Abrupt machte John Townsend kehrt, stürmte zur Tür zurück und riß sie zornig auf.»Wir brauchen keine Almosen von meinem Bruder«, schrie er wütend.»Victor hat jetzt wirklich alles, nicht wahr? Er hat Geld, er hat einen Ruf wie ein Heiliger, und er hat meine Frau. Aber ich sage dir eines, Jennifer, weit wird er damit nicht kommen.«
Ich spürte das Zittern der Wände, als er krachend die Tür hinter sich zuschlug. Als ich mich wieder Jennifer zuwenden wollte, war sie verschwunden.
Ich stand wieder im schäbigen Wohnzimmer meiner Großmutter. Statt des grünen Samts lagen auf den Sesseln die geblümten Schonbezüge. Der Teppich war alt und abgenützt, im Kamin stand der Gasofen. Ich war zurück in der Gegenwart.
Dieses episodenhafte Leben in der Vergangenheit erschöpfte mich. Das plötzliche Erscheinen und Verschwinden der Townsends war jedes Mal ein Schock. Meine Nerven waren angegriffen, meine Hände zitterten, ich hatte keinen Appetit, der Schlaf mied mich, und mein Gehirn lief ständig auf Hochtouren. Eine Frage beschäftigte und quälte mich beinahe unablässig. Wie kam es, daß Victor von seinen Nachfahren der Stempel des Bösen und Nichtswürdigen aufgedrückt worden war, wenn doch, soweit ich erlebt hatte, John derjenige mit dem schwachen, um nicht zu sagen schlechten Charakter gewesen war? Victor Townsend war ein guter und ehrenhafter Mensch gewesen, voll Mitgefühl mit den Leidenden und treu in seiner Liebe zu einer einzigen Frau. Wieso wurde er von seinen Nachfahren so verleumdet? Ich fand die Hitze im Zimmer plötzlich erdrückend. Gereizt stand ich auf und schaltete den Gasofen aus. Während ich noch über das Gerät gebeugt stand, hörte ich plötzlich fern und traumhaft die Klänge eines Klaviers. Abrupt richtete ich mich auf. >Für Elise< wieder, süß und schwermütig. Von allen Seiten zugleich schienen die sanften Töne durch den Raum zu schwingen. Die Uhr auf dem Kaminsims war stehengeblieben. Die Vergangenheit hatte mich wieder eingeholt.
Langsam und gespannt bewegte ich mich durch das Zimmer und versuchte, die Quelle der Musik ausfindig zu machen. Als ich die Sessel umrundete und der Wand näherkam, die mich vom Salon trennte, hörte ich das Klavierspiel deutlicher. Versuchsweise schlich ich mich zur Tür und zog sie geräuschlos auf. Die Musik kam aus dem Salon.
Ich ließ die Helligkeit des Wohnzimmers hinter mir und tauchte in die Finsternis des Flurs. An der Wand tastete ich mich bis zur Salontür, die angelehnt war. Von drinnen schimmerte schwacher Lichtschein heraus.
Mit klopfendem Herzen stieß ich die Tür ein Stück weiter auf und streckte den Kopf durch den Spalt. Ein Zimmer lag vor mir, das ich nie gesehen hatte.
Die Flammen eines prasselnden Feuers beleuchteten farbig bezogene Sessel, kleine Tischchen, ein großes Sofa, Nippes und Glaskästen, großblättrige Pflanzen in Messingtöpfen, helle Wände, die dicht mit gerahmten Fotografien behängt waren. In der Mitte der
Zimmerdecke brannte zu meiner Überraschung eine Lampe mit elektrischem Licht.
Einen Moment lang blickte ich zu ihr hinauf, während die zarten Töne von >Für Elise< mich umspielten, dann erst wandte ich mich nach rechts, dem kleinen Spinett an der Wand zu. Auf dem Schemel vor dem Instrument saß elegant gekleidet in rostbraunem Gehrock und schwarzer Hose Victor Townsend. Das lange, lockige Haar war ihm über die Schulter nach vorn gefallen und verdeckte halb das ernste Gesicht, das tiefe Versunkenheit ausdrückte.
Jennifer, die in einem langen Satinkleid am Feuer saß, war ihm zugewandt, und ihr Blick hing voller Liebe und Bewunderung an ihm.
Ich glaube, mein Gesicht drückte ähnliche Gefühle aus, denn auch ich erlag augenblicklich dem Zauber von Victors Spiel. Die schlichte kleine Weise verwandelte sich unter seinen Fingern zu einem behexenden Lockruf. Ich blieb reglos an der Tür stehen, hin und her gerissen zwischen zwei Sehnsüchten; daß die Musik niemals aufhören möge und daß er im Spiel innehalten möge, um mit uns zu sprechen.
Als er dann tatsächlich zu spielen aufhörte, blieb er lange Zeit schweigend sitzen, den Blick auf die Tasten gesenkt, als brauche er Zeit, um in die Gegenwart zurückzufinden. Mit den Klängen von >Für Elise< hatte Victor seine Seele freigesetzt, und jetzt mußte er sie zurückholen und wieder in ihren Käfig sperren. Auch Jennifer sprach nicht, auch sie war noch in einer anderen Welt, aus der sie nicht zurückkehren wollte. Sie wünschte sich, dieser Moment würde ewig dauern.
«Kannst du es noch einmal spielen?«fragte sie schließlich. Victor drehte sich auf dem Klavierschemel herum und legte die
Hände auf die Knie.»Ich habe nicht viel Zeit. Die anderen werden bald nach Hause kommen.«
«Sie würden sich freuen, dich spielen zu hören. «Victor schüttelte den Kopf.»Sie dürfen uns niemals allein hier vorfinden, Jenny, sonst werden sie glauben, was sie tief drinnen befürchten, und in unser Verhalten etwas hineinlesen, was niemals stattgefunden hat. «Sein Gesicht verdunkelte sich.»Und niemals stattfinden wird.«
«Ach, komm doch bitte und setz dich zu mir. «Er stand auf, beeindruckend in seiner Größe und seinem markanten Aussehen, ging zu dem Sessel an Jennifers Seite und setzte sich. Das feine Leder seiner Stiefel glänzte im Feuerschein, als er die Beine ausstreckte.
«Meine Mutter hat mir Indiskretion vorgeworfen«, sagte er.»Wie ironisch, da nicht einmal ein Händedruck zwischen uns getauscht wurde.«
«Bitte, Victor, sei nicht bitter.«
«Und warum nicht? Jeden Sonntag hierherzukommen, im selben Raum mit dir zu sitzen und so zu tun, als dächte ich nicht, was ich denke! Du scheinst zufrieden, Jenny, bereit, dich mit dem zu begnügen, was uns gegönnt ist. Aber ich bin es nicht. Ich verfluche mein Schicksal. «Er lachte kurz und trocken.»Es hat uns wahrhaft übel mitgespielt. Hätte ich dir nur viel früher schon gesagt, daß ich nach Warrington zurückkehren werde, dann hättest du John nicht geheiratet und wärst jetzt meine Frau. Du könntest ein großes Haus führen und brauchtest dir keine Sorgen zu machen. Statt dessen bist du mit einem Mann verheiratet, der seine Tage auf der Rennbahn zubringt und seine Abende im Gasthaus.«
«Bitte, Victor«, sagte sie leise.
«Ich finde, John sollte sich seinen Schwächen endlich stellen und versuchen, sein Leben zu ordnen. Er ist ständig auf der Flucht vor seinen Gläubigern, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihm keinen Ausweg mehr lassen werden. Gestern lieh er sich Geld, um heute Cyril Passwater zu bezahlen, von dem er sich letzte Woche
Geld geborgt hatte, um Alfred Grey zu bezahlen. Was glaubst du, wie lange er so weitermachen kann? Er will kein Geld von mir nehmen, obwohl ich weiß Gott genug habe. Lieber spielt er weiter dieses riskante Versteckspiel. Es ist an der Zeit, daß John seinen Verpflichtungen ins Auge sieht und sich auf anständige Weise mit seinen Gläubigern einigt. Und daß er endlich aufhört zu spielen.«
«Das ist leicht gesagt, Victor, aber John sieht es nicht so. Jeden Tag glaubt er, daß er endlich den großen Gewinn einstreichen wird, mit dem er alle Schulden bezahlen und ein Haus für uns kaufen kann.«
«Und jeden Tag gerät er tiefer in Schulden. Jennifer, man kann nicht ein Loch aufreißen, um ein anderes zu füllen. Wenn es nach mir ginge — «
«Es geht aber nicht nach dir. John ist sein eigener Herr, und wenn er vielleicht auch sonst nicht viel vorweisen kann, so hat er doch seinen Stolz. Du darfst dich da nicht einmischen, Victor.«
«Wenn er nicht mit dir verheiratet wäre, würde mich das alles überhaupt nicht kümmern. Aber er ist dein Mann, und er macht dich unglücklich. Nur deinetwegen, Jenny, möchte ich, daß John endlich reinen Tisch macht.«
«Dann laß ihn um meinetwillen auch in Frieden. John muß selbst seinen Weg finden.«
«Er braucht einen Schock, er muß gezwungen werden — «
«Victor!«
Sein Gesicht mit der scharfen Einkerbung zwischen den dunklen Brauen war zornig, als er Jennifer ansah. Er hatte Mühe, seine Bitterkeit in Schach zu halten, ließ sich von ihr allzu oft zu Worten von schneidender Schärfe hinreißen.
«Versprich mir«, sagte Jennifer ruhig,»daß du John in Ruhe läßt.«
Er starrte grimmig ins Feuer.»Wenn du es so wünschst, dann verspreche ich es. «Ich beobachtete sein Gesicht und erhielt dabei eine Ahnung von seinen Gedanken. Er dachte an den Erfolg, den er sich in diesen anderthalb Jahren seit seiner Rückkehr aus London in Warrington erarbeitet hatte, an die Verbesserungen, die er am hiesigen Krankenhaus hatte bewirken können, an das Ansehen, das er in dieser Stadt genoß. Er war der Leibarzt des Bischofs in Warrington und der Hausarzt der Familie des Bürgermeisters. Er hatte Ehrungen eingeheimst und großen Einfluß gewonnen. Aber an alledem lag ihm wenig.
Sein Forscherdrang hatte sich nicht gelegt, immer noch beherrschte ihn der starke Wunsch, durch streng wissenschaftliche Arbeit den Weg für den medizinischen Fortschritt zu ebnen. Ich spürte seine Enttäuschung über seine Hilflosigkeit, den Opfern von Gehirntumoren oder schweren Herzkrankheiten zu helfen. Es quälte ihn, daß er sich nicht am Kampf gegen die zahllosen Leiden und Krankheiten beteiligen konnte, die immer noch Tausende und Abertausende dahinrafften, weil kein Mittel gegen sie gefunden war. Dies war der Platz, an dem er gebraucht wurde, hier auf dem dunklen Kontinent der Medizin, Victor Townsend wollte Lichter anzünden.
«Woran denkst du?«fragte Jennifer leise.
«An einen Mann namens Edward Jenner. Weißt du, wer er war?«Victor wandte sich ihr wieder zu. Die Düsternis seines Gesichts hatte sich aufgehellt, seine Züge wirkten lebhaft.»Edward Jenner war ein Mann, der sich eines Tages fragte, wieso Melkerinnen eigentlich nie die Pocken bekamen. Ihm fiel außerdem auf, daß Melkerinnen fast immer irgendwann einmal an den Kuhpocken erkrankten. Er überlegte, ob da vielleicht ein Zusammenhang bestünde und was geschehen würde, wenn man Gesunde mit dem Erreger der Kuhpocken impfte; ob man sie nicht damit vielleicht vor den tödlichen Schwarzen Blattern bewahren könnte. Alle Welt lachte ihn aus, Jenny, aber dank Edward Jenners Pockenimpfstoff können wir alle ohne Furcht vor dieser schrecklichen Krankheit leben, die früher einmal ganze Städte ausgelöscht hat. Was aber ist mit den anderen tödlichen Krankheiten? Mit der
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