«Nein, Kind, weiß Gott nicht. Ich sag dir ja, bei solchem Wetter tun mir sämtliche Gelenke weh. Und dann finde ich einfach keine Ruhe. Heute abend nehme ich mir aber gleich drei Wärmflaschen mit nach oben.«

«Warum schläfst du nicht hier unten, wo es warm ist?«

«Kommt nicht in Frage. Du hast die Wärme nötiger als ich. Im übrigen schlafe ich am liebsten in meinem eigenen Bett. Wenn ich mir eine zweite Jacke anziehe und noch eine Wärmflasche mitnehme, wird es schon gehen.«

«Dein Schlafzimmer muß wirklich eiskalt sein, Großmutter.«

«Elsie sagt immer, im ganzen Haus war's kalt wie in einer Gruft. Also spielt es gar keine Rolle, wo ich schlafe. Aber ich bin's gewöhnt und fühl mich wohl hier, und keine zehn Pferde bringen mich in so eine Sozialwohnung…«

Sie schwatzte weiter, und ich dachte, wenn du wüßtest, wie zutreffend der Vergleich mit einer Gruft ist.

Niemand kam uns besuchen. Regen und Sturm tobten mit solcher Heftigkeit, daß es unmöglich war, auch nur die Haustür zu öffnen. Vom oberen Schlafzimmer aus blickte ich zur Straße hinunter und sah, wie gefährlich bei diesem Unwetter schon eine kurze Autofahrt sein mußte. Mir war klar, daß niemand vorbeikommen würde, solange es anhielt.

Großmutter und ich setzten uns also ins Wohnzimmer an den Kamin, sie mit ihrem Strickzeug, ich mit einem Buch. Aber ich nahm nichts von dem auf, was ich las, meine Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

Am späten Nachmittag hatte Großmutter so starke Schmerzen in Hüften und Knien, daß sie nicht fähig war, sich in die Küche zu stellen und das versprochene Abendessen zu kochen. Ich machte uns statt dessen eine Dosensuppe heiß, und dazu aßen wir Butterbrot. Mir reichte das vollkommen, da ich noch immer keinen rechten Appetit hatte, aber ich sah, wie enttäuscht Großmutter war, daß sie nicht imstande war, mir etwas Besonderes zu kochen. Nach unserem bescheidenen Abendessen saßen wir noch ein Stündchen beieinander, ohne viel zu sprechen, dann sagte Großmutter:»Ich glaube, ich gehe jetzt zu Bett, Andrea. Wenn ich noch länger hier sitze, komm ich überhaupt nicht mehr hoch. Bringst du mir die Flaschen, wenn das Wasser warm ist, Kind?«

«Aber was willst du denn den ganzen Nachmittag tun, Großmutter?«

«Ach, ich mach mir das Radio an und les ein bißchen. Das entspannt mich immer so. Tut mir leid, daß ich dich ganz allein lasse, Kind, aber ich bin in dem Zustand sowieso keine gute Gesellschaft. Ich bin nur froh, daß es dein Großvater schön warm hat und gute Pflege bekommt. Das ist mir ein großer Trost. «Ausnahmsweise mußte ich Großmutter die Treppe hinaufhelfen. Ich schob von hinten, während sie wie ein Hund auf allen vieren Stufe um Stufe hinaufkroch. Wir kamen nur langsam voran, aber als wir oben waren, sah ich, wie beschwerlich es für sie gewesen wäre, das allein zu schaffen. Sie war aschfahl und konnte kaum atmen.

«Ich bin dreiundachtzig Jahre alt, Kind«, sagte sie, nach Luft schnappend.»Ich habe bessere Tage gesehen. «Beim Auskleiden ließ sie sich nicht von mir helfen, sondern bestand darauf, daß ich ins warme Wohnzimmer hinunterging und wartete, bis das Wasser kochte. Nachdem ich die drei Wärmflaschen gefüllt hatte, trug ich sie in ihr Zimmer hinauf und half ihr ins Bett. Sie schob sich mehrere dicke Kissen in den Rücken, zog zwei Strickjacken an, legte sich einen gehäkelten Schal um die Schultern und drapierte die Wärmflaschen um ihre Beine. Dann zog sie das Radio, das auf dem Nachttisch stand, näher zu sich heran.

«So, jetzt hab ich's gemütlich, Kind. Geh du ruhig wieder runter. «

«Wenn du etwas brauchst, Großmutter, dann klopf einfach mit dem Stock auf den Boden. Ich komm dann sofort. Du wirst später sicher Hunger bekommen, und die Wärmflaschen müssen auch frisch gefüllt werden.«

«Ja, Kind. Du bist wirklich ein Segen. Ich bin so froh, daß du hier bist. «Sie legte mir einen Arm um den Hals und zog mich kurz an sich. Als sie sich wieder in die Kissen sinken ließ, sah ich, daß sie Tränen in den Augen hatte.»Was bin ich doch für eine Heulsuse!«rief sie.»Aber du bist deiner Mutter so ähnlich. So, und jetzt ab mit dir, runter; wo's warm ist.«

Ich eilte ins Wohnzimmer hinunter, aber nicht der Wärme wegen, denn die Kälte machte mir schon lang nichts mehr aus, sondern in der Hoffnung, bald wieder in die Vergangenheit entführt zu werden.

Und tatsächlich, als ich die Tür öffnete, sah ich vor mir das Wohnzimmer der Familie Townsend mit seiner bunten Tapete und den grünen Sesseln. In einem der Sessel, vom warm glühenden Feuerschein eingehüllt, saß Jennifer. Sie war allein. Sehr langsam und behutsam trat ich ein und schloß leise die Tür hinter mir, um das feine Gespinst des friedlichen Bildes nicht zu zerstören. Ich trat ein paar Schritte von der Tür weg und blieb an die Wand gelehnt stehen.

Jennifer war mit einer Handarbeit beschäftigt. Ich sah den Stickrahmen in ihrer Hand, die feine rote Seide des Garns, das Blitzen der Nadel, die auf und ab stichelte. Jennifer trug ihr Haar hochgekämmt und mit dünnen Bändern durchflochten. Ihr lavendelfarbenes Kleid war hochgeschlossen und reichte fast bis zu ihren Fußspitzen. Sie wirkte sehr gelassen und sehr weiblich, wie sie am Kamin saß, das zarte Gesicht leicht gerötet von der Glut, und sich konzentriert ihrer Arbeit widmete.

Ich dachte wieder an die Begegnung der vergangenen Nacht und meine wilde Hoffnung, mit ihr Kontakt aufnehmen zu können, indem ich sie ansprach. Aber das war eine Illusion gewesen. Sobald ich ihren Namen gerufen hatte, war sie verschwunden. Aber nun war sie wieder hier, und obwohl ich auf der anderen Seite des Zimmers stand, spürte ich, daß sie an Victor dachte. Aus dem Flur drang das Geräusch fester männlicher Schritte herein, und ich hielt den Atem an. Wir würden ihn wiedersehen! Die Tür wurde aufgestoßen, ein kalter Luftzug blies ins Zimmer, und dann sah ich zu meiner Enttäuschung John Townsend hereinkommen. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb er einen Moment lang stehen. Er schwankte ein wenig und blickte Jennifer, die von ihrer Arbeit aufsah, schweigend an.»Du bist ja völlig durchnäßt«, sagte sie und wollte aufstehen.»Kümmre dich nicht um mich«, brummte John ungeduldig und fuhr sich mit einer Hand über die blutunterlaufenen Augen. Ich konnte den Alkoholdunst in seinem Atem riechen, als er sprach.»Kümmre dich lieber um dich selbst.«

«Was soll das heißen?«.

«Du!«brüllte er sie plötzlich an und streckte den Arm aus, als wollte er sie mit wackligem Zeigefinger durchbohren.»Du hast mich verraten! Mich, deinen Mann.«

«John!«Jennifer sprang auf. Die Handarbeit fiel unbeachtet zu Boden.

«Du warst bei Victor, habe ich recht? Du hast ihm gesagt, daß ich Schulden habe und die Buchmacher hinter mir her sind. Und du hast ihm gesagt, daß ich das Spielen nicht lassen kann.«

«Aber John!«

Er machte einen Schritt auf sie zu, und ich sah, wie sich die Besorgnis in Jennifers Augen in Furcht verwandelte. Sie drückte beide Hände auf die Brust, als er auf sie zukam, aber sie wich nicht vor ihm zurück.

«Das ist nicht wahr, John«, entgegnete sie ruhig.»Ich war nicht bei Victor.«

«Woher weiß er dann so genau Bescheid? Er weiß sogar den Betrag, den ich schulde. Bis auf den letzten verdammten Penny. Und er wollte ihn bezahlen, Jenny. Er hat mir Geld angeboten!«

«Was ist daran so — «

«Gottverdammich, hast du denn überhaupt keinen Stolz?«brüllte er sie an. Zitternd vor Wut kam er noch näher an sie heran.»Mußtest du ausgerechnet meinem Bruder über unsere privaten Sorgen dein Herz ausschütten? Wo bleibt eigentlich dein Schamgefühl?«

«Es war Harriet, John. Sie war bei ihm, nicht ich.«

«Das ist eine gemeine Lüge. Harriet würde niemals mit Victor über Dinge sprechen, die sie nichts angehen. So dumm ist sie nun auch wieder nicht. Du warst es, Jenny, und ich weiß es, weil ich genau beobachtet habe, wie ihr beide euch anseht. Du kriegst ja richtige Kuhaugen, wenn du meinen Bruder siehst. Du brauchst gar nicht zu versuchen, es zu leugnen. Und er kann aus seinem Herzen auch keine Mördergrube machen. Ihm läuft förmlich das Wasser im Mund zusammen, wenn er dich anschaut.«

«O mein Gott!«flüsterte Jennifer und wandte sich ab.»Warum mußtest du gerade zu ihm gehen, Jenny?«John stand ziemlich wacklig auf den Beinen. Seine Augen waren glasig, und sein Blick war verschwommen. Es erschreckte mich, ihn so zu sehen, angetrunken und nachlässig. Sein Umhang war voller Schmutzspritzer, und den Hut hatte er auf den Hinterkopf geschoben.

«Du hast wohl geglaubt, ich hätte keine Ahnung, was vorgeht, Jenny?«fragte er jetzt in ruhigerem Ton.»Du hast wohl geglaubt, ich wüßte nicht, warum Victor jeden Sonntag zum Essen herkommt? Da kann ich nur lachen, Jenny. Erst läßt mein Bruder sich ein ganzes Jahr lang nicht blicken, obwohl er praktisch nebenan wohnte, und dann schreibst du ihm ein einziges nettes Briefchen, und schon steht er hechelnd wie ein Hund vor unserer Tür. Und seitdem erscheint er regelmäßig jeden Sonntag. Hältst du mich für blind?«

Jennifer antwortete nicht. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte lautlos. Ich sah es am Beben ihrer Schultern. John streckte zaghaft einen Arm nach ihr aus, hielt dann jedoch schwankend inne. Ich sah in seinem Gesicht das Erschrecken plötzlicher Erkenntnis und gleich darauf die Bitterkeit der Gewißheit. Er hatte nur einen Verdacht geäußert, aber nun hatte er die Antwort. Und sie tat weh.

Er zwinkerte ein paarmal mit den Augen, wie um die Alkoholnebel zu durchdringen, und ließ den Arm schlaff herabfallen.»Er wird dich nie bekommen«, murmelte er.»Ich lasse es nicht zu. Ich weiß, du hast mich nie geliebt, aber mein Bruder wird niemals — «Jennifer drehte sich mit einer heftigen Bewegung um. Ihr Gesicht war entsetzt.»John! Das ist nicht wahr! Ich habe dich geliebt, und ich liebe dich immer noch. Wie kannst du hier vor mir stehen und mich der Lüge und des Betrugs beschuldigen, wenn nichts davon wahr ist? Harriet ist wegen deiner Wettschulden zu Victor gegangen, John, nicht ich. Und ich liebe dich immer noch. «Er dachte einen Moment über ihre Worte nach und sagte dann:»Genauso wie an dem Tag, an dem wir geheiratet haben?«Sie zögerte zu lange.