Jennifer schüttelte den Kopf.»Du darfst es nicht für mich tun, Victor. Du mußt es tun, weil du es willst. Weil er dein Bruder ist — «

Er lachte kurz auf.»Ja, das ist er. Und damit bist du meine Schwester, richtig? Oder genauer gesagt, meine Schwägerin. Aber das ist praktisch das gleiche«, schloß er bitter.»Nein, das ist nicht das gleiche.«

Zu meiner Überraschung stürzte Victor plötzlich auf Jennifer zu und faßte sie bei den Armen. Er hielt sie so fest, als wollte er sie schütteln. Schwarzer Sturm verdunkelte sein Gesicht, und seine Augen blitzten vor Zorn, so daß Jennifer erschrocken vor ihm zurückwich.

«Was ist es dann?«sagte er heiser, seiner Stimme kaum mächtig.»Was sind wir, wenn nicht Schwester und Bruder?«

«Victor! Ich — «

«O Gott!«rief er und ließ sie so plötzlich los, wie er sie gepackt hatte.»Was ist nur über mich gekommen? Die Frau meines eigenen Bruders! Bin ich denn wahnsinnig geworden?«

«Du kannst es nicht ändern«, sagte sie hastig. Ihre Wangen waren blutrot.»So wenig wie ich.«

Victor starrte sie immer noch zornig an, aber ich wußte, daß sein Zorn nicht ihr galt, sondern sich selbst. Für sie empfand er nur tiefe Liebe und Zärtlichkeit.

«Was soll ich tun?«sagte er schließlich leise und verzweifelt.»Ein Jahr lang habe ich mit diesem Augenblick gelebt. Ich habe gewußt, daß er eines Tages kommen würde, daß die Stunde kommen würde, in der wir uns endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würden. Und oft habe ich mich gefragt, ob ich es fertigbringen würde, standzuhalten und mein Geheimnis für mich zu behalten. Aber ich sehe jetzt, daß ich es nicht kann. Ich bin ja nur ein Mensch. Zwölf Monate haben meine Liebe zu dir nicht auslöschen können, Jennifer. Zwölf

Monate harter Arbeit haben mein Verlangen nach dir nicht mindern können. Bin ich denn zu lebenslanger schrecklicher Strafe verurteilt für ein Verbrechen, das begangen zu haben ich mich nicht erinnern kann?«

«Wenn es so ist«, sagte sie ruhig,»dann ist mir das gleiche Urteil gesprochen worden.«

Victor stand so still, so reglos, daß ich mich schon fragte, ob die Zeit stehengeblieben sei. Aber dann sah ich, daß er atmete, und hörte das schwache Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Und schließlich hörte ich ihn mit tonloser Stimme sagen:»Ich glaubte, nur geträumt zu haben, daß du mich liebst. Ich war niemals sicher. Und als ich es zu ahnen begann, fürchtete ich, meine wilden Hoffnungen verleiteten mich dazu, die Botschaft deiner Blicke falsch zu deuten. Ich war wie der sprichwörtliche Ertrinkende, der nach dem Strohhalm greift. Aber jetzt sehe ich, daß ich mich doch nicht getäuscht habe. Daß du mich liebst. Und jetzt frage ich mich, ob dies nicht härtere Strafe ist, als wenn du mich nicht liebtest.«

«Es ist keine Strafe, Victor — «

«Was dann?«rief er.»Allein das Wissen, daß wir dazu verurteilt sind, so durchs Leben zu gehen — uns zu sehen, vielleicht hin und wieder flüchtig zu berühren, aber niemals lieben zu dürfen…«Als Victor sah, daß Jenny weinte, ging er zu ihr und wischte ihr zärtlich die Tränen vom Gesicht.

«Ich hätte nach Schottland gehen sollen. Noch an dem Abend, als ich mit meinen törichten Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit dir hierhergekommen war und erfuhr, daß du John geheiratet hattest, hätte ich Warrington wieder verlassen und mich anderswo niederlassen sollen, an irgendeinem fernen Ort. Dann wäre uns diese Qual erspart geblieben.«

«Ist es denn eine solche Qual, Victor?«

«Zu wissen, daß ich dich niemals werde küssen können, daß du das Bett mit meinem Bruder teilst? Ja, das ist die reine Qual.«

«Und was ist mit den Augenblicken, die wir für uns haben, wie eben diesen? Können denn nicht ein Wort oder ein Lächeln genügen? Ist das nicht besser als gar nichts? Denk an die Einsamkeit, Victor, wenn wir getrennt wären. Denk an die langen leeren Jahre in einem fremden Land, die dir bestimmt wären, und denk an meine einsamen Nächte mit einem Mann, den ich einmal zu lieben glaubte, um dann erkennen zu müssen, daß es eine Täuschung war. Wäre es wirklich besser für uns, wenn unsere Wege sich trennen würden und wir dennoch in Gedanken immer beim anderen wären? Oder ist es besser, wenn wir uns nehmen, was wir können, und das Beste daraus machen?«

Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich ab.»Darauf kann ich nicht antworten. Jetzt, in diesem Moment, möchte ich bei dir sein und niemals fortgehen. Aber wenn ich in meiner Praxis bin und mir die schreckliche Realität unserer Situation vor Augen halte, dann denke ich, wie leicht es wäre, meine Sachen zu packen und zu verschwinden.«

«Leicht?«

«Nein, nicht leicht. Aber besser, bei Gott!«Der ganze Raum erschien erfüllt von den heftigen Gefühlen der beiden. Ich wurde in diesen Sturm hineingerissen wie in einen Strudel. Ich fühlte das Feuer ihrer Leidenschaft und litt ihren Schmerz. Er zerriß mir fast das Herz. Ich konnte nicht mehr standhalten.»Victor!«schrie ich. Erschrocken drehte er sich um. Und dann waren sie verschwunden.

Die Nacht wurde zur Tortur. Entkräftet vom Schlafmangel, ausgelaugt vom Wechselbad der Gefühle, fiel ich in einen unruhigen Schlaf, der mir keine Erholung brachte. Wieder wurde ich von erotischen Träumen heimgesucht: Bildern von Victor, lockenden Visionen seiner Zärtlichkeit und seines Feuers. Im Traum war seine Liebe wie ein süßer Dunst, der sich über mich senkte und mich einhüllte. Ich zitterte vor lustvoller Spannung. Aber niemals kam es zur letzten Erfüllung meiner Begierde. Meine Träume täuschten mich, spielten mit mir und ließen mich schließlich in einem Zustand elender Enttäuschung zurück.

In meinen wachen Momenten betrachtete ich staunend die Wandlung, die sich in mir vollzog. Es war, als erwache eine Vielzahl neuer Persönlichkeiten in mir, jede mit einem anderen Verlangen, das nach Stillung verlangte. Solche Begierde und Leidenschaft hatte ich nie gekannt. Es war, als wäre jeder einzelne Nerv in meinem Körper mit Elektrizität aufgeladen. Ich stand in hellen Flammen, und es schien, daß einzig Victor Townsend den Brand löschen konnte.

Dann wieder, wenn ich am Fenster stand und meine fieberheiße Stirn an das kühle Glas drückte, dachte ich über diese seltsamen Träume nach und fragte mich, was sie bedeuten mochten. Es lag auf der Hand, daß ich Victor Townsend liebte und begehrte, doch ich verstand nicht, wieso ich so besessen war von diesem Mann, da doch nie zuvor ein Mann ähnliche Gefühle und Wünsche bei mir hervorgerufen hatte. Ich suchte nach Erklärungen und fand keine.

Um Mitternacht weckten mich Jennifer und Harriet aus leichtem Schlaf. Ich war im Sessel eingenickt und fuhr hoch, als ich das Klappen der Tür hörte. Ich sah Harriet an mir vorüberhuschen und am Kamin stehenbleiben. Auf der Uhr war es elf. Es schien kaum Zeit vergangen zu sein seit der Szene zwischen Jennifer und Victor. Jennifer jedenfalls war unverändert. Harriet war sichtlich erregt. Zitternd, beide Hände auf den Magen gedrückt, stand sie da und warf immer wieder mit nervöser Bewegung den Kopf in den Nacken.»Was ist denn?«flüsterte Jennifer besorgt.»Sind sie alle schlafen gegangen? Bist du sicher? Wo ist John?«

«Er ist noch aus. Aber wir hören es ja, wenn er kommt. Niemand kann uns hören, Harriet. Sag mir doch bitte, was du hast.«

«Ach, Jenny…«Harriet begann plötzlich zu weinen.»Ich habe solche Angst. Ich weiß nicht, was ich tun soll. O Gott, was soll ich nur tun!«

«Harriet«, sagte Jennifer ruhig und klar. Sie nahm Harriets zuckende Hände und hielt sie in den ihren.»Komm, jetzt sag mir, was dich quält. So schlimm kann es doch gar nicht sein.«

«Doch, doch. Ich — ach, Jenny…«, wimmerte sie.»Versprich mir, daß du keinem Menschen etwas sagst. Du bist die einzige Freundin, die ich habe.«

«Ich verspreche es dir, Harriet. Ich sage nichts.«

«Auch Victor nicht. Vor allem nicht Victor. «Jennifer zog die Brauen hoch.»Gut. Ich sage es keinem Menschen. Also, was ist mit dir?«

Harriet entriß Jennifer ihre Hände, wandte sich ab und ging ein paar Schritte.»Ich — ich muß dich etwas fragen. Du mußt mir etwas sagen.«

«Natürlich, wenn ich kann.«

Harriet zögerte unschlüssig. Sie schien nicht zu wissen, wie sie anfangen sollte, suchte nach Worten, setzte zum Sprechen an und brachte doch keinen Ton über die Lippen. Schließlich drehte sie sich heftig herum und starrte Jennifer ängstlich ins Gesicht.»Jenny«, sagte sie zitternd. Sie senkte den Blick.»Ich muß unbedingt etwas wissen, aber ich — ich glaube, ich kann gar nicht darüber sprechen. Bitte hilf mir.«

Jennifer war zwar nicht älter als Harriet, aber sie war eine verheiratete Frau und reifer als die Freundin. Sie sah, daß Harriet in tiefer Not war und legte ihr tröstend die Hand auf den Arm.»Es gibt nichts auf der Welt«, sagte sie beruhigend,»worüber wir beide nicht miteinander sprechen können, Harriet. «Harriet sah auf. Ihre Wangen waren erhitzt, ihre Augen glänzten wie im Fieber.»Meine Tage…«, flüsterte sie.»Jenny, meine Tage sind nicht gekommen.«

Jennifer brauchte einen Moment, um sich die Bedeutung der Worte klarzumachen, dann hauchte sie:»Ach Gott, Harriet…«

«Es fällt mir so schwer, darüber zu sprechen«, sagte Harriet mit gepreßter Stimme.»Du weißt doch, wie es ist. Und besonders mit Mama. Als es das erste Mal passierte, als ich zwölf war — «Harriets Stimme war nur noch ein Flüstern —»war ich zu Tode erschrocken. Ich dachte, ich müßte sterben! Ich hatte keine Ahnung, was mir geschah. Und Mama hat mir überhaupt nicht geholfen. Sie sagte nur, jetzt wäre ich eine Frau, ich sollte aufhören zu weinen, und das würde jetzt regelmäßig jeden Monat kommen. Erklärt hat sie mir überhaupt nichts, Jenny. Sie hat nur gesagt, daß ich in dieser Zeit oft die Unterwäsche wechseln soll und immer Eau de Cologne nehmen soll und daß vor den Männern auf keinen Fall darüber gesprochen werden darf. Jenny, du kennst das ja alles. Mama hat gesagt, ich dürfte mich nie darüber beklagen, ich müßte einfach so tun, als gäbe es das gar nicht. Ach, Jenny, es ist verrückt!«