Und sie erinnerte sich ihrer eigenen Worte —»Versprich mir, daß du John in Ruhe läßt«- Victors Antwort:»Wenn es dein Wunsch ist, verspreche ich es.«
John lächelte so siegessicher wie ein Kartenspieler, der weiß, daß er die Partie gewinnen wird.»Deine Augen sagen etwas anderes als dein Mund. Ich sehe es in deinem Gesicht, Jenny, daß von deiner Liebe zu Victor nichts übriggeblieben ist. «Doch was er in Wirklichkeit sah, war die tiefe Abscheu, die sie dieser Familie und dieser Stadt entgegenbrachte für das, was sie Victor angetan hatten. Sie hatten ihn verurteilt und verdammt, ohne ihm überhaupt eine Chance zur Verteidigung zu geben. Wenn du jemandem die Schuld an all diesem Unglück geben willst, sagten ihre Augen, dann gib sie Harriet, die sich in diese
Situation gebracht hat und dann alles noch Megan O'Hanrahan erzählen mußte. Was
John Townsend im Gesicht seiner Frau sah, war bittere Ernüchterung.»Du solltest jetzt besser gehen, John.«
«Ja, Liebes, ich gehe. Aber glaub mir, ich komme zurück. Bald schon. Und mit Geld in der Tasche. Du wirst sehen. «Ich entdeckte einen Unterton beinahe freudiger Erregung in seiner Stimme und ein Blitzen von Abenteuerlust in seinen Augen. John Townsend hatte es endlich geschafft, der Fuchtel seines Vaters zu entkommen. Er riskierte dabei vielleicht Kopf und Kragen, und er ging in Schande, aber er tat endlich das, worum er Victor immer beneidet hatte: Er ging fort aus diesem Haus.»Dann wird es uns gutgehen, und wir werden in unserem eigenen Haus leben. Ich engagiere dir ein Dienstmädchen und lasse ein Telefon installieren. Was sagst du dazu, Jenny, Liebes, ein Telefon!«
«Es ist spät John.«
Ohne ein weiteres Wort nahm er die Reisetasche, küßte Jennifer kurz und heftig und eilte aus dem Zimmer. Sie blieb reglos stehen, und wir hörten, wie er leise die Zimmertür hinter sich zuzog und wenig später die Haustür. Als sie gewiß war, daß er fort war, als im Haus Grabesstille eingekehrt und nur noch das feine Ticken der Uhr zu hören war, stieß Jennifer ein herzzerreißendes Schluchzen aus und stürzte zu Boden. Als ihre Hand meinen Fuß berührte, verschwand sie.
Gegen halb zehn erwachte Großmutter aus ihrem Schlummer. Mit Hilfe ihres Stocks stemmte sie sich aus dem Sessel und humpelte hinaus, um nach oben in ihr Zimmer zu gehen. Ich hörte, wie sie im Bad heißes Wasser in die Wärmflaschen laufen ließ und dann in ihr Zimmer tappte. Ich hörte das Quietschen der Sprungfedern, als sie sich in ihr Bett sinken ließ. Danach strich ein wispernder Wind durch das Haus, und es war, als seufzten die Wände. Ich wartete ungeduldig auf meine nächste Begegnung.
Sie erfolgte wenige Minuten später.
Während ich noch über das Unglück nachdachte, das die Familie Townsend damals heimgesucht hatte, hörte ich im Salon Geräusche. Langsam, unsicher ging ich hinüber. Noch vor wenigen Tagen hatte ich nur heitere Szenen miterlebt, ganz normale Familienszenen, in denen sich die Townsends wie jede andere Familie gezeigt hatten. Aber dann war eine Wendung erfolgt. Die Episoden, deren Zeugin ich wurde, waren immer beängstigender geworden. Sie hatten jetzt etwas Makabres, Untertöne von Blut und Schande und Vernichtung. Was würde ich diesmal erleben? Wie weit würde diese Familie in ihrem Hang zur Selbstzerstörung noch gehen?
Harriet war im Salon. Sie lag auf dem großen Sofa, den Kopf in die Arme gedrückt, und schluchzte. Ich blieb an der Tür stehen, nicht ohne Mitgefühl mit diesem Kind, das so ahnungslos in die Welt der Erwachsenen hineingestolpert war. Ich hätte gern gewußt, was für einen Tag man schrieb, in welchem Jahr wir uns befanden. Wieviel Zeit war seit der Abtreibung vergangen? Was war in der Zwischenzeit geschehen? Wo war Victor? Was war nach seinem Sturz aus ihm geworden? Und war Scan O'Hanrahan verschwunden? War John schon zurück, die Taschen voller Geld vielleicht? Oder hatte sich etwas Neues ereignet, das mir jetzt offenbart werden sollte?
«O Gott, o Gott, o Gott«, schluchzte Harriet unaufhörlich.»Es ist alles meine Schuld. Ich hab's ihm gesagt. Ich hab's ihm selbst gesagt. Ich hätte den Mund halten sollen. Ich brauchte es ihm nicht zu sagen.«
Sie marterte sich mit Selbstvorwürfen.
Das Feuer im Kamin war fast ganz heruntergebrannt, und das Zimmer wirkte düster. Harriet lag da, als hätte sie sich in einem heftigen Anfall von Verzweiflung niedergeworfen.»Natürlich ist er jetzt böse und bitter. Ich hätte es ihm nicht sagen sollen. Er ist böse, und darum hat er es getan. Ich kann's ihm nicht einmal übelnehmen. Ich kann nur mir selbst die Schuld geben. Ja, ich bin selbst schuld daran, weil ich so dumm war. So unglaublich dumm.«
Den Rest verstand ich nicht. Sie schluchzte in ihre Arme und brabbelte immer weiter.
Nur ab und zu, wenn sie sich besonders heftig erregte und laut wurde, konnte ich verstehen, was sie sagte.»Ach, hätte ich doch nur den Mund gehalten. Dann hätte er das nicht getan. Jetzt kann ich nie wieder unter Menschen gehen. «Sprach sie immer noch von Scan? Oder meinte sie Victor? Als Harriet sich schließlich aufsetzte und sich die Augen wischte, wich ich entsetzt und erschrocken zurück. Sie sah aus, als hätte man ihr den Kopf geschoren. Sie stand auf und ging zu dem goldgerahmten Spiegel, der über dem Kamin hing. Voller Abscheu musterte sie sich darin.»Du kannst es ihm nicht übelnehmen«, murmelte sie wieder, während sie ihr verschwollenes Gesicht unter dem kurzgeschnittenen Haar betrachtete.»Er ist böse auf dich, und das ist kein Wunder. Er wußte nicht, wie er seinen Zorn und seine Wut sonst an dir auslassen sollte. Du hättest dich gleich umbringen sollen, dann wären jetzt alle froh und glücklich. Ihm wäre die Schande erspart geblieben. Mutter wäre nicht krank geworden, und John wäre nicht davongelaufen. Ja, ja, schau dich nur an! Wer kann ihm einen Vorwurf machen?«
Es war kaum Bitterkeit in ihrer Stimme. Sie sprach eher in einem kindlich flehenden Ton, wie das Opfer, das seinen Folterknecht anbettelt, es zu verschonen.
Sie sah schrecklich aus. Von dem schönen kastanienbraunen Haar, das voll und lockig ihr Gesicht umrahmt hatte und das einzig wirklich Reizvolle an ihr gewesen war, waren nur noch millimeterkurze, ungleichmäßig geschnittene Büschel übrig, die stachlig von ihrem Kopf abstanden. An manchen Stellen war das Haar so kurz, daß die nackte Kopfhaut durchschimmerte. Mit dem verschwollenen Gesicht, den rotgeränderten Augen und dem borstig wirkenden Haar sah Harriet beinahe aus wie der kleine Affe eines Drehorgelmanns.
Ich bedauerte den Vergleich augenblicklich. Ich sah ja, wie gequält und unglücklich sie war, und sie tat mir in der Seele leid. Ich fragte mich, wer sie so grausam zugerichtet hatte und warum.»Ich hab's verdient«, flüstert sie weinend vor dem Spiegel.»Ich hab's verdient. Er hatte alles Recht dazu, nach dem, was ich ihm angetan habe. O Gott — er hatte das Recht dazu. «Nicht fähig, den eigenen Anblick länger zu ertragen, rannte Harriet vom Spiegel zum Sofa zurück, warf sich erneut darauf nieder und begann wieder zu schluchzen.
Ich dachte an das unschuldige und sensible Kind, das sie gewesen war, und hatte nur den Wunsch, sie zu trösten, ihr irgendwie zu helfen. Ohne Überlegung sagte ich:»Harriet, was ist denn geschehen?«Und sie riß den Kopf in die Höhe und starrte mich an.
Kapitel 15
Nun war es also endlich soweit! Das, was ich gehofft und gefürchtet hatte, war eingetreten: Die Verbindung zur Vergangenheit war hergestellt.
War dies der Grund, weshalb ich in diesen Ablauf der Ereignisse hineingezogen worden war? War dies der Zweck, den ich zu erfüllen hatte? Es war, als hätten sich plötzlich die Wolken gelichtet und die Sonne träte hervor.
Bei meinen Worten hatte Harriet zu weinen aufgehört und aufgeblickt. Ihr Gesicht war erschrocken gewesen, als hätte sie sich ertappt gefühlt. Und doch hatte sie mich anscheinend nicht wirklich gesehen. Sie hatte mit zusammengekniffenen Augen in meine Richtung geblickt, als versuchte sie, etwas zu erkennen, und dann hatte ihr Gesicht sich entspannt. Was war ich in diesem Moment für sie gewesen? Eine optische Täuschung, durch einen Lichtreflex hervorgerufen? Ein Schatten an der Wand? Was hatte Harriet gesehen, als sie den Kopf gehoben und zu mir herübergeblickt hatte?
Viel konnte es nicht gewesen sein. Nachdem sie einen Moment lang wie fragend den Kopf zur Seite geneigt hatte, hatte sie ihn wieder auf ihre Arme gesenkt und weitergeweint. Doch es blieb die Tatsache bestehen, daß sie mich gehört hatte. Ich hatte ihren Namen gerufen, und sie hatte mich gehört. Und dann hatte sie etwas gesehen — drüben, an der offenen Tür. Meiner Meinung nach konnte das nur eines bedeuten: daß das Zeitfenster größer wurde; daß nun auch der letzte der Sinne — der Tastsinn — miteinbezogen wurde und die Möglichkeit der Berührung gegeben war.
Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ die Ereignisse der anderthalb Wochen, die ich nun in Großmutters Haus lebte, in mir Revue passieren. Ich erinnerte mich meiner ersten >Begegnungen<. >Für Elise< vor dem Hintergrund der Dudelsäcke. Victor am Fenster. Es ergab eindeutig ein Muster. Erst das Gehör. Dann das Gesicht. Dann der Geruch. Dann vage körperliche Empfindungen wie zum Beispiel Kälte oder ein Gefühl der Nähe, wenn einer von ihnen an mir vorüberging. Und heute abend schließlich hatte Jennifers Hand meinen Fuß berührt. Wir kamen in Kontakt.
Und mit dem Kontakt würde die Verbindung kommen. Hatte nicht Victor sich einmal umgedreht, als ich ihn beim Namen gerufen hatte? Und jetzt Harriet. Harriet hatte augenblicklich reagiert, als ich sie angesprochen hatte.
Es war also soweit. Für mich gab es jetzt keinen Zweifel mehr daran, daß ich bald in der Lage sein würde, mit ihnen zu sprechen, mich ihnen bemerkbar zu machen, ihnen sichtbar zu werden. Darauf also hatte alles hingeführt, auf diesen letzten Moment, da ich wirklich zu ihnen gehören würde.
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