Moment das Gefühl gehabt, daß ich ihr willkommen war oder daß sie mich mochte. Erst hatte ich sie sichtlich beunruhigt, dann hatte sie sich in vornehmer Zurückhaltung geübt. Meine Großmutter war über meine Ankunft nicht erfreut gewesen und hatte keinen Hehl daraus gemacht. Sie vor allen anderen hatte sich größte Mühe gegeben, mich so rasch wie möglich nach London zurückzuscheuchen. Nein, Liebe hatte ich von dieser kalten, harten Frau nicht zu erwarten; aber wohl auch kein anderer.

Und Theo? Er war immer zuvorkommend, immer darum bemüht, der Gentleman ohne Fehl und Tadel zu sein. Wenn er mir nach dem Leben trachtete, so waren seine Absichten geschickt hinter seiner Wohlerzogenheit verborgen.

Martha? Sie hatte mich vielleicht als einzige von Anfang an gemocht. Sie war eine immer noch sehr kindliche Frau, und ich konnte mir kaum vorstellen, daß sie des Mordes fähig war.

Da Colin als Verdächtiger für mich ausschied, und ich Gertrude und die anderen Angestellten nicht in Betracht zog, blieben nur diese vier: Anna, Theo, Großmutter und Martha. Doch so angestrengt ich auch überlegte, konnte ich mir, während ich an diesem grauen Nachmittag durch den Wald stapfte, für keinen einen Grund vorstellen.

Im Haus war Totenstille, als ich eintrat. Sehr langsam ging ich zu meinem Zimmer hinauf, in der Hoffnung, einem meiner Verwandten zu begegnen. Der Schuldige, dachte ich, würde sich vielleicht verraten, wenn er sah, daß ich nach einer solchen Dosis Digitalis, wie er sie mir am Morgen mit dem Tee verabreicht hatte, noch auf den Beinen war. Leider traf ich niemanden. Als ich in meinem Zimmer meinen Hut abnahm, zitterten mir die Hände. Jetzt brach doch die Angst durch. Wie lange würde ich diesen Zustand aushalten können? Als es klopfte, fuhr ich zusammen. Aber als ich die Tür öffnete und

Colin sah, der mir entgegenlachte, entspannte ich mich sofort.»Du warst wohl spazieren?«

«Ja.«

«Hast du Lust, mit mir hinunterzugehen und ein Glas Sherry zu trinken, Leyla?«

«Gern.«

Wir gingen langsam durch den Flur zur Treppe. Er war in jenes graue Zwielicht gehüllt, das entsteht, wenn von draußen nicht mehr genug Licht hereinkommt, die Gaslampen aber noch nicht angezündet sind. Er führte mich in den kleinen Salon zu einem Sessel beim Feuer.»Ich habe das Gefühl, der Winter nimmt dieses Jahr überhaupt kein Ende«, bemerkte er, während er uns beiden einschenkte. Er wirkte so ungezwungen und ruhig, als wäre er der einzige, der von der Spannung und Bedrücktheit verschont war, die uns alle belastete.»Das ist ein ganz besonderes Gebräu«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.»Großmutters Spezialsherry. Sie bietet nie jemandem davon an. Und wenn sie wüßte, was wir hier tun, würde sie uns zum Teufel jagen. Hier. «Ich nahm das Glas und starrte in die dunkle Flüssigkeit. Colin beobachtete mich.»Willst du nicht trinken?«

«Doch. Natürlich. «Der Sherry schmeckte süß und weich, besser als jeder, den ich bisher getrunken hatte.

Während wir tranken, betrachtete mich Colin mit unverwandtem Blick auf eine Weise, die mich bei einem anderen Mann verlegen und vielleicht ärgerlich gemacht hätte. Aber da es Colin war, den ich liebte, erwiderte ich mutig und offen seinen Blick.

«Leyla«, sagte er unvermittelt und stellte sein Glas nieder.»Seit Tagen versuche ich, einen Entschluß zu fassen, und jetzt bin ich so weit. Ich möchte mit dir reden.«

«Ja?«Seine Stimme klang plötzlich sehr ernst.

«Aber nicht hier. Ich möchte nicht, daß plötzlich jemand von der Familie hier auftaucht und uns stört. Und ich möchte auch nicht Angst haben müssen, daß wir belauscht werden. Gehst du mit mir an einen Ort, wo wir ungestört sind?«

Ich blickte in mein Glas. Es war leer.»Ja, natürlich, Colin.«

«Gut. «Er führte mich wieder nach oben. Von einem kleinen Tisch nahm er eine Kerze und entzündete sie an einer der Öllampen im Flur. Als er mich dann eine weitere Treppe hinaufführte, war ich verwundert, aber ich stellte keine Frage. Colin war ja bei mir; in seiner Begleitung fühlte ich mich sicher und beschützt.

Wir traten in einen dunkleren Flur, wo die einzige Lichtquelle unsere Kerze war, und ich ließ Colin meine Hand nehmen, um mich weiterzuführen. Als mir der Modergeruch in die Nase stieg, erinnerte ich mich, daß dies der Flur war, durch den ich in der Nacht vor Henrys Tod gelaufen war, als wir alle ihm zum Türmchen gefolgt waren. Ich atmete schneller. Mir war unheimlich in der beklemmenden Finsternis, aber ich dachte nicht an Umkehr. Ich war sicher, daß Colin gute Gründe hatte, mich hierher zu bringen.

Es wunderte mich schon gar nicht mehr, als wir vor dem kleinen Torbogen anhielten, hinter dem die Treppe zum Türmchen sich emporschwang. Dennoch schauderte ich bei der Erinnerung an jene Nacht. Colin beobachtete mich schweigend. Sein Gesicht war seltsam bleich im flackernden Schein der Kerze.

«Anders geht es nicht, Leyla«, sagte er leise.»Es tut mir leid. «Ich sah ihm aufmerksam in die Augen.

«Wir müssen vermeiden, daß wir belauscht werden, und Großmutter hat überall ihre Spitzel. Ist es sehr schlimm für dich, da hinaufzugehen?«Ich spähte hinauf, wo die schmale Treppe in der Dunkelheit verschwand. Colin hielt meine Hand sehr fest. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und schmeckte noch ein wenig Großmutters Sherry.»Ja. Aber ich kann verstehen, warum du dort hinauf willst. Was du mir sagen willst, ist wohl sehr wichtig?«

«Ja. Ich bin froh, daß du mir vertraust, Leyla. Ich hatte Angst, du würdest es nicht tun. Gehen wir?«

Mit der Kerze in der Hand ging er mir voraus, langsam eine Stufe um die andere nehmend. Meine Hand ließ er nicht los, hielt sie so fest, daß ich sie ihm nicht hätte entziehen können. Meine Neugier siegte über meine Angst. Was hatte Colin mir so Wichtiges mitzuteilen, daß dafür kein anderer Ort im Haus sicher genug war?

Oben angelangt, blieb ich einen Moment schaudernd stehen. Ich mußte mich unwillkürlich an Henrys wahnverzerrtes Gesicht und weit aufgerissene Augen erinnern. Colin stellte die Kerze auf den Steinboden, in sicherer Entfernung von meinen Röcken und doch so nahe, daß wir etwas Licht hatten. Das Turmzimmer war ein kleiner, runder Raum, klamm und kalt, mit einem Fenster, das zum nächtlichen Wald hinausblickte.»Von hier hat unser Großvater sich hinuntergestürzt«, bemerkte Colin und nahm nun auch meine andere Hand. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, seine Stimme war ohne Ausdruck.»Hast du mich hierher gebracht, um mir das zu sagen?«

«Nein, Leyla, das ist nicht der Grund, weshalb ich dich hierher gebracht habe. «Colins Stimme klang seltsam fern.»Zunächst wollte ich dir sagen, daß ich über das, was ich gleich tun werde, lange nachgedacht habe. Du sollst wissen, daß ich es nicht leichten Herzens tue. Es bewegt mich schon seit dem Morgen, an dem du uns gesagt hast, du hättest Thomas Willis’ Buch gelesen. Erinnerst du dich?«

«Ja, natürlich.«

«Du warst so sonderbar an dem Morgen, Leyla. Das hat mich sehr beunruhigt, und es hat mich seitdem eigentlich unablässig geplagt. Mehrmals war ich nahe daran, mit dir zu sprechen, aber dann habe ich es mir aus diesem oder jenem Grund immer wieder anders überlegt. Aber jetzt. «Seine Stimme war noch leiser geworden, kaum mehr als ein Flüstern, und er trat einen Schritt näher an mich heran. Ich sah ihn an wie hypnotisiert, erregt durch seine Nähe, gespannt darauf, was er mir zu sagen hatte. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er:»Ich werde es nicht länger aufschieben. «Er sah sich um, spähte angespannt in die Dunkelheit jenseits unserer kleinen Lichtpfütze.»Es darf uns niemand belauschen. Niemand darf wissen, daß wir hier oben sind, Leyla. Wenn du ein lautes Geräusch machen solltest, schreien solltest, darf niemand es hören.«

«Warum sollte ich schreien?«

«Es war nur ein Beispiel, um dir klarzumachen, wie wichtig es ist, daß wir ungestört sind. Ich glaube, hier sind wir sicher vor dem Rest der Familie. Ich habe dich absichtlich hier heraufgebracht, weil keiner erfahren darf, was hier vorgeht.«

«Colin, du weißt, daß ich dir vertraue.«

Ich hatte den Eindruck, daß er lächelte. Kein Geräusch war zu hören, nichts rührte sich außer den tanzenden Schatten, die unsere Kerze warf. Colin und ich waren ganz allein.

«Leyla. «Er drückte meine Hände noch fest.»Ich weiß, daß du mich bisher nicht gemocht hast und mir gewiß auch nicht getraut hast. Ich kann dir das nicht verübeln. Aber ich muß dich jetzt bitten, mir rückhaltlos zu vertrauen, ganz gleich, was geschieht.«

Ich war gebannt von seiner Stimme und seinem Blick.»Ja«, flüsterte ich.

«Dann verzeih mir, was ich jetzt tun werde. Ich fürchte, es wird schmerzhaft werden für dich.«

Ein wenig verwirrt antwortete ich:»Ich würde dir alles verzeihen, Colin.«»Gut. «Er ließ meine Hände los und umfaßte fest meine Schultern.»Ich bitte dich, noch einmal zu versuchen, dich an das zu erinnern, was vor zwanzig Jahren im Wäldchen geschah.«

«Was?«sagte ich verblüfft.

«Bitte, Leyla, auch wenn es vielleicht sehr schmerzhaft für dich ist, versuche, dich zu erinnern, was damals war.«

«Aber ich verstehe nicht. Warum denn?«

«Weil ich glaube, daß dein Vater ermordet wurde, und ich muß wissen, von wem.«

«Colin!«

«Ich weiß, was du denkst! Daß es sinnlos ist — «

«Nein, warte —!«

«Laß mich zu Ende sprechen, Leyla. «Seine Augen waren plötzlich sehr lebendig.»Ich habe nie geglaubt, daß dein Vater Hand an sich gelegt hat, aber ich konnte nichts beweisen. Und ich konnte nicht darüber sprechen, weil die ganze Familie mich haßt. Ich weiß, wie unglaubwürdig das für dich klingen muß, nachdem ich die ganze Zeit das Spiel der Familie mitgemacht habe und so getan habe, als wäre ich mit den anderen einig. Als du nach zwanzig Jahren plötzlich hier vor der Tür standest, war das für mich wie ein Geschenk des Himmels. Und als du sagtest, du wolltest dir deine Vergangenheit zurückerobern, schöpfte ich Hoffnung. Ich war von Anfang an auf deiner Seite, ich wartete sehnlichst darauf, daß du dich erinnern würdest. Aber als du dann plötzlich aufgabst, einfach die Waffen strecktest, weil du das Buch gelesen hattest, war ich verzweifelt. «Er sah mich flehend an, als er sagte:»Ich weiß, daß du kein Verlangen mehr hast, dich der Ereignisse zu erinnern, die du als Kind miterlebt hast, aber ich bitte dich, Leyla, versuche es noch einmal — mir zuliebe.«