldchen. Es war noch jemand da.«

«Wer?«

«Ich.«

Im ersten Moment war ich sprachlos.»Du?«sagte ich dann ungläubig.

«Ja. Ich war auch im Wäldchen, Leyla. Ich war dabei, als dein Vater und Thomas getötet wurden.«

«Dann hast du alles gesehen?«

«Nein, das nicht. «Er sprach hastig.»Ich streifte in der Nähe im Wald herum, als ich Thomas aufschreien hörte. Da ich glaubte, er hatte sich wehgetan, rannte ich sofort in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, aber ich kam zu spät. Als ich ins Wäldchen eindrang, sah ich dich im Gebüsch stehen. Du hattest einen ganz fremden Ausdruck auf dem Gesicht. Dann hörte ich ein dumpfes Geräusch, als sei jemand zu Boden gestürzt, und als ich mich umdrehte, sah ich deinen Vater neben deinem Bruder auf dem Boden liegen. Zur gleichen Zeit hörte ich es ganz in der Nähe rascheln und wußte sofort, daß da jemand davonlief. Ich rannte hinterher, aber ich konnte nicht sehen, wer es war.«

«Und das war der Mörder!«

«Ja, aber ich habe nur noch eine undeutliche Gestalt und die Bewegung der Äste an den Bäumen gesehen.«

«Hast du denn mit niemandem darüber gesprochen?«

«Mit wem hätte ich denn darüber sprechen können, Leyla? Ich war vierzehn Jahre alt und zu Tode geängstigt. Ich hatte zum erstenmal in meinem Leben einen Toten gesehen. Ich war tief erschrocken. An wen hätte ich mich wenden können? Ich wußte nur, daß jemand auf Pemberton Hurst zwei Morde begangen hatte. Woher hätte ich wissen sollen, daß die Person, der ich mich anvertraute, nicht selbst der Mörder war und mich ebenfalls töten würde, wenn sie hörte, was ich wußte? Mit wem hätte ich reden dürfen, Leyla? Sag mir das. Zwanzig Jahre lang habe ich mit diesem furchtbaren Geheimnis gelebt, saß Abend für Abend mit der ganzen Familie beim Essen und fragte mich immer wieder, wer von ihnen es gewesen war.«

«Ach, Colin«, sagte ich in tiefem Mitgefühl.

«Und dann standest plötzlich du vor der Tür wie ein rettender Engel.«

«Aber warum hast du mir das alles nicht schon viel früher erzählt?«

«Das konnte ich nicht, Leyla. Du trautest mir nicht. Ich konnte nicht erwarten, daß du mir glauben würdest. Ich wollte, daß die Erinnerung von selbst kam, unbeeinflußt von dem, was ich dir hätte erzählen können. Ich drängte dich ein wenig, gab dir ein paar Anhaltspunkte, aber ich konnte dir doch nicht alles erzählen, sonst hättest du vielleicht meine Schilderungen verwechselt und sie für Erinnerungen gehalten. Sag ehrlich, Leyla, hättest du mir denn damals getraut?«

«Ich — ich weiß es nicht. Es ist alles so unglaublich, Colin. Wer kann es getan haben? Hast du denn gar keinen Verdacht?«

«Verdächtig ist im Grunde jeder. «Er wandte sich von mir ab und begann wieder, auf und ab zu gehen.»Ich habe nächtelang wachgelegen und gegrübelt. Beweggründe gab es für jeden genug. Mein eigener Vater oder Onkel Henry konnten es getan haben, um ihren Anteil am Erbe zu vergrößern. Aber Henry kann es nicht gewesen sein, denn er ist jetzt selbst tot. Und mein Vater kann es nicht gewesen sein, denn er kam vor vielen Jahren ums Leben, und seitdem hat es zwei weitere Todesfälle gegeben.«

«Die drei Söhne Sir Johns waren Opfer und nicht Täter. Aber hast du mal an Theo gedacht? Könnte er einen Grund haben?«Colin blieb plötzlich stehen.»Theo? Leyla, gerade ihm mußte der Tod deines Vaters sehr gelegen kommen. Aber das weißt du ja nicht.«

«Aber warum?«

«Theo liebte deine Mutter. «Ich wich einen Schritt zurück.»Was?«

«Theo war damals achtzehn«, erzählte Colin,»und deine Mutter fünfundzwanzig. Sie war eine sehr schöne Frau. Theo gab sich überhaupt keine Mühe, seine Gefühle für sie zu verbergen. Und er zeigte auch offen seine Bitterkeit darüber, daß er sie nicht haben konnte. Theo haßte deinen Vater, Leyla, und alle wußten es.«

«Wie seltsam. «Ich dachte an den Abend vor fast einer Woche, als Theo in mein Zimmer gekommen war. Mir war sofort aufgefallen, wie ungewöhnlich er sich verhielt. Ich wußte noch, daß ich den Eindruck gehabt hatte, er sähe gar nicht mich, sondern eine andere. Jetzt hatte ich die Erklärung.

«Und Tante Anna war eine Mutter jener Art, die allen Fehlern ihrer Söhne gegenüber blind sind. Vielleicht meinte sie, Theo solle Jennifer ruhig haben. Vielleicht hegte sie aus unbekannten Gründen einen Groll gegen deinen Vater. Es ist möglich, daß auch Tante Anna das Erbe ihres Mannes vergrößern wollte und darum deinen Vater tötete.«

«Und Martha?«

«Sie war damals erst zwölf, Leyla.«

«Und was ist mit Großmutter?«

«O ja, sie dürfen wir nicht vergessen. Sie ist eine harte Frau, und ich könnte mir denken, daß sie unter gewissen Umständen vor einem Mord nicht zurückschrecken würde. Aber warum sollte sie ihre eigenen Söhne töten? Alle drei? Sie liebte deinen Vater sehr, das wußte jeder. Und sie hatte auch deine Mutter gern. Großmutter wünschte, daß das Erbe gleichmäßig zwischen ihren drei Söhnen aufgeteilt werden würde. Ich kann da keinen Grund sehen, auch wenn wir sie natürlich nicht außer Acht lassen können.«»Mein Gott, Colin, wer kann es nur gewesen sein?«fragte ich.»Ja, wer kann es gewesen sein, Leyla? Und was ist der Grund für die Morde?«

«Ich wollte, ich könnte mich erinnern.«

«Geh noch einmal ins Wäldchen, Leyla. Geh bald, ich bitte dich. Ich habe große Angst um dich.«

Er kam zu mir und nahm mich wieder in seine Arme. Den Kopf an seinem Hals, wünschte ich aus tiefster Seele, daß dieser Alptraum endlich enden möge, damit ich mein gemeinsames Leben mit Colin beginnen konnte. Und es gab für mich nur einen Weg, dem Alptraum ein Ende zu bereiten: Noch einmal das Wäldchen aufsuchen.

Kapitel 14

Nach einer fast schlaflosen Nacht war ich froh, als endlich das erste graue Licht in mein Zimmer fiel. Aufgeregt und ungeduldig begrüßte ich den neuen Tag, dessen Beginn ich kaum erwarten konnte und vor dem ich gleichzeitig so große Angst hatte.