Ich nickte. Die Mutter meines Großvaters. Meine Urgroßmutter.

«Sie war eine geborene Adams. Sie wohnte in der Marina Avenue. Aber ursprünglich kam ihre Familie aus Wales. Aus Prestatyn, glaube ich.«

«Und Großvaters Vater? Wie sah der aus — ihr Mann? Hast du von ihm auch ein Bild?«Sie antwortete nicht.

«Großmutter?«Ich sah auf. Ihr Gesicht schien mir hart. Ich wiederholte:»Hast du von meinem Urgroßvater auch ein Bild?«Großmutter beugte sich zu mir herunter und nahm mir das Foto aus den Händen. Mit einem Kopf schütteln ging sie zum Büffet zurück und legte das Bild wieder in die Schublade. Als sie zu ihrem Sessel zurückkam und ein wenig näher an den Kamin rückte, gab sie dem Gespräch eine andere Wendung.»Die Jubiläumsfeiern für die Königin in diesem Jahr waren wirklich wunderschön…«

Kapitel 2

Es war noch nicht halb elf an diesem ersten Abend, aber ich konnte kaum noch die Augen offenhalten. Ich spürte eine leichte Berührung an der Schulter und sah, daß Großmutter aufgestanden war. Und mit schlechtem Gewissen sah ich, daß sie Teller und Tassen hinausgetragen hatte.

«Bin ich eingeschlafen? Entschuldige, Großmutter, ich wollte dir doch helfen — «

«Unsinn! Ich werd dich doch nicht arbeiten lassen, wo du hier zu Besuch bist. Es war egoistisch von mir, dich nach der langen Reise so lange wachzuhalten. Du mußt doch todmüde sein. Marsch jetzt, ins Bett mit dir.«

Sie hatte recht. Ich war unglaublich müde, ja, ich fühlte mich, als ob meinem Körper auch das letzte Fünkchen Energie entzogen worden wäre.

Sobald ich in den Flur trat, überkam mich wieder dieses bizarre Gefühl, nur noch stärker diesmal. Es war beinahe, als läge greifbare Feindseligkeit in der Luft. Ich zögerte am Fuß der schmalen Treppe und blickte in die Finsternis über mir.»Ist was?«fragte Großmutter, die mein Zögern bemerkte.»Ich — äh, ich weiß gar nicht, wo mein Zimmer ist.«

«Ich hab dir das Vorderzimmer gerichtet. Ed hat deinen Koffer schon raufgebracht, und Elsie hat dir eine Wärmflasche ins Bett gelegt. Es tut mir leid, daß das Zimmer keine Heizung hat. Aber weißt du, es ist viele Jahre nicht mehr benutzt worden. Seit Williams Auszug nicht mehr. Das muß jetzt gut zwanzig Jahre her sein. Also, Kind, rauf mit dir.«

Vorsichtig stieg ich die steile Treppe hinauf und stützte mich dabei mit den Händen an den Seitenwänden ab. Ich verkniff es mir, in die Schwärze des oberen Stockwerks hinaufzusehen, und versuchte so zu tun, als mache mir die Kälte nichts aus.

Aber das gelang mir nicht, und je — höher ich stieg, desto kälter wurde mir. Ich fing an zu zittern. Der Atem stieg mir in kleinen Dampfwölkchen aus dem Mund. Hinter mir, ein paar Stufen tiefer, quälte sich Großmutter schwerfällig die Treppe hinauf, und ich fragte mich, ob sie mich überhaupt vor sich sehen konnte.

Oben begann ich wieder zu schnattern. Ich biß die Zähne zusammen und suchte nach einem Lichtschalter. Ich tastete mit einer Hand über die klamme Wand. Ich berührte etwas und drückte.

«Hast du das Licht gefunden?«fragte Großmutter keuchend hinter mir.»Ich — nein — «

Sie streckte den Arm aus, und augenblicklich ging die Deckenbeleuchtung an. Ich schaute auf die Wand. Das Ding, das ich berührt hatte, war der Lichtschalter.

«Na also. Jetzt geh nach rechts«, sagte sie außer Atem und lehnte sich an die Wand.

Der Treppe direkt gegenüber war das Badezimmer und daneben Großmutters Zimmer. Um die Ecke jedoch, einen kurzen Gang entlang, war noch eine Tür.

«Wenn du in der Nacht raus mußt, dann weißt du jetzt, wo es ist. Vergiß nicht, immer das Licht auszumachen. Gute Nacht, Kind.«

Ich rieb mir die eiskalten Arme und eilte durch den Flur zum vorderen Zimmer. Die Tür knarrte, als ich sie aufstieß, und Schwärze gähnte mir entgegen. Hastig hob ich die Hand zur Wand und fand den Lichtschalter.

Ich lächelte erleichtert. Wirklich ein hübsches Zimmer. Ein behagliches Doppelbett mit großen, weichen Kissen und einer bunten Steppdecke. Auf dem Boden ein schon fadenscheiniger, aber freundlicher Perserteppich. An einer Wand ein alter Schrank, dessen eine Tür offenstand. Gegenüber ein offener Kamin, der jetzt vernagelt war, und darüber ein großer alter Spiegel in geschwungenem Rahmen. Neben dem Bett ein kleines Tischchen mit einem Spitzendeckchen und der Bibel darauf.

Es sah alles sehr gemütlich aus, und meine Beklemmungen auf der Treppe kamen mir plötzlich recht albern vor. Ich drehte mich um, schloß die Tür und schob die >Wurst< vor die Ritze, das längliche Polster, das verhindern sollte, daß die Kälte aus dem Flur ins Zimmer drang. Dann mußte ich schnell machen. Das bißchen Wärme, das ich von unten mitgenommen hatte, war jetzt ausgekühlt, und die eisige Kälte des Zimmers drang auf mich ein. Schon begannen meine Finger steif zu werden, so daß ich Mühe hatte, die Schlösser meines Koffers zu öffnen. Ich fror erbärmlich. Noch nie hatte ich so etwas erlebt. Wenn es vor einigen Stunden draußen um null Grad gewesen war, wie weit war die Temperatur dann in der Zwischenzeit noch gesunken? Dieses alte, schlecht isolierte Haus kam mir vor wie ein Tiefkühlschrank. Nachdem ich meine Jeans und das T-Shirt im Schrank aufgehängt hatte, zog ich meinen Bademantel über den Schlaf anzug und ging zum Fenster. Ich zog die Vorhänge ein wenig auseinander und blickte durch die bereiften Scheiben in pechschwarze Nacht hinaus. Kein Mond, kein Stern war am Himmel, nur eine ferne Straßenlampe spendete etwas trübes Licht. Die Häuser gegenüber, eines am anderen, alle gleich, aufgereiht wie die Zinnsoldaten, waren dunkel und still. Das abgeschliffene Kopfsteinpflaster der Straße, auf der die wenigen geparkten Autos fremd wirkten, glänzte eisig.

Ich ließ die Vorhänge wieder zufallen. Mittlerweile war ich so durchgefroren, daß ich beschloß, im Bademantel zu schlafen. Erst knipste ich das Licht aus, dann sprang ich im Dunklen mit einem Riesensatz zum Bett, warf mich hinein und zog die Decken bis zum Kinn. Die Wärmflasche, die noch warm war, drückte ich an meinen Bauch und rollte mich auf der Seite zusammen. Es war so still im Haus, daß ich meinen eigenen Herzschlag hörte. Ich war überzeugt, daß ich in diesen arktischen Verhältnissen niemals einschlafen würde. Immer noch schlugen mir die Zähne aufeinander, meine Hände und Füße waren starr vor Kälte, ich zitterte am ganzen Körper. Mindestens eine Stunde lang muß ich wachgelegen und in die Finsternis gestarrt haben, und die ganze Zeit dachte ich an Doug und bemühte mich, das Unbehagen abzuschütteln, das mir dieses Haus einflößte.

Ich weiß nicht, wann ich endlich eingeschlafen bin, aber plötzlich war ich wieder hellwach, ohne zu wissen, was mich geweckt hatte. Ich starrte mit offenen Augen ins Dunkle und hielt mit verkrampften Fingern die Decke umklammert. Ich war schon mit Angst erwacht; die Angst hatte mich schon im Schlaf überfallen, sie hatte mich geweckt. Es war eine Angst vor etwas, das ich nicht sehen konnte. Während ich angestrengt versuchte, mit den Augen die Schwärze der Nacht zu durchdringen, wurde mir klar, daß es nicht die Dunkelheit war, die mich so ängstigte, sondern etwas anderes; etwas, das in diesem Zimmer war. Eine unsichtbare Gegenwart…

Ich kämpfte um meinen Verstand. Ich versuchte, mich zu erinnern, wer ich war, wo ich mich befand, was ich hier tat. Aber mein Geist war gefangen in einem Käfig des Vergessens. Ich erinnerte mich an nichts. Mein Gedächtnis war ausgelöscht. In schwarzer Nacht versunken.

Mitten in meinem verzweifelten Kampf, meinem ohnmächtigen Bemühen, meine Erinnerungen zu finden, entdeckte ich das Schreckliche, das mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein ungeheurer Druck lastete auf meinem Körper. Eine Kraft, die nicht zu greifen war und keine Substanz besaß, stieß mich tief in die Kissen und drohte, mich zu ersticken. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Ich bekam keine Luft.

Aus Angst und Entsetzen wurde kopflose Panik. Wie eine Rasende begann ich, mich gegen den grauenvollen Druck zu wehren. Ich rang krampfhaft um Atem und empfand jeden eisigen Luftzug, der in meine Lunge drang, wie einen Messerstich. Ich mußte zum Licht. Meine Gedanken überschlugen sich. War ich vielleicht gelähmt?

Wie konnte eine solche erstickende Kraft mich niederdrücken, ohne daß ich fähig war, sie zu fassen?

Ich konzentrierte mich ganz darauf, einen Arm freizubekommen. Mein Atem flog in kurzen Stößen. Ich mußte sehen. Ich mußte sehen!

Plötzlich war mein Arm frei. Ich griff hastig nach oben und umklammerte das Kopfende des Betts. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es mir, mich sq weit hochzuziehen, daß ich mich aufsetzen konnte. Aber immer noch lastete der beklemmende Druck auf mir. Er war wie ein gewaltiger Sog. Ich kämpfte dagegen an, schnappte gierig nach Luft, um den Alp abzuwehren. Weit aus dem Bett hängend, fuchtelte ich in der Finsternis herum, traf mit einer Hand die Wand und schlug rein zufällig auf den Lichtschalter.

Im selben Moment, als das Licht anging, wich schlagartig der Druck von mir, und ich fiel zu einem keuchenden, japsenden Bündel zusammen.

Ich hatte so stark geschwitzt, daß mein Pyjama ganz feucht war. Und jetzt begann ich zu frieren, begann vor Erschöpfung und Kälte so heftig zu zittern, daß das Bett wackelte. Lange hockte ich an das Kopfende des Betts gelehnt, rieb mir die Arme und stampfte mit den Füßen, um wieder warm zu werden, und überlegte dabei, was eigentlich geschehen war.

Ich konnte mich nicht erinnern, was mich geweckt hatte; ob es ein Traum gewesen war oder die Kälte oder einfach die ungewohnte Umgebung. Oder etwas anderes.

Und dieser schreckliche Druck. Hatte ich ihn mir eingebildet? War vielleicht alles nur ein Traum gewesen, der bis zu dem Moment gedauert hatte, als ich im Schlaf den Lichtschalter gefunden hatte?