Ich setzte mich langsam auf. Die Beule an meinem Hinterkopf pochte schmerzhaft.

«Sind deine Beine ein bißchen besser?«Großmutter ging im Zimmer umher, als wollte sie es für den Tag wecken. Sie zog die Vorhänge auf, öffnete die Küchentür, legte die Sets auf den kleinen Eßtisch und sah schließlich nach dem Heizofen.»Er ist ja schon wieder aus!«rief sie entrüstet.»Was ist denn nur los mit dem verdammten Ding? Ich muß den Gasmann holen, der soll sich den Ofen mal ansehen. Das ist noch nie passiert, daß er immer wieder ausgeht.«

Ohne etwas zu sagen, nahm ich meine Sachen und ging zur Tür. Als ich sie aufzog, um hinauszugehen, hörte ich meine Großmutter sagen:»Der Besuch im Krankenhaus fällt heute aus. Der Regen spült einen ja von der Straße.«

Zu benommen, um etwas zu entgegnen, trat ich in den Flur und stieg die Treppe hinauf. Im Badezimmer, wo es so kalt war, daß meine Lippen, wie ich im Spiegel sah, sich blau verfärbten, wusch ich mich von oben bis unten mit eisigem Wasser und frottierte mich langsam trocken. Die Kälte machte mir überhaupt nichts mehr aus. Ich hatte mich an sie gewöhnt.

Als ich im Bad fertig war, blieb ich draußen vor der Tür stehen und blickte durch den dämmrigen Flur zur Tür des vorderen Schlafzimmers. Erinnerungen an das Grauen der Nacht überfielen mich, und ich schlang fröstelnd beide Arme fest um meinen Oberkörper.

Auf bleiernen Füßen tappte ich durch den Korridor nach hinten. Von unten, wie aus unerreichbarer Ferne, hörte ich Großmutter vergnügt vor sich hin trällern. Sie lebte in einer anderen Zeit. Vor der Tür des Schlafzimmers angekommen, blieb ich stehen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und mein Mund war trocken. Den Blick auf die Tür gerichtet, lauschte ich angespannt. Auf der anderen Seite war alles still. Schließlich drehte ich entschlossen den Türknauf und stieß die Tür auf.

Das Zimmer zeigte sich mir in beruhigender Alltäglichkeit. Trotz des starken Regens fiel durch das Fenster hinter den halbgeöffneten Vorhängen genug graues Morgenlicht herein, um es in nüchterner Klarheit auszuleuchten. Da lag mein Koffer, da standen das Bett und der kleine Nachttisch, unter meinen Füßen lag der fadenscheinige Teppich, und da war der schäbige alte Kleiderschrank. Zu ihm ging ich hin und blieb vor der offenen Tür stehen.

Meine Blue Jeans hingen da und meine T-Shirts. Auf dem Boden lagen ein paar Flusen, Zeugnis dafür, daß der Schrank jahrelang leergestanden hatte. Und das war alles. Kein Hinweis darauf, was eines späten Abends im Jahr 1891 in diesen Schrank eingesperrt worden war und wie lange es dort eingeschlossen geblieben war. Ich hatte es plötzlich eilig, aus dem Zimmer hinauszukommen, die Gesellschaft meiner Großmutter zu suchen. Ich warf meine Sachen kurzerhand aufs Bett, lief hinaus und schlug krachend die Tür hinter mir zu.

Als ich unten ankam, sah ich, daß die Tür zum alten Salon offenstand. Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte auf die offene Tür. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Und in welchem Jahr befinden wir uns jetzt? fragte ich mich in angstvoller Verwirrung.

Unschlüssigkeit lahmte mich. Ich sehnte mich nach der vertrauten, schäbigen Gemütlichkeit des Wohnzimmers, aber ich wußte, wenn im Salon die Vergangenheit wieder zum Leben erwacht war, mußte ich mich ihr stellen. Ich hörte ein Geräusch und erschrak fast zu Tode. Dann aber holte ich tief Atem und ging zögernd ein paar Schritte in den dunklen Salon hinein. Irgend jemand — oder etwas — bewegte sich hier drinnen. Wieder blieb ich stehen, versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, und sah, vage und undeutlich, eine Gestalt. Alle meine Sinne aufs äußerste angespannt, versuchte ich, die Atmosphäre um mich herum aufzunehmen, um erkennen zu können, in welcher Zeit ich mich befand.

Ein weißes Gesicht tauchte plötzlich vor mir auf. Ich schrie unterdrückt auf und wich einen Schritt zurück.

«Viel zu kalt hier drinnen für dich, Kind«, sagte meine Großmutter, schob mich vor sich her aus dem Zimmer und machte die Tür zu.»Geh lieber ins Wohnzimmer, wo es warm ist. Komm.«

«Was hast du da drinnen getan, Großmutter?«Gekrümmt humpelte sie vor mir her.»Ach, ich hab nur ein bißchen aufgeräumt. Komm, der Tee ist fertig.«

Während Großmutter in der Küche verschwand, setzte ich mich auf meinen gewohnten Platz am kleinen Eßtisch, den sie schon für uns gedeckt hatte. Da standen eine große Kanne mit dampfendem Tee, eine Schale Butter, mehrere Gläser Marmelade, die Zuckerdose und ein Krug warme Milch. Schon beim Anblick all dieser Dinge wurde mir übel. Hastig drehte ich den Kopf zum Fenster.

Der kleine Hintergarten war im strömenden Regen kaum zu erkennen. Die Backsteinmauer mit der verrosteten Pforte war nur eine verschwommene Kulisse vor den Gießbächen, die an den Fensterscheiben herunterrannen. Nur undeutlich konnte ich die dürren Rosenbüsche sehen, die sich im peitschenden Wind neigten. Eine abschreckende, kalte Welt war das dort draußen.»So, Kind, hier sind die Brötchen. Noch richtig schön warm. «Der schwere Geruch der Buttermilchbrötchen war mir widerlich. Hastig wandte ich mich wieder ab. Ich konnte an diesem Morgen nichts essen. Selbst der Tee lockte mich nicht.»Was ist los, Kind? Fühlst du dich nicht wohl?«

«Du hast wahrscheinlich doch recht gehabt, Großmutter, ich habe anscheinend die Grippe erwischt. Ich fühle mich ziemlich flau. «Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte, das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt, wieder in den Regen hinaus. Was um alles in der Welt, war gestern nacht in dem Schrank gewesen?

«Ja, du bist auch sehr blaß. Trink wenigstens deinen Tee, Kind. Der tut dir bestimmt gut. «Sie drückte mir die Tasse in die Hand.»Komm, Kind, trink.«

Ich trank ihr zuliebe ein wenig Tee, aber es kostete mich Anstrengung, ihn hinunterzuwürgen. Mein Magen rebellierte bei dem Gedanken an Essen oder Trinken. Und während ich zum Fenster hinausstarrte in den Regen, dachte ich, so regnet es auch in meiner Seele.

Schweigend saßen wir uns gegenüber. Großmutter bestrich sich ein Brötchen mit Butter und aß es bedächtig. Ich lauschte dem Ticken der Uhr und dem unerträglich langsamen Verstreichen der Zeit.

Ein Klopfen an der Haustür schreckte mich auf. Großmutter stand mühsam auf und humpelte aus dem Zimmer. Ich hörte die Stimmen Elsies und Eds.

«Mistwetter!«schimpfte Elsie, als sie hereinkam und sich schüttelte wie ein Hund. Nachdem sie sich aus ihren dicken Sachen geschält und die Gummistiefel ausgezogen hatte, stellte sie sich mit dem Rücken vor den Kamin und lupfte ihren Rock.»Hallo, Andrea«, sagte sie zu mir.»Wie geht's dir denn heute morgen?«

«Hallo, Elsie — «

«Herrgott noch mal, bist du blaß! Hast du nicht gut geschlafen? Ist es dir hier nachts zu kalt? Schau dich doch an, du hast ja kaum was auf dem Leib.«

Ich blickte auf mein T-Shirt hinunter, dann zu Elsie hinüber, die über ihrem Rolli noch einen dicken Wollpullover trug. Dennoch fror sie und rieb sich fröstelnd die Hände.»Nein, mir ist nicht kalt.«

«Der Heizofen geht dauernd aus«, bemerkte Großmutter, die hinter Ed ins Zimmer kam.»Ich muß den Gasmann kommen lassen. Hier, trinkt eine Tasse Tee. Ich hab genug da. Ach, Andrea, du hast deinen ja kaum angerührt.«

«Das ist schon die zweite Tasse, Großmutter«, log ich.»Ich hab mir noch mal eingeschenkt, als du rausgegangen bist. «Sie tätschelte mir die Hand.»Das ist gut.«

«Sie sieht wirklich nicht gut aus, Mama«, bemerkte Elsie, als sie sich zu uns an den Tisch setzte, während Ed, nachdem er sich Tee eingeschenkt hatte, zum Kamin hinüberging. Ich beobachtete ihn verstohlen. Ich hatte Angst, er würde das Gas höher drehen.»Ach, aber mir geht's wirklich ganz gut. Kann ich heute mit euch ins Krankenhaus fahren?«

«Bestimmt nicht. Wir wissen selbst noch nicht, ob wir überhaupt hinfahren. Dieser Regen ist schrecklich! — Kann ich ein Brötchen haben, Mama? Danke. Die Straßen sind wie leergefegt. Der Regen prasselt nur so. Schaut doch.«

Großmutter und ich wandten uns zum Fenster.»Ich komm mir vor wie in einem Goldfischglas«, erklärte Großmutter.»Wie sieht's denn mit morgen aus? Glaubst du, wir können fahren?«

«Wenn das so weitergeht, wird's vielleicht nichts werden. «Ich hob fragend den Kopf.»Fahren? Wohin denn?«

«Na, zu Albert. Du weißt doch.«

«Ist morgen Sonntag?«

«Logischerweise, da heute Samstag ist.«

Das hieß, daß ich schon eine volle Woche hier war. Eine ganze Woche war vergangen, und mir war es kaum bewußt geworden. Einerseits kam es mir vor, als wäre ich gerade erst angekommen, andererseits, als wäre ich schon seit Jahren hier.»Ann kommt extra aus Amsterdam. Sie möchte Andrea so gern kennenlernen.«

Großmutter stand auf und ging zum Büffet, um das gerahmte Foto ihrer drei anderen Enkel zu holen — Albert, Christine und Ann. Sie setzte sich wieder zu uns und hielt mir die Aufnahme hin.»Das war vor zwei Jahren«, sagte sie,»als…«Ich blendete ihre Stimme aus, und das Bild verschwamm vor meinem Blick. Diese Menschen interessierten mich nicht. Ich hatte nichts mit ihnen gemeinsam, verspürte keinerlei Verlangen, sie kennenzulernen. Die anderen waren es, meine Vorfahren, zu denen ich mir Kontakt wünschte.

Abgerissene Worte drangen zu mir durch, während Großmutter und Elsie auf mich einredeten. Etwas von einem Häuschen an der Irischen See; von breiten Stranden; von Piers mit Restaurants und Tanzlokalen; von abendlicher Festbeleuchtung. Ich sah die beiden an und fragte mich, wie ich einen ganzen Tag in ihrer Gesellschaft aushaken sollte, wie ich es fertigbringen sollte, dieses Haus zu verlassen, an die Westküste zu fahren, um einen Haufen Leute kennenzulernen, die mich nicht interessierten, wie ich mit ihnen schwatzen und essen und so tun sollte, als amüsiere ich mich blendend.