Aus dem kleinen Radio scholl das durchdringende Wimmern schottischer Dudelsäcke, und im selben Moment bekam ich einen so heftigen Schüttelfrost, daß ich beinahe meinen Tee vergossen und meinen Teller fallengelassen hätte.
Großmutter drehte sich erschrocken um. Ich zitterte am ganzen Körper.
«Dir muß ja eiskalt sein!«Mühsam stand sie aus ihrem Sessel auf.»Das ist diese fürchterliche Kälte hier. Und du hast nur die dünnen Sachen an.«
Ich wollte etwas sagen, aber meine Zähne schlugen so unkontrollierbar aufeinander, daß ich kein Wort herausbrachte. Stumm sah ich zu, wie Großmutter mir Teller und Teetasse abnahm, beides auf den Tisch stellte und zum Sofa ging, um eine gefaltete Wolldecke zu holen. Sie breitete sie um mich aus und hüllte mich fest darin ein, wobei sie in beruhigendem Ton sagte:»Wenn ich mittags ein Schläfchen mache, nehme ich oft die Decke. Sie ist aus Shetlandwolle. Da wird dir gleich wieder warm werden.«
«L-lieber G-gott«, stieß ich zähneklappernd hervor.»Ich v-versteh g-gar nicht — «Und dann begann ich noch heftiger zu zittern.
Es war nicht die äußere Kälte. Ich spürte genau, woher es kam, und hätte Großmutter sagen können, daß ihre schöne Decke nichts helfen würde. Es kam von innen heraus, ein eisiger Hauch, der irgendwo in den Tiefen meines Körpers entsprang und jede seiner Zellen durchströmte. Mein Gesicht wurde heiß, meine Haut warm und trocken, aber immer noch schüttelte mich diese alles durchdringende Kälte.
Dann hörte ich ganz schwach, wie aus weiter Ferne, die Klänge eines Klaviers. Geisterhaft zart hob sich die Melodie, die mir vertraut war und der ich dennoch keinen Namen geben konnte, vom plärrenden Gewimmer der Dudelsäcke ab. Ich starrte erst das Radio an und dann Großmutter, doch die schien nichts wahrzunehmen. Ich drehte den Kopf hierhin und dorthin, um festzustellen, woher die sanft perlenden Töne kamen, aber es gelang mir nicht. Sie schienen aus allen Richtungen zugleich zu kommen.
Dann wußte ich plötzlich, was für eine Melodie das war, >Für Elise< von Beethoven. Sie schien von ungeschickter, ungeübter Hand gespielt zu werden, und gewisse Passagen wurden immer wieder gespielt, wie zur Übung, während der oder die Spieler/in an schwierigen Stellen stockte und stolperte. Es klang fast so, als spielte ein Kind.»Großmutter«, sagte ich.
Sie strich Marmelade auf ihr Brot und summte dabei das Lied der Dudelsackpfeifer mit.
Plötzlich fiel mir noch etwas auf. Die Uhr über dem Kaminsims tickte nicht mehr. Ich sah zu ihr hinauf. Sie schien stehengeblieben zu sein.
Das Zimmer war vom Wimmern der Dudelsäcke erfüllt, durch das wie traumhaft die Melodie von >Für Elise< hindurchklang.»Großmutter«, sagte ich lauter.»Deine Uhr ist stehengeblieben.«
Sie sah auf.»Was?«
«Die Uhr. Sie tickt nicht mehr. Hör doch.«
Wir starrten beide auf die Uhr über dem Kamin. Sie tickte wieder.
Meine Zähne schlugen jetzt wieder heftiger aufeinander, und so sehr ich mich bemühte, etwas zu sagen, ich konnte nicht. Doch plötzlich, im nächsten Moment schon, so unerwartet, wie es begonnen hatte, hörte das Zittern und Zähneklappern auf. Mein ganzer Körper war wieder ruhig.
«Nein, nein«, sagte Großmutter.»Die Uhr ist nicht stehengeblieben. Du hast nur das Ticken bei der Musik nicht gehört.«
«Und wegen des Klavierspiels wahrscheinlich. «Ich zog die Decke fester um mich.»Wegen des Klavierspiels?«
Ich sah meine Großmutter an. Es war so alt, dieses Gesicht, und doch war die frühere Schönheit immer noch deutlich erkennbar.»Ja, es spielt jemand«, sagte ich laut.»Horch!«
Wir horchten beide. Dann schaltete Großmutter das Radio aus. Nichts als das feine Ticken der Uhr war zu hören.»Da spielt niemand Klavier.«
«Aber ich hab's doch gehört.«
«Woher kam das Geräusch?«
Ich zuckte die Achseln.»Ich weiß nicht genau.«
«Vielleicht war es Mrs. Clarks Fernseher. Sie sitzt praktisch Wand an Wand mit uns. Abends kann ich sie manchmal hören.«
«Nein, das war kein Fernseher. Es klang, als spielte jemand im nächsten Zimmer. Hat Mrs. Clark ein Klavier?«
«Keine Ahnung. Aber sie ist genauso alt und arthritisch wie ich.«
«Wer wohnt in dem Haus auf der anderen Seite, Großmutter?«
«Das steht leer. Seit Monaten schon. Heutzutage will kein Mensch kaufen. Jeder schaut nur, daß er eine Sozialwohnung kriegt, die nichts kostet. Ich sag dir, das Sozialsystem in England ist eine Schande. Da lassen sie diese ganzen Pakistanis rein — «
«Ich war überzeugt, ich hätte etwas gehört…«, sagte ich ratlos.
«Du bist einfach müde, Kind. «Großmutter beugte sich zu mir herüber und tätschelte mir beschwichtigend das Knie.»Dir fehlt nur der Schlaf. Ich bin froh, daß du gekommen bist, Andrea. Dein Großvater wird sich freuen.«
«Was fehlt ihm eigentlich?«
«Er ist alt, Andrea. Er hat ein erfülltes und manchmal schweres Leben hinter sich. Aber es waren gute Jahre. Wir haben viel gemeinsam durchgestanden, dein Großvater und ich. «Als sie mich ansah, waren ihre Augen feucht, und ihre Lippen bebten.»Ich habe mit diesem Mann ein gutes Leben gehabt, und dafür werde ich immer dankbar sein. Es gibt nicht viele Frauen, denen es so gut ergangen ist wie mir. Nein, weiß Gott nicht. Und dabei hatte er im Krieg soviel durchgemacht…«Sie schüttelte bekümmert den Kopf.
«Er war auch im Krieg?«Das war ein Teil der Familiengeschichte, mit dem ich vertraut war. Mein Vater hatte oft vom Krieg erzählt, als er bei der Luftwaffe gewesen war und in der Luftschlacht um England mitgekämpft hatte.
Sie sah mich eine Weile schweigend, mit umflorten Augen an, dann blitzte Erheiterung in diesen Augen auf.»Ja, aber nicht im Zweiten Weltkrieg, Kind. Ich habe vom Ersten Weltkrieg gesprochen. Er war beim Pioniercorps, dein Großvater. Er hat in Mesopotamien gedient.«
Ich machte große Augen. Davon hatte ich nie etwas gehört.»Das wußtest du nicht, hm? Ich seh's deinem Gesicht an. Hat deine Mutter dir nie von uns erzählt? Nein? Hm…«Sie sah auf ihre Hände nieder.»Irgendwie kann ich's verstehen. Die Townsends hatten eine schreckliche Geschichte, bevor dein Großvater und ich heirateten.«
«Schrecklich? Wieso?«
Sie fuhr fort, als hätte sie meine Frage nicht gehört.»Deine Mutter hat dir wahrscheinlich nur aus ihrer eigenen Kindheit erzählt.
Von sich und Elsie und William. Ja, das kann ich gut verstehen. Aber du mußt auch etwas von deinen Großeltern wissen, nicht wahr, Kind? Schließlich bist du auch ein Teil von uns. Ach, dein Großvater und ich hatten oft ein aufregendes Leben, glaub mir. Stell dir vor, genau an dem Tag, an dem wir 1915 heirateten, wurde er nach Übersee geschickt. Danach habe ich ihn zwei Jahre lang nicht mehr gesehen, und als er endlich nach Hause kam, war er so verändert, daß er praktisch ein Fremder für mich war. Er war als junger Bursche fortgegangen, und als er nach Hause kam, war er ein Mann.«
Ich starrte auf ihre runzligen alten Lippen, während sie mir in diesem schwer verständlichen Dialekt ihrer Heimat erzählte.»Ja, er war ein ganz anderer geworden. Und als wir mit zwei Jahren Verspätung unsere Hochzeitsnacht nachholten, da war es für mich, als läge ich bei einem völlig Fremden. «Ich versuchte, mir diesen Mann vorzustellen, den ich nie gesehen hatte, den Vater meiner Mutter, der jetzt im nahen Krankenhaus im Sterben lag und der zweiundsechzig Jahre in diesem Haus gelebt hatte. Und dann versuchte ich, mir Großmutter als junges Mädchen vorzustellen, einundzwanzig Jahre alt, wie sie schamhaft und scheu das erstemal mit ihrem Mann zu Bett ging. Ich dachte an Doug, an unsere letzte gemeinsame Nacht, an die verletzenden Worte, die wir einander ins Gesicht geschleudert hatten. Aber als sein vertrautes, lächelndes Gesicht vor mir erschien, vertrieb ich augenblicklich die Erinnerung. Es war vorbei. Doug und ich waren fertig miteinander. Dieser Schmerz würde vergehen, die Erinnerungen verblassen, und ich würde wieder frei sein.
«Wenn man jung ist, denkt man nicht viel über die Vergangenheit nach, nicht?«meinte Großmutter. Sie rieb die Hände aneinander und hielt sie in die Wärme der Gasheizung.»Ich habe es jedenfalls nicht getan. Ich glaubte, ich würde ewig leben. In der Jugend denkt man nie an den Tod. Man hat noch keine Vergangenheit, auf die man zurückschauen kann, und man ist vom Tod so weit entfernt, daß man glaubt, er wird nie zu einem kommen. Aber wenn man alt wird, Andrea, und der Tod nicht mehr weit ist, dann ist die Vergangenheit das einzige, was einem bleibt. «Sie blickte einen Moment gedankenverloren vor sich hin, dann stand sie plötzlich aus ihrem Sessel auf, als wäre ihr etwas eingefallen.»Ich möchte dir etwas zeigen.«
Sie ging schwerfällig zum Büffet, stützte sich dabei auf die Rückenlehne des Sessels und auf ihren Stock. Ihre Beine waren nach außen gekrümmt, und ihre Schultern waren unter dem runden Rücken weit nach vorn gezogen.
Sie kramte in einer Schublade und sagte dann:»Hier hab ich etwas, das du nie gesehen hast.«
Sie reichte mir eine Fotografie. Es war eine sehr alte Aufnahme, die das Gesicht einer strahlend schönen Frau zeigte, das wie unter verblichenem Sepia verschleiert schien.»Wer ist das?«fragte ich.
«Das war die Mutter deines Großvaters«, antwortete sie. Ich konnte den Blick nicht von diesem schönen Gesicht wenden.»Seine Mutter? Hat Großvater Ähnlichkeit mit ihr? Wie alt ist das Bild?«
«Oh, das weiß ich nicht genau. Laß mich nachdenken. Es wurde aufgenommen, bevor Robert — das ist dein Großvater — geboren war, und sie war, glaub ich, zwanzig, als sie ihn bekam…«Ich spürte, wie mich diese traurigen braunen Augen in ihren Bann zogen. Das Lächeln der Frau, die das Haar züchtig zum Knoten gesteckt hatte und am hochgeschlossenen Kragen ihres Kleides eine Kamee trug, schien mir süß und schwermütig zugleich, und ich hatte den Eindruck, als hätte sie dem Fotografen nur widerstrebend für dieses Porträt gesessen. Ein Blick der Verlorenheit lag in den jungen Augen, eine Schwermut, die von stiller Zurückgezogenheit sprach. Ich stellte mir vor, wie sie gewesen sein mußte. Eine scheue, traurige, verwirrte junge Frau.»Vielleicht 1893«, sagte Großmutter.»Ist sie nicht eine Schönheit?«
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