«Ich habe den Brief nie erhalten«, wiederholte er mit mühsam beherrschter Stimme.»Die Postverteilung hat am College nie besonders gut geklappt. Aber verzeiht, ich habe nicht mit euch auf euer Glück getrunken.«

Victor hob sein Glas, neigte den Kopf in den Nacken und leerte das Glas mit einem Zug. Dann sah er wieder Jennifer an. Noch härter wirkte jetzt sein Gesicht, als hätte er eine neue Mauer hochgezogen, um seine Gefühle in Schach halten zu können. Er tat mir in der Seele leid. Victor stand in der Mitte des Zimmers, größer als die drei anderen, und doch schien er an Statur verloren zu haben. Seine Schultern waren gekrümmt, seine Arme hingen schlaff zu seinen beiden Seiten herunter. Nur er und ich wußten, was in diesem Augenblick in seiner Seele vorging; nur er und ich spürten die Bitterkeit und den Groll. Seinen Geschwistern zeigte er die Maske, die diese sehen wollten, und verbarg sich hinter ihr.»Nochmals — meinen Glückwunsch«, sagte er.»Das scheint mir ein sehr schneller Entschluß gewesen zu sein. Denn vor fünf Monaten, als ich das letzte Mal hier war, wart ihr doch noch nicht einmal verlobt, nicht wahr?«Sein Ton war leicht und ungezwungen.»Richtig, Victor, damals waren wir noch nicht verlobt. Aber wir haben es kurz danach nachgeholt. «John hielt Victor, der zur Sherryflasche gegriffen hatte, sein Glas hin.»Mach es doch gleich ganz voll, ja? — Danke. Du siehst also, Victor, du bist nicht der einzige Überraschungskünstler in der Familie.«

Johns Lächeln, als er das sagte, gefiel mir nicht. Seine Stimme hatte einen metallischen Unterton. Es war klar, daß er auf Victor eifersüchtig war und glaubte, einen Sieg über ihn davongetragen zu haben.

«Victor«, sagte Jennifer, mit kräftigerer Stimme jetzt,»wir glaubten, Sie würden nie zurückkehren. Wir hatten keine Ahnung. «Seine Augen verrieten nichts von seinen Gefühlen, als er sie ansah.»Ich wußte es ja bis vor vierzehn Tagen selbst nicht. Ich habe mich ganz impulsiv entschieden.«

«Das sieht dir gar nicht ähnlich, Victor«, warf John ein.

«Ach, wenn wir es nur gewußt hätten«, sagte Jennifer und versuchte, ihm mit Blicken mitzuteilen, was sie nicht in Worte zu fassen wagte.

«Was wäre dann gewesen?«Victor leerte sein Glas.»Hättet ihr dann die Trauung bis zu meiner Ankunft aufgeschoben? Wie aufmerksam von euch. Und wie rücksichtslos von mir, daß ich euch nicht viel früher von meinen Plänen Mitteilung gemacht habe. Aber das konnte ich eben nicht.«

«Aber Victor, laß doch! Hauptsache, du bist zurück!«Harriet faßte seine Hand und drückte sie. Das Strahlen ihrer Augen verriet mir, wie sehr sie ihren großen Bruder vergötterte. Doch von seinen Gefühlen schien sie nichts zu ahnen.»Vater hat sich so gefreut, als dein Brief kam. Du hättest ihn sehen sollen. Er hat richtig gelächelt, Victor. Und er ist jetzt so stolz auf dich. Dein hervorragendes Examen — «

«Danke, Schwesterchen«, sagte er trotz aller Bitterkeit mit Wärme in der Stimme.»Es tut gut zu wissen, daß ich willkommen bin.«

«Und Mutter hat die ganze Nacht geweint, nachdem sie deinen Brief gelesen hatte. Sie konnte sich gar nicht fassen. Sie ist fortgegangen, um eine Gans zu besorgen, Victor. Heute abend gibt es dir zu Ehren ein richtiges Festessen.«

Während Harriet in einem fort plapperte und John sich mit einem frischen Glas Sherry ans Feuer setzte, tauschten Victor und Jennifer einen letzten Blick.

Kapitel 10

Der Abend wird mir ewig als ein Alptraum im Gedächtnis bleiben. Victor war in der Erwartung heimgekehrt, Jennifer ungebunden vorzufinden, und hatte die Träume mitgebracht, die er um seine Liebe zu ihr gesponnen hatte. Nachdem er von ihrer Heirat mit John erfahren hatte, war es ihm nicht möglich, auch nur eine Nacht in dem Haus zu verbringen, in das er sie als seine Frau zu holen gehofft hatte. Er erklärte darum seinen Geschwistern, er hätte ein Zimmer im Gasthaus Horse's Head gemietet. John, Harriet und Jennifer, die von der brennenden Scham über seine Torheit, von seiner Enttäuschung und seiner Bitterkeit nichts ahnten, glaubten ihm, als er sagte, er müsse gehen und dafür sorgen, daß sein Gepäck vom Bahnhof zum Gasthaus gebracht werde. Sie baten ihn alle drei, damit bis nach dem Abendessen zu warten, doch Victor ließ sich nicht erweichen. Er wolle das letzte Tageslicht nutzen, erklärte er, und die Tatsache, daß es im Moment gerade nicht so stark regne.

Ich allein wußte, daß Victor, der energischen Schritts in den Flur hinausging und sich seinen Umhang über die Schultern warf, in den strömenden Regen hinaus mußte, um sich eine Unterkunft zu besorgen, daß er keine Bleibe hatte, daß kein warmes Zimmer mit einem freundlichen Feuer am Ende eines kurzen Wegs auf ihn wartete. Ich allein wußte, warum er gerade jetzt in den peitschenden Regen hinausstürmen und sich den tobenden Elementen preisgeben mußte. Er war zu zornig und zu aufgewühlt, um noch eine Minute länger in diesem kleinen Zimmer zu sitzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

John erbot sich, ihm einen Wagen zu rufen, aber Victor lehnte ab. Harriet ermahnte ihn, rechtzeitig zum Abendessen zurückzukommen. Jennifer tat gar nichts, stand nur stumm, wie benommen am Kamin, während Victor seinen Hut aufsetzte und zur Haustür ging. Die Hand schon auf dem Knauf, warf er einen letzten Blick zurück, bei dem mir eiskalt wurde. Er war wie eine finstere Vorahnung dessen, was kommen würde.

Im Lauf von vier Jahren hatte Victor Townsend Pessimismus und Mißtrauen gelernt. Seine Erfahrungen hatten ihn zu einem Mann geformt, dem es längst nicht mehr einfiel, den

Silberstreif am Horizont zu suchen, und an diesem Abend hatte er den letzten Schlag empfangen. Um einer Frau willen, die er kaum kannte, hatte er in blinder Leidenschaft alles aufgegeben, was ihm wichtig gewesen war. Und nun stand er mit leeren Händen da. Nichts war ihm geblieben als bitterer Selbstvorwurf.

Nachdem Victor gegangen war, verließen mich auch die anderen, und ich war wieder allein in dem kalten, dunklen Haus. Tausend Gedanken bestürmten mich, während ich über das tragische Schicksal meines Urgroßvaters nachdachte. Am meisten jedoch beschäftigte mich die Frage, wie es kam, daß Victor eine so starke Wirkung auf mich ausübte und daß ich innerlich so verbunden mit ihm war.

Während ich Victor nach seinem Eintritt ins Zimmer betrachtet, ihn mit den Augen verzehrt hatte wie er Jennifer, hatte ich gespürt, wie in mir sich etwas regte, und ich meine das nicht im übertragenen Sinn. Ich spürte tatsächlich eine Bewegung in meinem Körper, tief unten in der reichen, geheimen Gegend, in der, nehme ich an, wahre Leidenschaft geboren wird. Dort und nicht in meinem Herzen wurde ich zuerst von diesem rätselhaften, unerreichbaren Mann ergriffen; dort erwachte zum erstenmal etwas, das wohl immer schon dort geschlummert hatte, dessen Existenz ich nur bisher nicht wahrgenommen hatte. Erst nachdem dieser Urfunke entzündet worden war, sprach auch mein Herz wie in zärtlicher, gefühlvoller Antwort.

Ich hatte dort gestanden und Victor angesehen, der mir so nahe gewesen war, daß ich nur die Hand hätte zu heben brauchen, um ihn zu berühren, und hatte begonnen, ihn zu lieben. Es war ein Phänomen, das ich nicht begreifen konnte. Ich mochte fragen und forschen soviel ich wollte, ich kam der Erklärung nicht näher. Wie konnte ich körperliche, sinnliche Liebe zu einem Mann empfinden, der nahezu hundert Jahre tot war? Kam es daher, daß er für mich in jenen Momenten, da das Zeitfenster sich auftat, ein lebender, atmender Mensch war, so real wie Edouard oder William?

Wieso war ich so tief ergriffen von ihm und fühlte mich mit solcher Macht zu ihm hingezogen? Lag es daran, daß ich auf eine nicht zu erklärende Weise gezwungen wurde, alles zu fühlen, was er fühlte, seine geheimsten Freuden und Leiden mit ihm zu teilen? Es konnte keine Antworten geben, denn diese Fragen selbst entsprangen ja einer Situation, die außerhalb der Bereiche von Logik und Verstand lagen. So wenig sich diese Blicke in die Vergangenheit mit den Mitteln menschlicher Vernunft erklären ließen, so wenig erklärbar war meine gefühlsmäßige Verschmelzung mit Victor. Ich hatte die Ausflüge in die Vergangenheit akzeptiert und eingesehen, daß ich sie weder verstehen noch verhindern konnte. Ebenso würde ich jetzt diese Liebe akzeptieren müssen. Aber das fiel mir schwer. Diese starke Gemütsbewegung machte mir angst. Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich je Ähnliches empfunden hatte, und fand nichts.

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich in dieser kalten, stillen Stunde kurz vor Morgengrauen der erschreckenden Wahrheit ins Gesicht: Ich hatte nie geliebt. Nicht einmal Doug hatte ich geliebt.

Ich lag im dunklen Wohnzimmer im Haus meiner Großmutter, allein mit mir selbst und der Erinnerung an das, was sich hier vor fast einem Jahrhundert zugetragen hatte, und blickte zum ersten Mal in mich hinein. Einfach war es nicht, da ich den Blick nach innen bisher stets mit Erfolg vermieden hatte. Ich hatte mich in einem Leben bequemer Freundschaften, seichter Zerstreuungen und oberflächlicher Gefühle eingerichtet. Ich hatte viele Freunde und Liebhaber gehabt, aber nur einer dieser Männer hatte einen Eindruck hinterlassen — Doug, dem ich so unrecht getan hatte. Die anderen verschmolzen in meiner Erinnerung zu einer grauen gesichtslosen Masse. Immer war ich vor den tiefen Gefühlen davongelaufen und hatte die Verantwortung einer verbindlichen Beziehung gescheut, und jetzt sah ich mich mit Ereignissen und Gefühlen konfrontiert, über die ich keine Kontrolle hatte. Das war das Schlüsselwort! Kontrolle. In der Vergangenheit hatte ich stets alles unter Kontrolle gehabt. Ich hatte die Regeln aufgestellt, nach denen gespielt wurde. Sie dienten der

Abwehr und dem Schutz vor Schmerz und Verletzung. Aber sie hatten auch keine himmelhochjauchzende Freude oder Begeisterung zugelassen. In dem Bemühen, mir Schmerz zu ersparen, hatte ich mich auch der Freuden beraubt. Aber ich hatte diesen Preis angemessen gefunden.