«Aber Mama!«Elsie sprang auf.»Was redest du da? Er kommt bestimmt wieder nach Hause, du wirst schon sehen.«

«Kein Mensch lebt ewig, Elsie.«

Als Elsie und Ed sich etwas später zum Gehen bereit machten, blieb ich am Tisch vor dem Fenster sitzen, schaute hinaus in den blauen Novemberhimmel und fragte mich, was mich das alles anging.

Ich hörte, wie Großmutter, die die beiden zur Tür gebracht hatte, die Polsterrolle wieder vor die Ritze schob und die schweren Vorhänge zuzog. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.»Ich weiß, es war schwer für dich, deinen Großvater so zu sehen, Andrea. Aber er hat seinen Frieden, Andrea, daran mußt du denken.«

Ich mied ihren Blick. Ich fürchtete, sie könnte in meinen Augen die Wahrheit sehen, und die Wahrheit war, daß ich für meinen Großvater so wenig empfand wie für die anderen alten Männer, die krank oder sterbend in diesem Saal lagen. Die Realität des Todes, dem keiner von uns entgehen kann, war es, die mir so auf die Stimmung drückte. Diese Unausweichlichkeit, über die ich vorher nie nachgedacht hatte, und die mich nun plötzlich an Doug denken ließ.

«Ich weiß, was du brauchst«, sagte Großmutter aufmunternd.»Ich mach dir ein paar heiße scones, die werden dir schmecken. Ich habe schon lange keine mehr gebacken, aber ich habe alle Zutaten da. Na, wie war's? Hättest du Lust darauf?«Während sie auf ihren Stock gestützt in die Küche humpelte, stand ich vom Stuhl auf und versuchte, die schwarze Stimmung abzuschütteln.

«Kann ich — dir was helfen?«rief ich.

«Kommt nicht in Frage. Du brauchst gar nicht erst reinzukommen. Setz dich ans Feuer und mach's dir gemütlich. «Ich ging ein Weilchen im Zimmer umher und blieb schließlich vor der Glasvitrine in der Ecke stehen. Auf einem der Borde standen mehrere Bücher. Ich las die Titel, entdeckte eines, das mich interessierte, und öffnete die Tür, um es herauszunehmen. Es war eine in schwarzes Leder gebundene Ausgabe von Rider Haggards She. Auf der Innenseite war ein Ex Libris eingeklebt.»Naomi Dobson«, stand darauf,»zur Belohnung für fleißigen Schulbesuch und guten Fortschritt. 31. Juli 1909.«

Ich schlug das Buch auf und blätterte darin herum. Ich hatte diese Abenteuergeschichte über eine Gruppe von Forschern, die ins finsterste Afrika gezogen waren und dort eine unsterbliche Königin entdeckten, vor langer Zeit in der Highschool gelesen. An einer Stelle, die mir noch im Gedächtnis war, hielt ich inne und las.»Schwach und bedrückt wird der Sterbliche angesichts des Staubs, der ihn an seinem Ende erwartet.«

Wie wahr, dachte ich. Wie sehr hatte mich der Anblick meines sterbenden Großvaters bedrückt, da er mir bewußt gemacht hatte, daß auch mich eines Tages dieses Ende erwartete.

Als ich das Buch zurückstellte, überkam mich plötzlich ein Gefühl, als sträubten sich mir buchstäblich die Haare im Nacken. Es war ein unheimliches Gefühl, das langsam vom

Nacken zum Kopf hinaufkroch. Ich stand ganz still. Ich hatte den Eindruck, daß die Luft um mich herum sich verändert hatte. Und daß es im Zimmer dunkler geworden war.

Ich hob den Kopf und sah mich um. Das Wohnzimmer sah aus wie immer. Und doch — es war merkwürdig, irgend etwas war tatsächlich anders. Ich hätte nicht sagen können, was es war, aber mir fiel auf, daß es unheimlich still geworden war. Langsam drehte ich den Kopf zum Fenster und fuhr zusammen.

Ein Junge stand draußen, nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre. Gesicht und Hände an die Scheiben gedrückt, spähte er zu mir herein. Eine Sekunde lang starrte ich ihn erstaunt an, wobei mir der Gedanke durch den Kopf schoß, daß er etwas Vertrautes an sich hatte, dann rief ich laut:»Großmutter!«Der Junge blieb am Fenster stehen, den Blick mit einem Ausdruck unverhohlener Neugier auf mich gerichtet. Er hatte schwarzes Haar und dunkle Augen. Seine Miene wirkte trotzig durch die kleine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen.»Großmutter!«

Ich zwang mich, von der Vitrine weg zur Küche zu gehen.»Was ist denn?«rief Großmutter zurück.

«Da draußen ist ein — «Ich drehte den Kopf zum Fenster. Der Junge war verschwunden.»Was denn, Kind?«

Sich die mehlweißen Hände an der Schürze wischend, kam sie zur Tür. Aus der Küche konnte ich das Zischen des Fetts in der Pfanne hören.

«Eben hat ein Junge durch das Fenster geschaut.«

«Was? Diese frechen Bengel!«Sie packte ihren Stock, machte unsicher kehrt und humpelte in die Küche zurück. Ich folgte ihr am kleinen Tisch vorbei, wo alles voller Mehl war und der Teig halb ausgerollt unter dem Nudelholz lag, zur Hintertür. Die ganze Zeit schimpfte Großmutter halblaut vor sich hin. Sie öffnete die Tür, und die arktische Kälte schlug uns entgegen. Vorsichtig stieg sie auf das holprige Backsteinpflaster hinunter.»Diese Früchtchen! Machen sich einen Spaß daraus, alte Leute zu ärgern. Drum haben wir nie eine Türglocke einbauen lassen. Da klingeln sie nur und laufen dann davon. Also, wo ist der Bursche?«Ich sah mich in dem kleinen Hinterhof um und wußte, daß wir vergeblich suchen würden.»Er muß durch das Tor hinausgelaufen sein«, sagte ich kleinlaut.

«Was? Nie im Leben. Das Tor ist schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden. Schau nur selbst nach, es rührt sich überhaupt nicht.«

Fröstelnd inspizierte ich Schloß und Türangeln. Alles für immer zugerostet. Dann musterte ich die Mauer, die schmalen Erdstreifen mit den dürren Rosenbüschen darunter, um zu sehen, ob er Fußabdrücke hinterlassen hatte. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und spähte in Mrs. Clarks kleinen Garten und sah die endlose Kette von Mauern und Gärten und schmutzigen alten Häusern.

«Was ist da hinten, Großmutter?«

«Eine Gasse, die kein Mensch benützt. Und auf der anderen Seite das große Feld. Newfield Heath, das reicht bis zum Kanal runter. Der Bengel ist längst über alle Berge.«

«Ja…«Ich rieb mir die Arme. Die Rosenbüsche waren unberührt. Wenn jemand über die Mauer geklettert wäre, hätte er jedoch unweigerlich in ihnen landen müssen. Ich fröstelte.

«Komm wieder rein, Kind. Vergiß die Geschichte. Es war nur ein Dummejungenstreich.«

Ich folgte ihr wieder ins Haus und sperrte die Hintertür ab. Immer noch fröstelnd setzte ich mich ins Wohnzimmer. Weder die Wärme der Gasheizung noch der heiße Tee konnten die Erinnerung an das unheimliche Gefühl vertreiben, das mich befallen hatte, ehe ich den Jungen am Fenster gesehen hatte. Und ebenso wenig den Eindruck, ihn schon einmal gesehen zu haben.

Unser Abendessen bestand aus Butterbroten und heißer Milch. Danach setzten wir uns wieder an den Kamin. Ich kuschelte mich tief in den Sessel und ließ mich von der Wärme des Zimmers einlullen. Ich war unglaublich müde und wäre am liebsten sofort zu Bett gegangen, aber ich spürte, wie sehr Großmutter meine Gesellschaft genoß, wieviel Freude es ihr machte, mich zu umsorgen, und zwang mich deshalb, wach zu bleiben. Sie schwatzte eine Weile über dieses und jenes, über das Ausländerproblem in England, über lang vergangene glückliche Tage, erzählte mir aus der Kindheit meiner Mutter, von William, Elsie und Ruth, die in diesem Haus aufgewachsen waren, von dem Tag, als meine Mutter der Familie ihren zukünftigen Mann vorgestellt hatte. Ich hörte ihr gern zu, auch wenn ich vieles, was sie erzählte, schon von meiner Mutter gehört hatte. Nach einer Weile jedoch fiel mir auf, daß sie es sehr bewußt vermied, von der ferneren Vergangenheit zu sprechen. Als gäbe es da eine Tür, die sie nicht zu öffnen wagte.

Dann sagte sie:»Ich hab hier irgendwo einen Karton mit Fotografien. Die mußt du dir ansehen.«

Ich blieb mit geschlossenen Augen in meinem tiefen Sessel sitzen, gab mich der Stille und dem Frieden des Raums hin und versuchte, eine Mauer aufzurichten gegen die Erinnerungen, vor denen ich hierher geflohen war. Ich hoffte, es würde nicht mehr lang dauern, bis ich ohne Schmerz an Doug denken konnte.»Na bitte, da sind sie schon. «Großmutter hatte den Karton mit den Fotos gefunden und setzte sich wieder zu mir.»Das sind alles Bilder von deiner Mutter und Elsie und William, als sie noch klein waren. «Sie kramte in der Schachtel.»Hier ist eine von uns allen, als wir am Meer waren. Das muß so um 1935 gewesen sein. Deine Mutter war damals fünfzehn, Elsie sechzehn, und William war noch ein richtiger kleiner Lauser.«

Ich sah mir die unscharfe Aufnahme an und beugte mich dann neugierig über den Karton. Die Fotografien lagen kunterbunt durcheinander, lauter Schwarzweißaufnahmen, die alle etwa aus der gleichen Zeit zu stammen schienen.

Aber am Rand des Durcheinanders, an die Wand des Kartons gedrückt, so daß eine Ecke in die Höhe ragte, entdeckte ich ein Foto, das größer war als die anderen und, nach dem zu urteilen, was von ihm zu sehen war, beträchtlich älter. Während Großmutter weiter schwatzte, griff ich in den Karton und zog das Bild heraus.

Ich hatte recht gehabt. Sie war wirklich älter als die anderen. Viel älter. Eine sepiabraune, leicht verblaßte Fotografie mit einem Knick in der Mitte, die drei Kinder auf einer Treppe vor einem Haus zeigte.

Wie gebannt starrte ich auf das Foto. Einen Moment stockte mir der Atem.

«Großmutter«, sagte ich dann.

Sie blickte auf das Foto in meiner Hand.»Was ist das für eines?«

«Wer sind die Kinder, Großmutter?«

«Warte, da muß ich erst meine Brille aufsetzen. «Sobald sie ihre Bifokalbrille auf der Nase hatte und die Gesichter der drei Kinder erkennen konnte, verzog sie unwillig den Mund.»Oh«, sagte sie wegwerfend.»Das da! Das sind die Townsends, Andrea. Die Familie deines Großvaters. Das sind Harriet, Victor und John. Komm, gib her, das ist nichts — «Und sie griff nach dem Foto, um es mir wegzunehmen.

Aber ich hielt es fest. Ich sah, daß meine Hand zitterte.»Wer — «Ich mußte meine Lippen befeuchten.»Wer ist wer, Großmutter?«