«Ach, Großmutter, das tut mir so leid. «Und es tat mir wirklich leid. Die Einsamkeit und die Sorge um ihren Mann belasteten Großmutter sehr, das war ihr deutlich anzusehen.»Ja, weißt du, Kind, dein Großvater und ich sind in den zweiundsechzig Jahren unserer Ehe nie getrennt gewesen. Nicht einmal einen einzigen Tag. Und jetzt dauert die Trennung schon Wochen. Ich komme mir so verloren vor ohne ihn. «Sie zog ein Taschentuch heraus und schneuzte sich.»Es ist spät, Kind, und ich bin müde. Ich denke, wir sollten zu Bett gehen.«
«Aber ja, Großmutter.«
Nachdem sie mir einen Gute-Nacht-Kuß gegeben hatte, schloß ich die Tür hinter ihr und schaltete das Gasfeuer aus. Dann setzte ich mich in meinen Sessel und überließ mich meinen Gedanken. Einen Moment lang war ich nahe daran gewesen, meiner Großmutter alles zu sagen, ihr mein Herz auszuschütten, von meinen seltsamen Erlebnissen, meinen Ängsten und bösen Ahnungen zu erzählen. Aber im nächsten Augenblick schon hatte ich die Traurigkeit in ihren Augen gesehen, die tiefe Müdigkeit in ihrem Gesicht und hatte es nicht über mich gebracht, ihr das Herz noch schwerer zu machen.
Aber es gab auch noch einen anderen Grund, der mich in letzter Sekunde bewogen hatte, Großmutter doch nichts zu sagen: Trotz aller Angst und allen Grauens, die ich soeben oben in meinem Schlafzimmer ausgestanden hatte, wurde mein Wunsch nach weiteren
Begegnungen mit meinen toten Verwandten immer stärker. Die Begierde, ihre Geschichte zu erfahren, wuchs ebenso wie meine Neugier, das Ende zu sehen. Die Angst, den >Zauber< zu brechen, wenn ich Großmutter oder sonst jemandem von meinen Erlebnissen etwas sagte, hatte mich veranlaßt zu schweigen. Ich hatte das Gefühl, in eine geheime Gesellschaft aufgenommen worden zu sein, Mitwisserin von Geheimnissen zu sein, von denen zu erfahren kein Außenseiter ein Recht hatte. Ich hatte Angst, den Lauf der Ereignisse zu stören und John, Harriet und Victor vielleicht nie wiederzusehen.
Aber ich mußte sie wiedersehen.
Jetzt lachte ich bei diesem Gedanken. Es ging nicht mehr nur um das Sehen, es ging um viel mehr. Sie hatten mich in ihre Gefühle und Leidenschaften hineingezogen, mich gezwungen, ihr Glück und ihren Schmerz mitzuerleben, wie den Konflikt zwischen Victor und seinem Vater. Die toten Townsends übertrugen ihre Empfindungen und Gefühle auf mich, so daß ich fühlte, was sie fühlten. Ich begann, mich mit ihnen wahrhaft verwandt zu fühlen, eine Verbindung spann sich an, wie ich sie mit keinem anderen je haben konnte. Etwas ganz besonderes. Etwas jenseits dieser Welt und dieses Lebens. Und es war mir schon teuer geworden. So wie mir die Townsends teuer geworden waren, ganz ohne Rücksicht darauf, was sie vielleicht in den kommenden Tagen tun würden. Und werde ich Victor immer noch mögen, dachte ich traurig, wenn ich erst seine schrecklichen Verbrechen mitangesehen habe?
Ich wollte nicht daran denken. Nicht jetzt, da sein Bild noch so frisch vor meinen Augen war, als stünde er leibhaftig vor mir. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Victor Townsend stand tatsächlich vor mir.
Die Hände auf dem Rücken, stand er breitbeinig am Kamin und wippte leicht hin und her, während er mit der Person sprach, die in dem Sessel neben mir saß.
«Ich mußte es riskieren, John«, sagte er.»Ich mußte noch einmal nach Hause kommen, ehe ich nach Edinburgh gehe. In fünf Monaten bekomme ich mein Diplom, dann reise ich von London direkt nach Schottland. Wer weiß, wann wir uns das nächstemal sehen werden.«
«Es kann dir passieren, daß Vater hereinkommt und dich hinauswirft. «
«Ich weiß. Aber er kommt ja selten vor acht aus dem Pub nach Hause. Da bleibt mir wenigstens ein kleines bißchen Zeit mit euch anderen.«
«Mutter will dich auch nicht sehen.«
«Ja, das ist mir klar. «Victor starrte mit düsterer Miene zu Boden.»Sie möchte mich schon sehen, aber sie hat Angst vor Vater.«
«Wir haben alle Angst vor ihm, Victor, nur du nicht. Glaubst du vielleicht, ich wäre nicht lieber auch nach London gegangen und ein feiner Herr geworden wie du? Du sprichst jetzt sogar wie ein echter Akademiker. Kein Mensch würde merken, daß du aus Lancashire kommst. Ach, Victor, du warst der einzige, der den Mut hatte, sich gegen ihn zu stellen. Und dafür bewundere ich dich. «Ich beobachtete Johns Profil. Ein Schatten von Traurigkeit trübte seine Augen, während er seinen Bruder wehmütig ansah.»Ja, ich bewundere dich. Mein Posten im Werk macht mir keine Freude. Aber ich habe keine andere Wahl. Vater würde mich vor die Tür setzen, wenn ich mich ihm widersetzen würde, und ich wüßte nicht, was ich sonst tun sollte. Du hingegen, du Glückspilz, du hast dieses Stipendium bekommen.«
Victor hob den Kopf und lachte. Seine Augen blitzten, und es machte mich glücklich, sein schönes Lächeln zu sehen.»Aber John, du bist doch glücklich und zufrieden mit deinen acht Pfund in der Woche! Außerdem wirst du Vater beerben und ich nicht. Ich gehöre nicht mehr zur Familie.«
«Aber das kannst du doch anfechten! In England — «Victor schüttelte den Kopf.»Das würde ich niemals tun, und das weißt du auch. Das Haus wird eines Tages dir gehören, John. Ich will es gar nicht. Das einzige, was ich brauche, ist mein Mikroskop und eine Schar engagierter Studenten. Beides werde ich in Schottland finden.«
Die Tür flog auf, und ein kalter Luftzug wehte Harriet herein. Dicht hinter ihr folgte Jennifer. Gespannt setzte ich mich auf.
Die beiden Mädchen eilten herein, schlössen die Tür hinter sich, und dann lief Harriet zu Victor und schlang ihm die Arme um den Hals.»John hat gesagt, daß du kommst!«rief sie außer Atem.»Ach, danke, daß du gekommen bist, Victor. Danke, daß du so mutig warst.«
Er nahm sie lachend in die Arme, ließ sich von ihr küssen und hörte amüsiert zu, während sie ihn mit Lob überschüttete. Seine Augen blitzten erheitert, kleine Lachfältchen bildeten sich an ihren Außenwinkeln, die Furche zwischen den Brauen glättete sich und war fast verschwunden.
Dann sah er Jennifer. Er hob den Kopf und blickte zur Freundin seiner Schwester hinüber, und sein Gesicht erstarrte. Das erheiterte Blitzen in seinen Augen erlosch, ein anderes, weit intensiveres Licht glomm in ihnen auf. Er starrte Jennifer an wie gebannt, ohne auf Harriets Schwatzen und die gelegentlichen Erwiderungen Johns zu achten. Und Jennifer, die gerade dabei war, das Band ihres Huts aufzuknüpfen, hielt mitten in der Bewegung inne, als sie Victor sah. Schweigend blickten sie einander in die Augen.
Nur ich bemerkte es. Harriet und John waren so vertieft in ihr Gespräch über das neue Automobil der O'Hanrahans, das erste in ganz Warrington, daß sie überhaupt nicht darauf achteten, was vorging. Ich als einzige erlebte den wunderbaren Augenblick im Jahr 1890, als Victor und Jennifer sich ineinander verliebten und einem Schicksal in die Hände fielen, aus dem sie sich nicht befreien konnten.
War es Liebe auf den ersten Blick? So jedenfalls empfand ich es, während ich beobachtete, wie die beiden einander unverwandt anblickten. Ich fühlte den plötzlichen Aufruhr der Gefühle in Victors Innerem, und das unerwartete Verlangen, das ihn erfaßte, erfaßte auch mich. Alles, was Victor bei dieser ersten Begegnung mit Jennifer fühlte, teilte sich mir mit. Und Jennifer? Als ich ihr in das fassungslose Gesicht sah, entdeckte ich auch in ihr eine plötzliche intensive Leidenschaft, eine Aufwallung von Gefühlen, die eben noch nicht spürbar gewesen waren. Aber ich nahm auch Verwirrung und Bestürzung wahr, denn diese Leidenschaft war ihr neu und erschreckte sie. Endlich begann Victor zu sprechen.»Meine kleine Schwester hat ihre guten Manieren vergessen«, sagte er gedämpft.»Mir scheint, ich muß mich selbst vorstellen. Victor Townsend. «Harriet wirbelte herum.»Demnächst Dr. Townsend! Oh, Victor, verzeih mir. Vor lauter Aufregung, dich zu sehen, habe ich Jennifer ganz vergessen. Victor, das ist Jennifer Adams. Sie wohnt in der Marina Avenue gleich beim Anger.«
Er trat zu ihr und reichte ihr die Hand. Ich spürte die knisternde Spannung. Sie ging von beiden aus.
John stand jetzt aus seinem Sessel auf, um ihn Jennifer anzubieten. Sehr steif und förmlich stand er vor ihr, ganz der wohlerzogene Kavalier. Aus ihrem Verhalten schloß ich, daß sie einander schon kannten. Harriet nahm Jennifers Umhang und trug ihn zusammen mit ihrem eigenen hinaus. Victor starrte sie immer noch an, doch sein Gesicht war jetzt umwölkt und nachdenklich. Jennifer strich sich mit den Händen glättend über ihren Rock, der schlichter war als Harriets, und ließ sich anmutig in den Sessel am Feuer sinken. Unter ihren gesenkten Lidern spürte ich Verwirrung. Sie rührte mich sehr, da ich wußte, was sie empfand.»Aufjeden Fall«, rief Harriet, als sie wieder ins Zimmer kam,»ist es ein aufregendes Vehikel, nicht wahr, Jenny? Es macht zwar einen Höllenlärm und stößt riesige Dampfwolken aus, aber es fährt ganz von allein.«
Victor riß sich mit einer Anstrengung aus seinen Gedanken, schüttelte den Kopf und sah stirnrunzelnd seine Schwester an.»Was redest du da eigentlich?«
«Von dem Automobil, das sich die O'Hanrahans gekauft haben. Jenny und ich haben es uns heute angesehen. Es fährt ganz von allein, Victor.«
«Der Verbrennungsmotor«, sagte Victor ruhig und sah zu der jungen Frau hinüber, die in dem Sessel neben mir Platz genommen hatte. Ich hatte den Eindruck, er wollte sich vergewissern, daß sie wirklich da war und nicht nur ein Bild seiner Phantasie.»Das mußte ja früher oder später kommen. Die Entwicklung geht heute auf allen Gebieten so rasch vorwärts, daß beinahe täglich etwas Neues kommt.«
«Ja, die O'Hanrahans haben sogar schon ein Telefon! Und elektrisches Licht. Wieso können wir kein elektrisches Licht haben?«John zuckte die Achseln.»Dieses Automobil ist sicher keine Sache von Dauer, da wette ich. Zu teuer, zu laut, viel zu umständlich instandzuhalten, und außerdem verpestet es die Luft. Es ist nichts weiter als ein neues Spielzeug, das Pferd wird es niemals ersetzen. Die O'Hanrahans wissen offenbar nicht wohin mit ihrem Geld. Im übrigen weißt du genau, daß du mit diesen Leuten — «
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