Harriet umfaßte verzweifelt Jennifers Arm.»Als es das erste Mal kam, erschrak ich zu Tode. Und jetzt hab ich Todesangst, weil es nicht kommt.«
Jennifer sagte nichts, aber ihr Blick war voller Mitleid und Sorge.
«Sag mir, was das bedeutet, Jenny. Ich glaube, ich weiß es, aber ich muß sicher sein. Du kannst es mir sagen.«
«Wie lange sind deine Tage schon ausgeblieben, Harriet?«
«Ich — ich weiß nicht genau.«
«Bist du sehr spät dran?«
«Jenny, sie sind zweimal nicht gekommen.«
«Ah ja…«Jennifer blieb völlig ruhig. Ihre Hand lag immer noch auf Harriets Arm, und ihr Gesicht war so unbewegt, als besprächen sie den Speiseplan für den kommenden Tag.»Harriet, sag mir eines — hast du etwas getan, das dieses — Ausbleiben bewirkt haben könnte?«
«Ich glaube, ja«, antwortete Harriet kaum hörbar. Jennifer schloß einen Moment die Augen.»Jenny, ich wußte es nicht. Niemand hat es mir je gesagt«, stieß
Harriet hastig hervor. Ihr Gesicht war verwirrt und bestürzt. Und es war kreidebleich.»Sean hat gesagt, es wäre nichts dabei. Und ich hatte keine Ahnung, was wir taten. Ich dachte immer, Kinder könnte man nur bekommen, wenn man verheiratet ist, aber doch nicht vorher. Wir waren draußen bei der Ruine von der alten Abtei. Zuerst war ich erschrocken. Aber dann fand ich es schön. Und dann — «, sie senkte wieder den Blick und murmelte scheu,»dann war ich selig.«
In Jennifer blitzte etwas auf. Neid? Flüchtig nur und ohne Mißgunst. Ein feiner Stich des Bedauerns, daß sie es mit John niemals so erlebt hatte, sondern immer nur enttäuschend. Er war nie zärtlich, immer ungeduldig, nahm nie Rücksicht auf ihre Wünsche. Und sogleich meldete sich das schlechte Gewissen, als sie sich erinnerte, wie sie die Augen geschlossen und sich vorgestellt hatte, sie läge mit Victor zusammen und nicht ihrem Mann. Ein so kleiner Betrug nur, der ihr half, die seltenen Angriffe ihres Mannes auf ihren Körper zu ertragen. Zu denken, es wäre Victor, sich vorzustellen, wie es mit ihm wäre: liebevoll, zärtlich und genießerisch…
«Wie lange ist das her, Harriet, das mit Sean O'Hanrahan?«fragte sie.
«Ich — äh — es war…«Harriet geriet ins Stocken.»Es war mehr als einmal, Jenny. Aber er hat gesagt, es wäre nichts dabei, wirklich. O Gott, Jenny, was habe ich getan?«
«Du solltest lieber fragen, was er getan hat, Harriet.«
«Nein! Sprich nicht so von ihm. Ich liebe ihn, und wir werden heiraten. Aber heimlich, damit Vater uns nicht daran hindern kann. Versprich mir, Jenny, daß du Vater nichts sagst.«
«Du kannst dich darauf verlassen, Harriet, aber du solltest mit Victor sprechen.«
«Nein!«
«Er ist Arzt, Harriet. Er kann dir sagen, was du tun sollst. Vielleicht täuschst du dich. Aber wenn es nicht so ist, dann kann er dir sagen, was zu tun ist.«
«Ich kann mit Victor nicht darüber sprechen. Er würde mich verachten!«Harriet begann wieder zu weinen. Jennifer nahm sie in die Arme und hielt sie fest, ohne ein Wort zu sagen. Harriet weinte und schluchzte, und erst als sie sich wieder einigermaßen gefaßt hatte, löste sie sich aus Jennifers Armen, wischte sich die Augen und sagte stockend:»Du glaubst also, daß es passiert ist? Daß ich ein Kind in mir habe?«
«Wenn du etwas mit Sean O'Hanrahan getan hast. Wenn du genau weißt, was du mit ihm getan hast.«
«Verheiratete täten es, hat er gesagt. Er wollte mir zeigen, wie es ist.«
Jennifer nickte ernst und trauerte im stillen um Harriet, der ihre kindliche Unschuld genommen worden war.»Ich hätte nie gedacht, daß es möglich ist. Wirklich nicht. Ich habe fest geglaubt, Kinder bekommt man nur, wenn man verheiratet ist. Aber jetzt ist es geschehen, und jetzt muß ich damit fertigwerden. «
«Harriet!«Jennifer bot ihr beide Hände.»Bitte sprich mit Victor. «
«Niemals!«Harriet wich einen Schritt zurück.»Er würde mich umbringen.«
«Aber nein — «
«Doch, er würde!«schrie Harriet.»Victor würde mich umbringen. Du kennst ihn nicht so gut wie ich. Er ist genau wie Vater.«
«Was willst du denn dann tun?«
«Sean und ich haben vor, nach London zu gehen und uns dort trauen zu lassen.«
«Ach, Harriet. «Jetzt weinte auch Jennifer.
Harriet stand noch einen Moment unschlüssig, starrte Jennifer mit einem Blick an, bei dem uns beiden eiskalt wurde, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Zimmer. Ich blickte ihr nach, sah die Tür hinter ihr zufallen und war überrascht, Jennifer noch im Zimmer zu sehen, als ich mich wieder umdrehte. Ich hatte geglaubt, hier würde die Szene enden. Aber es schien, daß noch mehr kommen sollte. Ich blieb in meinem Sessel sitzen und wartete.
Wie unglaublich, daß die junge Frau, die vor mir stand, seit so vielen Jahren tot sein sollte. Konnte ich nicht das Rascheln ihrer Röcke hören? Sah ich nicht den Glanz der Tränen in ihren Augen? Roch ich nicht den zarten Rosenduft, der sie umgab? Fühlte ich nicht ihre Anwesenheit in diesem Zimmer? Während ich sie betrachtete und dabei diese Überlegungen anstellte, kam mir plötzlich ein verrückter Gedanke in den Kopf und elektrisierte mich förmlich. Mir fiel ein, wie ich bei der letzten Begegnung mit Victor und Jennifer von den Gefühlen der beiden überwältigt Victors Namen gerufen und er sich umgedreht hatte.
War es möglich, daß er mich gehört hatte? Ich hatte den kleinen Zwischenfall bisher völlig vergessen, aber jetzt erinnerte ich mich genau. Ich war nicht fähig gewesen, mich länger zurückzuhalten, und hatte laut Victors Namen gerufen. Und er hatte sich erschrocken umgedreht. Konnte das bedeuten…?
Unverwandt sah ich Jennifer an. Sie blieb viel länger als sonst. Oder vielleicht war auch ich es, die länger blieb. Ganz gleich, mein Rendezvous mit der Vergangenheit dauerte länger an, als ich erwartet hatte, und ich fragte mich, ob das einen besonderen Grund hatte.
Warum konnte ich Jennifer immer noch sehen? Hatte das einen bestimmten Sinn? Sie stand hier ganz allein in diesem Zimmer, so wirklich und leibhaftig wie meine Großmutter hier zu stehen pflegte, und sie trocknete sich die Augen mit einem Taschentuch, das sie aus dem Ärmel ihres Kleides hervorgezogen hatte. Sie und ich waren allein hier im Zimmer und doch durch Jahre getrennt. Sie lebte im Jahre 1892. Ich lebte in der Gegenwart. Wieso waren wir immer noch zusammen?
Eine Ahnung kam mir, die ich zunächst als absurd verwarf. Doch sie drängte sich mir von neuem auf und ließ mich nicht mehr los.
Ich konnte Jennifers Parfüm riechen, das Knistern ihrer Röcke hören, ich konnte sie sehen und ihre Nähe spüren, und ich fragte mich, ob das, was ich gehofft und gefürchtet hatte, nun vielleicht endlich geschehen würde; daß nun der Weg zur Verständigung über die Sprache sich öffnen würde und ich so ganz in das Geschehen einbezogen werden würde. Da alles so real war, sollte es da nicht möglich werden, miteinander zu sprechen? Hatte sich nicht Victor umgedreht, als ich seinen Namen gerufen hatte? Aber sie konnte mich ja nicht einmal sehen. Sie stand nur Zentimeter von mir entfernt und nahm mich nicht wahr. Was würde geschehen, wenn ich sie ansprach? Würde dann eine echte Verbindung, eine beiderseitige Verbindung hergestellt werden? Ich beschloß, es zu riskieren. Das einzige, was geschehen konnte, war, daß sie verschwand. Und da Harriet schon fort war und nichts weiter sich ereignete, würde sie bald sowieso verschwinden. Ich wollte es versuchen. Ich wollte sie ansprechen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, schluckte alle Befürchtungen hinunter, räusperte mich und sagte laut und klar:»Jennifer!«
Kapitel 13
Meine Großmutter mußte lautlos ins Zimmer gekommen sein. Erst als sie die Vorhänge aufzog, erwachte ich.»Schau dir nur diesen gräßlichen Regen an!«sagte sie mit ärgerlichem Kopf schütteln.
Ich wälzte mich auf die Seite und blinzelte in die von Regenschleiern verhangene Welt vor dem Fenster. Dann drehte ich mich wieder auf den Rücken und blickte zur Zimmerdecke hinauf. Mein Kopf dröhnte.
«Du hast aber lange geschlafen«, stellte meine Großmutter fest, während sie im Zimmer umherhumpelte.»Das ist ein gutes Zeichen. Da hast du wenigstens mal richtig Ruhe bekommen. «Beinahe hätte ich gelächelt. Großmutter hatte keine Ahnung, daß ich erst bei Sonnenaufgang eingeschlafen war, nachdem ich praktisch die ganze Nacht aufgesessen hatte.
«Der Tee ist gleich fertig. Möchtest du heute mal Sirup auf deinen Toast, Kind? Der gibt dir vielleicht ein bißchen Energie. «Obwohl Großmutter sich bemühte, resolut und kraftvoll zu sprechen, fiel mir auf, wie müde ihre Stimme klang.»Dein Großvater hat immer gern Sirup auf sein Brot gegessen. Hm, und zum Essen mach ich uns den Fisch, den Elsie gestern mitgebracht hat. Nach Morecambe Bay können wir bei diesem Wetter auf keinen Fall fahren. «Ich sah wieder in die graue Düsternis hinaus und fragte mich, wie lange wir in diesem Haus gefangen sein würden.»Großmutter«, sagte ich und setzte mich auf.»Gestern hat kein Mensch Großvater besucht. Wie soll das denn heute werden?«
«Also, wir fahren bestimmt nicht ins Krankenhaus. Vielleicht fährt dein Onkel William allein hin. Ich kann jedenfalls bei diesem Wetter keinen Fuß vor die Tür setzen. So, und jetzt geh ins Bad und mach dich fertig, damit wir frühstücken können. «Ich rannte die Treppe hinauf, wusch mich in aller Eile und ging ins Vorderzimmer, um mir frische Sachen zu holen. Eine Viertelstunde später saß ich schon wieder unten am Tisch.»Man spürt den verdammten Wind durch sämtliche Fensterritzen, nicht wahr?«sagte Großmutter, während sie ihren Toast mit Butter bestrich.
Ich betrachtete ihr Gesicht im kalten Morgenlicht, sah die blauen Lippen, die fahle Haut, die geschwollenen Augen.»Du hast nicht gut geschlafen, nicht wahr, Großmutter?«
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