«Ach John!«
«Harriet«, rief Victor impulsiv.»Beinahe hätte ich vergessen, daß ich dir etwas mitgebracht habe. «Er nahm ein kleines Päckchen vom Kaminsims und reichte es ihr.
«Victor! Vielen Dank, wie lieb von dir. «Vorsichtig packte Harriet das Geschenk aus und hob den Deckel des Kästchens, das unter dem Papier verborgen war. Mit großen Augen sah sie auf.»Was ist das?«
«Das ist eine Uhr, die man am Handgelenk trägt. «John trat näher, um sich die Sache anzusehen.»Was, zum Teufel — das ist doch nichts anderes als eine Taschenuhr.«
«Aber sie wird am Arm getragen. Sie ist extra für Damen entworfen, verstehst du, da sie kein Uhrtäschchen an ihren Kleidern haben. Komm, Harriet, gib mir deine Hand.«
Victor legte seiner Schwester die Uhr um und gab ihr einen leichten Klaps auf die Hand.»Na bitte! Genau wie die eleganten Frauen in London.«
Harriet strahlte wie ein Kind. Sie hielt die Uhr ans Ohr, horchte einen Moment und warf Victor dann mit einem Freudenschrei die Arme um den Hals.
«Also, soviel Aufmerksamkeit bekomme ich nie«, bemerkte John neckend, aber ich glaubte einen Unterton von Groll in seiner Stimme zu hören.
Ich sah zu Jennifer hinüber, die still am Feuer saß, die Hände im Schoß gefaltet. Der Schein der Flammen warf goldene und kupferrote Glanzlichter auf ihr tiefbraunes lockiges Haar. In ihren Augen war eine Schwermut, ein Ausdruck tiefer Sehnsucht und Verwirrung, der mich ergriff. Das zarte Profil mit der fein geschwungenen Nase und dem schwellenden Mund war sehr schön. Es machte mich stolz zu wissen, daß diese Frau meine Urgroßmutter war.
Der Gedanke hatte etwas Bestürzendes, denn sie war in diesem Moment so nahe und so lebendig, daß ich meinte, ich brauchte nur den Arm auszustrecken, um sie berühren zu können. Und was würde geschehen, wenn ich es tat? Diese Menschen aus der Vergangenheit waren meiner Anwesenheit nicht gewahr, und dennoch erschienen sie mir so real.
«Die muß ich Mutter zeigen«, rief Harriet und lief schon zur Tür.»Sie hat bestimmt noch nie von einer Armbanduhr gehört.«
Ein kalter Wind blies ins Zimmer, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloß. In der Stille war nur das Prasseln des Feuers zu hören. Ich sah Victor an. Der Sturm, der in seiner Seele tobte, spiegelte sich in seinen dunklen Augen, und ich vernahm die Frage, die er sich stellte: Warum mußte das geschehen?
Es berührte mich so tief, daß ich am liebsten aufgesprungen wäre und ihn umarmt hätte, wie Harriet das tun durfte. Doch mir war das nicht erlaubt. Ich mußte mich mit der Rolle der stummen Beobachterin zufriedengeben.
Aber ich nahm teil an seiner Qual. Ich fühlte sie. Ich konnte mich vor den Leidenschaften dieser Menschen nicht schützen. Ich hatte keine Abwehr gegen sie. Von allen Seiten stürmten die Gefühle auf mich ein: Jennifers ängstliche Verwunderung über die seltsame Wirkung, die Victor auf sie ausübte; Johns Eifersucht auf den Bruder, der im Mittelpunkt stand; Victors Liebe zu einer Frau, die er erst wenige Minuten kannte, und seine Verzweiflung darüber.
«Es ist schon dunkel draußen«, sagte John plötzlich.»Vater wird oben Feuer wollen. Bitte entschuldigt mich…«Er sah lächelnd zu Jennifer hinunter, aber sie blickte ihn an, als
nähme sie ihn gar nicht wahr. Er lief an mir vorbei zur Tür hinaus, und ich blieb allein mit den beiden Menschen, die meine Urgroßeltern waren.
Die Stille war voller Scheu und Unbehagen. Jennifer spielte mit ihren Fingern und starrte ins Feuer, und Victor, der vor ihr stand, sah grüblerisch ins Leere. Ich wünchte, sie würden sprechen, ihren Gefühlen Ausdruck geben, offenbaren, was in ihnen vorging, ehe die anderen zurückkehrten.
Wie in Antwort auf mein stummes Flehen hob Jennifer den Kopf und sagte:»Harriet hat mir erzählt, daß Sie in einigen Monaten nach Edinburgh gehen, Mr. Townsend.«
Er sah Jennifer an, und der grüblerische Blick in seinen Augen wich einem Ausdruck ungläubiger Verwunderung. Zugleich schoß ihm flüchtig ein Gedanke durch den Kopf: All die Frauen in London — wie viele? Flüchtige Begegnungen, die nur einen Tag oder eine Woche wichtig waren; Abwechslung und Ablenkung. Aber das hier, das ist etwas Neues…
«Ja, das ist richtig. Sobald ich mein Diplom in der Tasche habe, gehe ich dort ans Königliche Krankenhaus.«
«Und werden Sie lange dort bleiben?«fragte sie scheu und so leise, daß es kaum zu hören war.
«Das ist ganz unbestimmt, Miss Adams. Es kann sein, daß ich überhaupt nicht zurückkomme.«
Ihre Augen weiteten sich.»Oh, wie traurig! — Für Ihre Familie, meine ich.«
«Es zieht mich nicht nach Warrington. Ich möchte Forschungsarbeit leisten, neue Heilmittel entdecken. Auf diesem Gebiet wird gerade jetzt in Schottland viel getan, und mit einem Empfehlungsschreiben von Mr. Lister werde ich die richtigen Männer kennenlernen.«
«Ich finde das sehr bewundernswert. «Sie senkte den Kopf und blickte wieder ins Feuer. Wieder spürte ich Victors tiefes Verlangen, während er sie mit brennendem Blick betrachtete.»Wie lange leben Sie schon in Warrington, Miss Adams?«
Sie sprach, ohne aufzublicken.»Seit einem Jahr. Wir kommen aus Prestatyn in Wales
— «
«Ah ja, ich dachte mir schon — «
«Mein Vater bekam einen guten Posten im Stahlwerk angeboten. Er ist Abteilungsleiter, wissen Sie…«Jennifer hob den Kopf und sah Victor an. Kaum verhohlene Faszination lag auf ihrem Gesicht. Ich spürte, wie die Liebe in ihr anschwoll, und hörte ihre stumme Frage: Wie ist das möglich?
Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und die großen, fragenden Augen waren wie die eines Rehs.
«Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Miss Adams«, sagte Victor.»Es ist schade, daß wir uns erst so spät kennengelernt haben. «Sie sagte nichts.
«Wenn wir uns vor einem Jahr begegnet wären«, fuhr er ruhig fort,»dann…«
«Ja, Mr. Townsend?«sagte sie leise.»Dann wären wir vielleicht Freunde geworden.«
«Aber sind wir das jetzt nicht? Ich kenne Harriet seit einem Jahr. Wir sind viel zusammen. Und sie hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich habe das Gefühl, Sie schon zu kennen, Mr. Townsend. «Er lächelte.»Sie müssen einmal nach Edingburgh kommen. «Jennifer senkte wieder die Lider, und ihre Schultern wurden schlaff.»Ach, Schottland ist so weit weg. Ich fürchte, da werde ich nie — «
«Jennifer! Wenn ich Sie so nennen darf. Vielleicht kann ich eines Tages zu Besuch nach Warrington kommen. Werden Sie dann hier sein?«
Sein drängender Ton erschreckte sie ein wenig.»Mein Vater hat nicht die Absicht noch einmal umzuziehen. Ich bin sicher, daß wir in Warrington bleiben werden. Aber werden Sie denn zurückkommen? Können Sie zurückkommen?«
Mit einer heftigen Bewegung drehte sich Victor von ihr weg und sagte, beide Hände auf den Kaminsims gestützt, mit erstickter Stimme:»Ich kann niemals zurückkommen. Solange dies das Haus meines Vaters ist, kann ich nicht zurückkommen. Ich bin nicht mehr sein Sohn. Wenn Sie in der Tat Harriets Freundin sind, und sie mit Ihnen spricht, dann müssen Sie von dem Zwist zwischen mir und meinem Vater wissen…«
«Ja, sie — «
«Dann müssen Sie wissen, daß ich selbst jetzt eigentlich nicht hier sein dürfte, denn es würde ihn von neuem erzürnen, und er würde mich hinauswerfen, sollte er mich hier vorfinden. Selbst jetzt…«Die Stimme versagte ihm.»Er wird jeden Moment heimkehren, und ich muß gehen. Es tut mir leid, daß ich Sie so abrupt und unhöflich verlassen muß. Es ist wahrhaftig nicht mein Wunsch. Aber ich habe keine andere Wahl.«
Zorn und Hoffnungslosigkeit spiegelten sich in seinen Augen, als er sich umdrehte. Warum gerade jetzt? schrie es in ihm. Warum mußte ich dieser Frau gerade jetzt begegnen? Jetzt, da ich für immer fort muß. Die Qual ist unerträglich.
«Victor«, sagte ich plötzlich, und mein Herz schlug im Takt mit dem seinen.
«Wir können niemals Freunde werden, Jennifer«, fuhr er fort,»weil wir einander nie wiedersehen werden. Ich kann niemals in dieses Haus zurückkehren.«
Ich sprang auf und streckte den Arm nach ihm aus.»Victor! Hör mir zu!«
Aber meine Hand griff ins Leere, und ich war wieder in Großmutters schäbigem alten Wohnzimmer.
Kapitel 9
Ich stand am Fenster und blickte in einen grauen regnerischen Morgen hinaus, als sie ins Zimmer kam. Ich war seit Tagesanbruch auf. Ich hatte nur wenige Stunden geschlafen, und selbst da hatten mich merkwürdige, beunruhigende Träume heimgesucht. Sie erschrak wahrscheinlich, als sie mich da im dunklen, kalten Zimmer stehen sah.
«Andrea!«rief sie.»Ich habe nicht erwartet, daß du schon auf bist. «Sie knipste das Licht an.»Wieso ist es hier so kalt?«Ich hörte, wie sie durch das Zimmer humpelte. Laut schlug ihr Stock auf den Boden. Dann rief sie entsetzt:»Das Gas ist ja aus! Kind, hast du nicht gemerkt, daß das Gas ausgegangen ist?«
«Doch, Großmutter«, antwortete ich ruhig.»Ich habe es selbst ausgedreht.«
«Was? Aber was ist denn nur in dich gefahren? Es ist ja eiskalt hier drinnen. Warum hast du das Gas abgestellt?«Ich antwortete nicht, sondern blieb schweigend am Fenster stehen und sah hinauf auf die moosbedeckten Mauern und die dürren Rosenbüsche. Meine Großmutter humpelte zum Büffet, zog eine Schublade auf, nahm etwas heraus, kehrte zum Kamin zurück und zündete das Gas wieder an. Man konnte es leise zischen hören, aber es war nicht das Knistern und Prasseln des Holzfeuers, das einmal in diesem Kamin gebrannt hatte.
«Fühlst du dich nicht wohl, Kind? Stehst da in deinem dünnen Hemdchen wie versteinert. Komm, machen wir uns eine Tasse Tee.«
Schwerfällig bewegte sie sich durch das Zimmer, in dem zu viele Möbel standen, und humpelte in die Küche. Ich blieb am Fenster stehen. Der graue Morgen spiegelte meine Stimmung.»Der Nebel ist weg!«rief Großmutter aus der Küche.»Siehst du schon einen Sonnenstrahl?«
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