«Colin, ich bin ganz verwirrt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«»Du weißt jetzt, daß es die Erbkrankheit gibt, und du glaubst daran, daß dein Vater Selbstmord beging, nachdem er deinen Bruder getötet hatte. Warte, laß mich ausreden. Ich möchte, daß du wieder die wirst, die du warst, bevor du das Buch gelesen hattest; daß du noch einmal versuchst, dich zu erinnern. Ich glaube, daß dein Vater unschuldig war.«

«Und du hast das den anderen nicht gesagt?«

«Ich kann nicht, Leyla. Sie hören nicht auf mich. Sie — «

«Warum hassen sie dich, Colin?«fragte ich leise. Er starrte mich einen Moment an, dann ließ er plötzlich meine Schultern los, und seine Arme sanken herab.»Aus einem Grund, den ich dir schon längst hätte sagen sollen.«

«Was ist das für ein Grund?«

«Ich bin kein Pemberton, Leyla, jedenfalls nicht von Geburt. Mein leiblicher Vater war ein Mann namens Haverson, ein Schiffskapitän, der auf See ums Leben kam, als ich gerade geboren war. Etwa anderthalb Jahre später heiratete meine Mutter Richard Pemberton und brachte mich hierher.«

«Aber warum hassen sie dich dafür?«

«Weil ich den Tumor nicht zu fürchten brauche.«

«Ach, Colin — das kommt alles so plötzlich.«

«Sir John faßte damals, als ich ins Haus kam, eine ungewöhnliche Zuneigung zu mir. Er änderte sein Testament und setzte mich zum Alleinerben ein unter der Voraussetzung, daß Onkel Henry kein Testament machen sollte. Aber ich wußte nicht, daß er tatsächlich keines gemacht hatte, Leyla, das schwöre ich dir.«

«Ich glaube dir.«

Er sah mich an, als sähe er mich zum erstenmal.»Du glaubst mir?«

«Aber ja«, antwortete ich.»Wie merkwürdig, daß du mir gerade jetzt all diese Dinge erzählst.«»Willst du dann noch einmal versuchen, dich zu erinnern? Ich weiß, wie verwirrend es für dich sein muß — «

«Ach, das ist es nicht, Colin«, unterbrach ich ihn aufgeregt. Am liebsten hätte ich gelacht.»Das ist es nicht. Im Gegenteil, du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Endlich kann ich dir alles sagen.«

«Was denn?«

«Alles, was ich herausgefunden habe und was ich bis jetzt für mich behalten mußte. Endlich kann ich mit dir darüber sprechen.«

«Dann hast du dich erinnert?«

«Nein, nein. Noch nicht. Ich will es aber, und nicht nur, weil du mich darum gebeten hast. Du weißt nicht, Colin, wie schrecklich es für mich war, alles mit mir allein herumtragen zu müssen.«

«Worum geht es denn? Was hast du herausgefunden?«Ich erzählte ihm alles. Ich berichtete ihm von meinem ersten Besuch bei Dr. Young, von der gefälschten Seite in Cadwalladers Buch, von meinen Gefühlen, meinem Zorn und meiner Erbitterung und von Dr. Youngs Überlegungen. Als ich von der tödlichen Dosis Digitalis berichtete, die Dr. Young in Henrys Blut festgestellt hatte, wandte Colin sich erschüttert von mir ab und schlug mit der Faust an die Steinmauer.

«Wie grauenhaft!«rief er.»Dann ist es also wirklich wahr, und ich habe die ganze Zeit recht gehabt.«

Eine ganze Weile starrte er hinaus in die Dunkelheit. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich hörte seinen schweren Atem und konnte mir vorstellen, was jetzt in ihm vorging.

«Aber dann — «begann er unsicher.»Der Tumor, Leyla. Der Tumor. «Er kam stockend einen Schritt auf mich zu.»Heißt das, daß er Lüge ist? Daß es die Krankheit der Pembertons gar nicht gibt?«

«Ja, Colin.«

«Mein Gott! Alles eine niederträchtige Lüge, eine gemeine Erfindung!«

«Ja.«

«Ich kann es nicht glauben«, flüsterte er.»Ich kann es einfach nicht glauben. Und ich wußte es nicht. «Er begann, in dem kleinen Turmzimmer hin und her zu gehen.»Es ist unfaßbar! Jahrelang glaubten wir alle daran. Und es ist nichts als Lüge. Jahrzehnte, Jahrhunderte. «Er schlug wieder an die Wand.»Sir John, Onkel Robert, Onkel Henry! Dann hatte ich also von Anfang an recht. Dein Vater wurde tatsächlich ermordet, Leyla. «Er drehte sich zu mir herum. Und plötzlich rief er freudig aus:»Dann — dann bist du ja frei, Leyla! Dann hast du nichts zu fürchten!«

«Ja.«

Ich kann nicht sagen, was dann geschah. Ich erinnere mich nur, daß ich plötzlich in Colins Armen lag, und er mich an sich drückte, als wollte er mich nie wieder loslassen. Und ich hatte das Gefühl, als hätte ich nie woanders hingehört, als sei ich endlich nach Hause gekommen. Ich spürte seine Wärme und seine Kraft, und sie sagten mir mehr als tausend Worte.

Lange standen wir so, dicht zueinander geschmiegt, und sprachen kein Wort.»Leyla, Liebste«, flüsterte Colin dann,»du weißt ja nicht, was ich ausgestanden habe. Diese letzten Tage — dich zu sehen, dich zu lieben und dabei zu wissen, daß du früher oder später das Opfer dieser grauenvollen Krankheit werden würdest. Oft habe ich dagesessen und dich nur angesehen und gedacht, ich könnte die Qual nicht ertragen. Ich war so verbittert, du kannst es dir gar nicht vorstellen.«

Er schob mich ein wenig von sich ab und strich mir über das Haar, während er mich ansah.»Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich sah keine Zukunft für uns. Es war schrecklich. Aber jetzt bist du frei, Leyla. Wir sind beide befreit von diesem schrecklichen Fluch, der über Generationen auf dieser Familie lag. Ach Leyla, meine Leyla!«

Voll Zärtlichkeit sah er mich an, doch plötzlich veränderte sich sein Gesicht, zeigte tiefe Verlegenheit. So plötzlich, wie er mich in seine Arme geschlossen hatte, ließ er mich jetzt los und wich zurück.»Guter Gott! Entschuldige, Leyla. Bitte verzeih’ mir. Ich habe völlig kopflos gehandelt. In meiner Glückseligkeit über das, was du mir gesagt hast, habe ich mich völlig vergessen. Ich muß mich für mein Benehmen bei dir entschuldigen und könnte es dir nicht einmal übelnehmen, wenn du mich jetzt ohrfeigst.«

«Weshalb sollte ich das tun?«Ich hätte gleichzeitig weinen und lachen können.

«Ich habe mich wie ein Flegel benommen und deine Schwäche ausgenützt. Aber glaube mir, ich war — «

Jetzt mußte ich wirklich lachen.»Ach, Colin, hör’ auf, dich zu entschuldigen. Wenn du den Kopf verloren hast, liebe ich dich dafür um so mehr.«

Er sah mich ungläubig an.

Ich war selbst erstaunt über mich — nicht über das, was ich gesagt hatte, sondern darüber, wie leicht es mir über die Lippen gekommen war.»Ich liebe dich wirklich, Colin«, sagte ich leise.

Wieder nahm er mich in seine Arme, und diesmal küßte er mich, leidenschaftlich und zärtlich zugleich, auf eine Art, wie nie zuvor ein Mann mich geküßt hatte. Nichts war mehr wichtig in diesem Augenblick, nur wir beide.

Sein Gesicht schien sich verändert zu haben; es war weicher, offener, als hätte sein ganzes Wesen in dieser kurzen Zeit sich gewandelt.»Ich kann nicht glauben, daß mir das geschieht«, sagte er vor Freude lachend.»Ich komme mir vor wie im Traum. Ich glaubte fest, ich würde mich niemals in meinem Leben verlieben, sondern bis ans Ende meiner Tage ein zynischer Junggeselle bleiben. Und dann kamst plötzlich du. «Er legte mir sacht eine Hand auf die Wange.»Erinnerst du dich noch an die ersten Worte, die du mit mir gewechselt hast? Du sagtest: >Tante Anna sagte mir, daß ich dich hier treffen würde und riet mir eine Begegnung mit dem exzentrischen Colin unter allen Umständen zu vermeiden. Offenbar befürchtete sie eine Katastrophe.««

«Ja, ich weiß. Ich war in schrecklicher Verlegenheit.«

«Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Das werde ich nie vergessen. Ich hätte nie geglaubt, daß jemand gleichzeitig rot und blaß werden kann.«

«Ach, Colin!«Er zog mich wieder an sich und drückte mich so fest, daß ich kaum luftholen konnte.»Ich lasse dich nie wieder fort«, sagte er.»Vor zwanzig Jahren bist du spurlos aus meinem Leben verschwunden, aber jetzt bist du zurück und wirst für immer bei mir bleiben. Nichts kann uns mehr trennen, Leyla.«

Ich war glücklich. Colin gefunden zu haben, war für mich das Ende eines Alptraums. Mit Colin an meiner Seite brauchte ich nichts mehr zu fürchten, brauchte ich die Last meines Wissens nicht mehr allein zu tragen.»Ich frage mich, welches gute Werk ich in der Vergangenheit getan habe«, sagte Colin mit einem leisen Lachen,»daß Gott dich plötzlich zu mir schickte.«

Diese Worte holten mich mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück.»Es war kein Zufall, Colin, daß ich hierher kam. Ich kam aufgrund eines Briefes.«

«Aufgrund eines Briefes?«Colin ließ mich aus seinen Armen, hielt aber weiter meine Hände fest, während ich ihm von dem Brief berichtete, der uns kurz vor dem Tod meiner Mutter in London erreicht hatte.»Er war von Großtante Sylvia unterzeichnet«, erklärte ich,»aber hier entdeckte ich, daß sie den Brief in Wirklichkeit gar nicht geschrieben hatte. Ich sah an ihrem Tagebuch, daß es nicht ihre Handschrift war.«

«Aber das verstehe ich nicht«, versetzte Colin verblüfft.»Du meinst, dich hat tatsächlich jemand hierhergelockt? Aber warum ausgerechnet unter Tante Sylvias Namen?«

«Ich vermute, weil sie damals schon im Sterben lag, und der Briefschreiber sich deshalb gut hinter ihr verstecken konnte. Er wollte seinen Namen nicht preisgeben, und jetzt, da ich hier bin, tut er so, als wünsche er meine Abreise. Aber wer kann das sein, Colin?«

Er überlegte.»Du mußt mir den Brief zeigen. Vielleicht erkenne ich die Schrift. Trotzdem verstehe ich das nicht: Warum soll dich jemand hierherlocken und sich dann nicht zu erkennen geben?«

«Das weiß ich auch nicht. Aber das ist noch nicht alles, Colin«, sagte ich dann.»Von dem Tag an, als ich Thomas Willis’ Buch gelesen hatte, bekam ich plötzlich jeden Tag Kopfschmerzen. Nachdem Dr. Young mir erklärt hatte, daß Onkel Henry mit Digitalis vergiftet worden war, bekam ich Angst, und darum habe ich heute heimlich eine Probe von meinem Frühstückstee zu Dr. Young zur Analyse gebracht.«