Todmüde stand ich auf und schleppte mich zum Kamin hinüber. Großmutter würde bald herunterkommen und sich wieder aufregen, wenn sie sah, daß der Gasofen nicht ging. Ich stellte ihn an, schaltete ihn auf die niedrigste Stufe und tappte zum Sofa hinüber.
Wollte ich denn überhaupt dieses Haus jemals verlassen und wieder in mein früheres Leben zurückkehren, fragte ich mich. Würde ich es fertigbringen, Jennifers aufopfernder Liebe, der Erregung von Victors Nähe den Rücken zu kehren? Selbst Johns ausweglose Verzweiflung und Harriets Angst und Kummer hatten mich lebendig gemacht, so daß ich mich, zeitweise wenigstens, ganz gefühlt hatte. Bestand darin ihre zauberische Kraft, in ihrer Fähigkeit, mich zum Leben zu erwecken, Gefühle in mir zutage zu fördern, die ich niemals zuvor gekannt hatte? Ich fieberte jetzt den kurzen Episoden aus der Vergangenheit entgegen wie ein Drogensüchtiger seiner Spritze. Solange ich in der Zeit meiner Vorfahren lebte, war ich, was auch immer für Qualen ausgesetzt, wahrhaft lebendig. In den Perioden dazwischen, die mir endlos erschienen, war ich hingegen wie abgestorben. Die Stunden krochen dahin. Ich sah immer wieder auf die Uhr und konnte es nicht glauben, daß mir fünf Minuten so lang wie eine Stunde schienen. Großmutter kam nicht herunter. Als sie um acht Uhr noch immer nicht erschienen war und ich von oben keinerlei Geräusche hörte, beschloß ich, hinaufzugehen und nach ihr zu sehen.
Ich bewegte mich träge und schwerfällig. Ich sah, daß meine Fingernägel blau unterlaufen waren. Es mußte eiskalt sein in diesem
Haus, doch ich fühlte es nicht. Am oberen Ende der Treppe blieb ich stehen und lauschte. Aus dem Zimmer meiner Großmutter war kein Laut zu hören.
Jetzt wurde ich unruhig. Von Besorgnis aus meinem Zustand völliger Gleichgültigkeit gerissen, erinnerte ich mich endlich daran, wer ich war und wo, und mir fiel ein, daß Großmutter am vergangenen Tag schlecht ausgesehen hatte. Ich klopfte bei ihr. Nichts rührte sich.»Großmutter?«Keine Antwort.
Ich öffnete die Tür und schaute ins Zimmer. Es war ganz dunkel. Ich blieb einen Moment lauschend stehen und hörte immer noch nichts. Mit wachsender Besorgnis lief ich durch das Zimmer, schlug mich dabei an diversen Möbelstücken an und erreichte schließlich das Fenster. Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge auf.
Das Bett war leer.»Was ist denn, Kind?«Ich fuhr zurück.»Großmutter!«
«Ich war im Bad, Andrea, hast du mich nicht gehört?«Ihr plötzliches Erscheinen hatte mich erschreckt.»Nein«, sagte ich.»Ich habe dich nicht gehört. Ich habe dich auch nicht aufstehen hören.«
«Ja, ich war aber auch ganz leise. Ich dachte, du schläfst vielleicht noch, und wollte dich nicht wecken. Wie fühlst du dich denn? Ich sehe, du bist schon angezogen.«
«Ja… Ich — mir geht's gut. Gott, hast du mich eben erschreckt.«
«Du bist schrecklich nervös, Kind. Das gefällt mir gar nicht. Komm, gehen wir runter und machen uns einen heißen Tee. «Als ich wieder unten am Fenster saß und in den Regen hinausstarrte, gestand ich mir ein, wie recht meine Großmutter hatte. Ich war wirklich nervös.
Mehr als das — meine Nerven waren aufs Höchste angespannt. Aber was hätte ich anderes erwarten können. Ich aß nicht, ich schlief kaum und war Nacht für Nacht der Spielball heftiger Gefühle.
«Wirklich, Kind, ich möchte wissen, was dir fehlt. Du machst mir Sorgen. Und dazu dieser schreckliche Regen, wie sollen wir da einen Arzt ins Haus holen?«
«Ich brauche keinen Arzt, Großmutter. Nur ein bißchen — eine Tasse Tee wird mir guttun. «Ich zwang mich, das süße Gebräu zu schlucken. Aber von meinem Toast brachte keinen Bissen herunter.
«Ist es wieder die Verdauung?«
«Nein!«Lieber Gott, niemals würde ich dieses gräßliche weiße Zeug hinunterbringen.»Meine — Verdauung ist in Ordnung, Großmutter. Es ist nur — es ist nur…«
«Weißt du was, ich geh dir ein Glas Kirschlikör, und dann pack ich dich richtig ein, und du setzt dich ans Feuer. Du brauchst Wärme. Du frierst dich ja zu Tode. Schau dich doch nur an. «Sie neigte sich zu mir und berührte meinen Arm.»Um Gottes willen!«rief sie entsetzt.»Du bist ja so kalt wie eine Leiche!«Ich sah auf meine Arme hinunter.
«Es ist ein Wunder, daß du dir noch keine Lungenentzündung geholt hast. Wie kannst du diese Kälte nur aushaken? Im Radio haben sie gesagt, daß die Temperaturen noch weiter fallen. Hier drinnen hat's keine zehn Grad. Ich hab drei Strickjacken an und friere immer noch. Und du — halbnackt. Ich frag mich wirklich, wie du das aushältst.«
Es ist dieses Haus, dachte ich. Es will mich langsam umbringen. Wir setzten uns ans Feuer, und obwohl ich unter der Hitze litt, blieb ich Großmutter zuliebe brav sitzen. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Und so saßen wir fast den ganzen Tag.
Am frühen Abend fühlte sich Großmutter so weit durchgewärmt, daß sie keine allzu starken Schmerzen mehr hatte, wenn sie sich bewegte. Sie ging in die Küche und machte uns ein kleines Abendessen. Wie ich es hinunterbrachte, weiß ich selbst nicht. Ich kaute und schluckte ganz automatisch, ohne etwas zu schmecken, und behielt es sogar bei mir.
Danach wurde ich schläfrig. Ich hatte schon lange nicht mehr soviel gegessen. Trotz meiner gereizten Nerven und der unablässigen Gedanken, die in meinem Kopf wirbelten, erlag ich schließlich der Hitze.
Als ich erwachte, sah ich als erstes auf die Uhr. Es war neun. Dann sah ich nach Großmutter. Sie schlummerte friedlich in ihrem Sessel. Draußen tobte immer noch der Sturm. Im Zimmer brannte nur eine Stehlampe in der Ecke. Ein diffuses Licht erfüllte den Raum, und es zeigte mir John, der am Kamin stand. Er war nervös, trommelte mit den Fingern auf den Kaminsims, sah immer wieder auf die Uhr. Seine ganze Haltung drückte ungeduldige Erregung aus, und sein Gesicht war angespannt. Als Jennifer fast lautlos ins Zimmer schlüpfte und leise die Tür hinter sich schloß, atmete er erleichtert auf. Sie hatte eine gepackte Reisetasche mitgebracht.
«Danke, Liebes«, sagte John, als er sie ihr abnahm.»Hat dich jemand gehört?«
«Nein. Sie schlafen alle. Vater und Mutter haben sich vor ungefähr einer Stunde zurückgezogen, und Harriet schläft in unserem Bett. Ich lege mich heute nacht aufs Sofa im Salon.«
«Jenny — «
«Ich habe dir meine Granatohrringe eingepackt«, fuhr sie steif fort.»Sie haben fünf Pfund gekostet, da müßtest du eigentlich noch ein oder zwei Guineen für sie bekommen. Du wirst das Geld brauchen.«
«Jennifer. «Zaghaft und unsicher legte er die Arme um sie.»Es schmerzt mich tief, daß ich so plötzlich fort muß. Ich hatte gehofft, ich hätte noch ein paar Tage Zeit und wir könnten auf würdigere Weise voneinander Abschied nehmen. Aber nun hat mein ehrenwerter Bruder mir die Hunde auf den Hals gehetzt, und ich muß gleich fort, wenn ich mit dem Leben davonkommen will.«
Jennifers Gesicht war unbewegt, als ich ihre Wange küßte.»Du wirst mir schrecklich fehlen, Jenny, mehr als ich dir sagen kann. Ich werde oft an dich denken. «Sie sah ihn an wie versteinert.»Hast du keine Tränen für mich?«
«Ich werde auf dich warten, John.«
«Ja, das weiß ich. Jetzt brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß du mit Victor, diesem Schurken, auf und davongehen wirst. Jetzt, da er den Namen der Familie in den Schmutz gezogen hat, erkennst du ihn wohl endlich als den, der er wirklich ist. «Jennifer stand kerzengerade da und sah ihren Mann mit steinerner Miene an. Ich spürte die starre Kälte ihres Herzens. Sie durchdrang mich, wie Harriets Jammer mich durchdrungen hatte, und Fetzen trüber Gedanken erzählten mir vom Schmerz und Entsetzen über Victors vernichtenden Sturz. Der Name Megan O'Hanrahan wehte bitter und schmerzhaft durch unsere Gedanken. Sie war es, die das Gerücht von Harriets Abtreibung ausgestreut und den Ruf Victors, der sie angeblich vorgenommen hatte, ruiniert hatte. Ich erinnerte mich mit Jennifer ihrer flehentlichen Bitten an ihn, die Behauptung zurückzuweisen, und ich erinnerte mich mit Jennifer seines beharrlichen Schweigens. Nicht ein einziges Wort hatte Victor zu seiner Verteidigung vorgebracht, während sich das Gerücht von der Abtreibung wie die Schwarze Pest in Warrington verbreitet hatte. In sehr kurzer Zeit war vom Ansehen Victor Townsends nichts mehr übrig gewesen.
Bilder von Mrs. Townsend stiegen auf, die vor Scham und Demütigung schwer krank geworden war und nun von ihrem Leiden an ihr Bett gefesselt war; Bilder von Mr. Townsend, der jeden Morgen stolz und hocherhobenen Hauptes den Weg zur Arbeit antrat und jeden Abend niedergedrückt wie ein geprügelter Hund heimkehrte.
Er hatte gehört, was hinter seinem Rücken getuschelt wurde, absichtlich so laut, daß er es nicht überhören konnte. Da, seht ihn euch an. Seine Tochter ist nicht mehr als eine gemeine Hure. Sein
ältester Sohn ist ein Engelmacher. Sein jüngster ist ein Trinker und Spieler.
«Du glaubst mir nicht, stimmt's?«
«Nein, ich glaube dir nicht.«
«Aber es ist wahr. Victor ging schnurstracks zu den Buchmachern und sagte ihnen, daß ich vorhabe, aus der Stadt zu verschwinden. Da sind sie natürlich prompt zu mir gekommen, haben mich bedroht und ihr Geld verlangt. Ich mußte sie mit einer Lüge abspeisen. Ich versprach ihnen, sie würden es gleich morgen bekommen. O ja, du kannst es mir glauben, das habe ich Victor zu verdanken. Er wollte mich für seinen eigenen Ruin büßen lassen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß ich davonkommen sollte. Er allein kann es gewesen sein, denn niemand sonst wußte von meinen Plänen. Nur dir und ihm habe ich davon erzählt, und ich glaube doch nicht, daß meine eigene Frau mir die Meute auf den Hals hetzen würde — oder?«Jennifer antwortete nicht. Sie hörte in diesem Moment eine andere Stimme, Victors Stimme. Sie sah sich mit ihm im Salon. Er hatte eben die Hände von den Tasten des Klaviers genommen und sagte:»Er braucht einen Schock. Er muß gezwungen werden-«
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