«Kommt nicht in Frage. «Großmutter wandte sich ab und humpelte durch das Zimmer zum Fenster hinter dem kleinen Eßtisch. Mit einem Ruck zog sie die Vorhänge auf.»Da! Sieh dir das an.«
Verdutzt starrte ich auf das Fenster. Es sah aus wie mit weißer Farbe zugeschmiert.»Was ist das?«
«Nebel. Mit freundlichen Grüßen aus Glasgow. Dort hatten sie ihn gestern — ich hab's im Radio gehört. Und jetzt ist er zu uns runtergezogen. Wir sitzen mitten in der dicksten Suppe, Kind. Da bleibt man am besten zu Hause.«
«Nebel…«
«Der kommt jedes Jahr, so sicher wie das Amen in der Kirche. Erst kriegen sie ihn in Glasgow, dann zieht er zu uns runter. So, ich mach dir jetzt einen schönen heißen Tee, den kannst du gebrauchen, und was Gutes zu essen. Du bist diese Feuchtigkeit hier einfach nicht gewöhnt. Und oben im Norden braut sich ein Sturm zusammen. Drum ist die Luft so drückend. «Nachdem ich drei von Großmutters Tabletten geschluckt hatte, nahm ich meine Sachen und ging hinauf ins kalte Badezimmer. Ich ließ mir ein heißes Bad einlaufen und stürzte mich, völlig durchgefroren, mit Wonne hinein, sobald die Wanne zur Hälfte gefüllt war. Während ich mich im dampfenden Wasser aalte, dachte ich weiter über die Geschehnisse der vergangenen Nacht nach.
Ein neuer Gedanke kam mir, und ich bedachte ihn sehr gründlich. Obwohl ich das Gefühl hatte — eine Art nebelhafter Ahnung —, daß das Haus mich nicht fortlassen wollte, fragte ich mich, was geschehen würde, wenn ich es versuchen sollte.
Die Besuche bei meinem Großvater gestattete es mir; sie schienen irgendwie in den größeren Plan hineinzugehören. Aber ich erinnerte mich einer inneren Rastlosigkeit, als ich in Williams Haus gewesen war — einer nagenden Ungeduld, hierher zurückzukehren —, und der Sog, den es auf mich ausgeübt hatte, als ich zu meinem Spaziergang auf dem Newfeld Heath aufgebrochen war, war unverkennbar gewesen.
Was aber würde geschehen, überlegte ich, während ich das heiße Bad genoß, wenn ich all meine Kraft und Entschlossenheit zusammennahm und versuchte, mich zu lösen? Würde es mich ziehen lassen?
Aber wie wollte es mich denn überhaupt aufhalten? Unsinnige Spintisierereien, schalt ich mich, während ich mich in der Kälte des Badezimmers trockenfrottierte. Wie albern, mich als Gefangene dieses Hauses zu sehen. Selbstverständlich konnte ich gehen. Jederzeit. Wann immer ich wollte. Es wäre nur lieblos gewesen, Großmutter nach so kurzer Zeit und ausgerechnet jetzt wieder allein zu lassen. Und ich konnte nicht nach gerade vier Tagen schon wieder nach Los Angeles zurückkehren. Es gehörte sich einfach, daß ich noch eine Weile blieb, Großmutter Gesellschaft leistete, meinen Großvater besuchte und die alten Verwandtschaftsbande neu knüpfte. Ich würde gehen, wenn ich dazu bereit war.
Das Essen war gut, aber ich hatte keinen Appetit. Dennoch zwang ich mich, Großmutter zuliebe wenigstens ein wenig zu essen. Sie musterte mich immer wieder mit besorgtem Blick.»Ist dein Haar schon trocken, Kind?«
Ich schob einen Finger unter das Frottiertuch, das ich mir um den Kopf gewickelt hatte.»Scheint so, ja.«
«Setz dich doch ans Gas, bis es richtig trocken ist. Nicht daß du mir eine Erkältung bekommst. Elsie und Ed kommen heute sicher nicht. Bei solchem Nebel gehen sie nie aus dem Haus. «Ich sah wieder zum Fenster. Alles war Grau in Grau. Der kleine Garten, die Backsteinmauer, die rostige Pforte und die dürren Rosenbüsche waren verschwunden. Noch nie hatte ich so dicken Nebel erlebt. Es war, als wäre das Haus von einem Wattemeer umhüllt.
«Wann geht er denn wieder weg?«
«Heute abend wahrscheinlich. Komm jetzt, setz dich ans Feuer.«
Mit trägen Bewegungen bürstete ich mir am Gasfeuer das Haar. Lieber hätte ich mich weiter weg gesetzt, es war mir sowieso schon zu warm im Zimmer. Aber Großmutter war um mein Wohlbefinden besorgt, und da ich gerade aus der Wanne gestiegen war, mußte ich ihr recht geben. Ich starrte in die bläulichen Gasflammen, während ich bürstete, und hing meinen Gedanken nach, die sich um die vier Menschen drehten, die ich am vergangenen Abend hier beobachtet hatte.
Als ich Großmutter in der Küche das Geschirr spülen hörte — sie wollte nichts davon wissen, daß ich ihr half —, nahm ich das Familienalbum und schlug es auf. Unglaublich, daß ich die Entstehung dieses Familienfotos miterlebt haben sollte! Ein verrückter Gedanke, daß dieses Bild, vergilbt und brüchig jetzt, seit Jahrzehnten in diesem Album steckte und ich doch erst vor wenigen Stunden seine Entstehung beobachtet hatte.
Was war die Zeit für ein seltsames Ding. Die Wirbel und Strudel des gewaltigen Flusses Zeit waren mir ein Rätsel. Ich erinnerte mich, irgendwo gelesen zu haben:»Die Zeit vergeht, meinst du? Aber nein! Die Zeit bleibt, und wir vergehen. «War das die Erklärung? Daß nicht die Zeit in Bewegung ist, sondern vielmehr wir durch sie hindurchfliegen, während sie stillsteht?
Und wenn einem von uns es gelingen sollte, nur einen Moment stillzustehen, konnte er dann zurückblicken…»Wo hast du das denn aufgestöbert?«Ich fuhr in die Höhe.»Was?«
Großmutter ließ sich schwerfällig in den Sessel sinken und stützte sich dabei bis zur letzten Sekunde auf ihren Stock. Existierte sie jetzt, in diesem Moment, vielleicht als junge
Frau in einem anderen Zeitabschnitt? Oder konnten wir nur zu den Toten zurückblicken? War es möglich, das Fenster zu unserer eigenen Vergangenheit zu finden und uns zu betrachten, wie wir gewesen waren, als wir jung waren?» Ich habe es im Salon gefunden.«
«Im Salon?«
Und wenn ich zusehen konnte, wie sich die Leben von Harriet, John und Victor entwickelten, würde ich dann auch die Geburt meines eigenen Großvaters miterleben?
«Du glaubst hoffentlich nicht, daß ich in deinem Haus herumschnüffeln wollte, Großmutter, aber du hast neulich Abend von dem Album gesprochen, und ich war so neugierig. Ich habe mir gedacht, daß es vielleicht im Salon liegt — «
«Es ist das Familienalbum der Townsends. Ich habe es mir seit Ewigkeiten nicht mehr angesehen. Seit der Geburt meiner Kinder nicht mehr. Zeig mal.«
Ich reichte ihr das Buch, und meine Gedanken wanderten weiter. Würde ich wahrhaftig meinen Großvater als kleines Kind sehen, oder gestatteten diese Blicke in die Vergangenheit nur die zu sehen, die schon tot waren?
Ich beobachtete Großmutters alte Hände, die Seite um Seite umblätterten. Brüchige Ränder und Ecken bröckelten unter ihren Fingern ab. Bei der Gruppenaufnahme im Wohnzimmer hielt sie einen Moment inne, betrachtete sie aufmerksam durch die Brillengläser und dann über ihre Ränder hinweg. Sie blätterte weiter, besah sich die anderen Fotografien, auf denen sie, wie sie sagte, kaum jemanden kannte.
«Von deinen Urgroßeltern ist kein Foto dabei«, bemerkte sie, als sie mir das Album zurückreichte.»Keines von Victor und keines von Jennifer.«
«Ja, ich weiß. «Ich legte das Album auf meinen Schoß.»Es wundert mich.«
«Das wundert dich? Aber hör mal, nach dem, was er ihr angetan hat und wie unglücklich es sie gemacht hat! Aber Schluß damit. Ich mag nicht über die Townsends reden. Ich will nicht Erinnerungen aufwühlen, die deinen Großvater sein Leben lang gequält haben. «
Ich sagte nichts. Was, dachte ich, würde Großmutter tun, wenn sie wüßte, daß jene Ereignisse, die zu den quälenden Erinnerungen ihres Mannes gehörten, sich eben in diesen Tagen noch einmal in ihrer ganzen Lebendigkeit und bitteren Realität in diesem Haus abspielten?
Gromutter nickte über ihrem Strickzeug ein. Ich hielt ein Buch in den Händen, das sie mir in der Hoffnung gegeben hatte, daß ich lesen würde, doch ich hatte es nicht einmal aufgeschlagen. Auch ich nämlich begann, die einschläfernde Wirkung des Nachmittags zu spüren. Der dichte Nebel vor dem Fenster, die drückende Wärme im Zimmer, das schwere Essen, das wir genossen hatten, und die Aufregung der vergangenen Nacht — das alles wirkte jetzt zusammen. Ich merkte, wie ich müde wurde, ließ den Kopf nach rückwärts an das Polster sinken und schloß die Augen.
Das sanfte, gleichmäßig Ticken der Uhr lullte mich ein. Als es aufhörte, erschrak ich nicht. Ich hob nur den Kopf und öffnete die Augen.
Victor Townsend war gekommen.
Ich sah zu meiner Großmutter hinüber. Das Kinn war ihr auf die Brust gesunken, ihre Lippen blähten sich und erschlafften im Rhythmus ihrer Atemzüge. Mein Blick kehrte zu Victor zurück, und wieder war ich beeindruckt von seiner imposanten Gestalt und seiner männlichen Schönheit. Wie war es möglich, daß er mir so lebendig und real erschien? Wie konnte diese Erscheinung aus der Vergangenheit soviel Substanz und Körperhaftigkeit besitzen, als wäre sie ein lebendiger, atmender Mensch? Ich registrierte jedes Detail: die dichten dunklen Wimpern seiner schwerlidrigen Augen; die breiten, geraden Schultern; den straffen Rücken und das volle, ungebärdige dunkle Haar. Lange sah ich in das markante Gesicht, das mir von Traurigkeit und Niedergeschlagenheit zu sprechen schien.
Victor lehnte am Kaminsims und blickte grüblerisch ins Feuer. Er schien bedrückt von seinen Gedanken, beunruhigt von dem, was er in den Flammen sah. Am liebsten hätte ich ihn angesprochen und gefragt, was ihn bekümmere.
Und angenommen, ich spreche ihn tatsächlich an? fragte ich mich plötzlich. Würde er mir antworten?
Ich bekam keine Gelegenheit, die Probe darauf zu machen. Im selben Moment nämlich hob Victor den Kopf und blickte zu einem Punkt im Zimmer, der sich hinter mir befand. Ich spürte einen kalten Luftzug, hörte das Klappen der Tür, die hinter mir geschlossen wurde. Es war jemand hereingekommen. Ich blieb starr und steif in meinem Sessel vor Angst, daß eine Bewegung von mir die Szene stören, mich dieses Augenblicks mit Victor Townsend berauben könnte. Als sein Vater in Erscheinung trat und dicht neben mir stehenblieb, hielt ich den Atem an. Ernst und schweigend sahen die beiden Männer einander an. Jeder schien genau abzuwägen, was er sagen wollte, und beide Gesichter zeigten Traurigkeit.
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