Kapitel 7
Ich ertastete die Tür zum Salon und blieb stehen. Als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich, daß die Wohnzimmertür nur noch einen Spalt offenstand — hatte ich sie nicht ganz offen gelassen? — und wie durch eine optische Täuschung weit entfernt schien. Eine ungewöhnliche Trockenheit lag mir in Mund und Kehle, und mein Rücken war schweißnaß.
Ich legte die Hand auf den eiskalten Türknauf. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und die Angst lahmte mich fast, aber ich konnte nicht zurück. Ich mußte das Album finden.
Ich kann mich nicht erinnern, den Knopf gedreht, die Tür aufgestoßen zu haben, doch im nächsten Moment stand sie offen. Vor mir sah ich nichts als undurchdringliches Dunkel. Es roch nach Staub und Verfall. Die Luft war muffig wie in einem feuchten Keller oder in einer Gruft, in der es nur Tod und ewiges Vergessen gab.
Ehe ich eintrat, warf ich noch einmal einen Blick zurück zum Wohnzimmer. Die Tür war jetzt ganz geschlossen. Kein Lichtschimmer drang nach außen. Das hätte mich eigentlich erschrecken müssen, denn ich hatte die Tür ja weit offen gelassen, aber ich hatte jetzt für nichts anderes mehr Sinn als das Album. Und mein Körper schien allen eigenen Willens beraubt. Dieselbe unsichtbare Macht, die mich trieb, das Album zu suchen, zog mich jetzt in den alten Salon.
Als ich plötzlich das Klappern meiner aufeinanderschlagenden Zähne hörte, erschrak ich. Aber dann erkannte ich den Ursprung des Geräuschs und tappte vorwärts, anstatt zurückzuweichen. Der Raum, in dem ich mich befand, hatte keine Ecken, keine Wände, keine Grenze. Er dehnte sich ins Unendliche, in die ewigen Regionen von Nacht und Nichts und Hoffnungslosigkeit. Was auch immer hier hauste, es war unglücklich.
Ohne zu überlegen, hob ich den Arm und streifte den Lichtschalter. Es kam mir vor wie ein Wunder, daß die Glühbirne an der Decke aufflammte. Ihr Licht zeigte mir einen seit vielen Jahren unbewohnten und vernachlässigten Raum. Weiße Laken lagen staubbedeckt über schweren Möbelstücken, von denen nur die Füße zu sehen waren. Der kahle Holzfußboden war zerkratzt, der Kamin mit Brettern vernagelt, die Vorhänge am Fenster waren brüchig. Zu meiner Linken stand unter dicken Staubschichten ein altmodisches Rollpult.
Ich näherte mich ihm vorsichtig, voller Sorge, daß meine Anwesenheit das Gleichgewicht des Raums stören könnte. Ich hatte das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl das Fenster verhüllt war und keine Bilder an den Wänden hingen. Hirngespinste, sagte ich mir wieder einmal, umfaßte entschlossen die Kante des Rolldeckels und versuchte, ihn hochzuschieben. Es gelang mir nur mit großer Anstrengung und selbst dann nur teilweise. Der verborgene Mechanismus des Rolldeckels klapperte und ratterte laut, seine staubverklebten Leisten knarrten und quietschten unter meinen Händen. Auf halbem Weg klemmte er und war keinen Zentimeter weiter zu bewegen. Ich neigte mich hinunter, um unter den herabhängenden Deckel zu spähen, und sah einen Schreibtisch voll alter Papiere, Hefte, Kästchen und anderem Kram. Die kleinen Fächer waren fast alle leer, nur in einigen steckten gelbe Briefumschläge. Ein Fotoalbum sah ich nicht.
Aber es waren ja auch noch Schubladen da. Eine, die die ganze Breite des Pults einnahm, und drei schmalere auf der einen Seite des Möbels. Die erste reagierte überhaupt nicht, als ich zog. Die zweite öffnete sich problemlos, aber sie war leer. Die dritte war voll alten Geschenkpapiers und bunter Bänder. Doch in der letzten Schublade lag endlich das Album.
Als ich aus dem Salon trat, sah ich die Wohnzimmertür wieder weit offen, aber ich war zu aufgeregt über meinen Fund, um dieser erstaunlichen Tatsache mehr als einen flüchtigen Gedanken zu schenken. Wieder einmal hatte mir die Phantasie einen Streich gespielt, und zweifellos war auch das Bedrohliche, das ich im Salon zu spüren geglaubt hatte, nichts weiter als Einbildung gewesen. Ich schaltete das Licht im Salon aus und eilte ins Wohnzimmer. Erst als ich die Tür fest hinter mir geschlossen hatte, wurde mir bewußt, wie besessen ich von dem Verlangen gewesen war, dieses Album zu finden, das ich jetzt an die Brust gedrückt hielt. Ich fühlte mich plötzlich völlig erschöpft. In diesem Buch war die Geschichte der Townsends niedergelegt. In diesem Buch würde ich meine Antwort finden.
Nachdem ich es mir im Sessel am Feuer bequem gemacht und meine Beine auf dem Sitzpolster ausgestreckt hatte, schlug ich langsam, als handle es sich um ein feierliches Ritual, das Buch auf. Moder und Feuchtigkeit hatten die ersten Seiten untrennbar miteinander verklebt und Papier und Fotografien in eine säuerlich riechende Masse verwandelt. Die Seiten zerbröckelten mir unter der Hand. Ich war enttäuscht und bestürzt. Wie viele der Bilder mochten zerstört sein, wieviel von der Geschichte der Townsends unwiederbringlich verloren sein? Sehr vorsichtig blätterte ich weiter und stellte zu meiner Freude fest, daß das Album ansonsten recht gut erhalten war. Verblichene, von Knicken durchzogene ovale Porträts zeigten mir die Gesichter noch älterer Townsends: Frauen in Krinolinen und mit Biedermeierfrisuren; Männer in steifen Stehkragen, das Haar nach romantischer Art schwungvoll in die Stirn gebürstet. Ich war jetzt noch tiefer in der Vergangenheit, blickte hier vielleicht in die Gesichter von Victors Großeltern, Fremden, in deren Zügen nichts Vertrautes zu erkennen war. Ich starrte in diese ausdruckslosen Gesichter, in diese hohlen Augen und versuchte, hinter die Fassade zu blicken, um vielleicht etwas von der Persönlichkeit dieser Menschen zu spüren, die ja auch zu meinen Vorfahren zählten. Und dann sah ich es. So vertieft war ich in die Betrachtung der Bilder meiner fernen
Vorfahren gewesen, daß ich einen Moment lang mein Ziel ganz aus den Augen verloren hatte. Als ich auf das Bild stieß, versetzte mir das einen solchen Schock, daß ich einen Moment lang zu atmen vergaß.
Da waren sie. Mr. und Mrs. Townsend hinten mit dem Plakat von >Wylde's Großem Globus< über den Köpfen, John und Harriet vorn. Da war das voluminöse Kleid der Mutter, der elegante Schnauzbart des Vaters; Johns sanftes Gesicht mit der Andeutung eines Lächelns; Harri et mit einer widerspenstig herabhängenden Locke über dem Ohr.
Unter dem Foto stand in klaren Schriftzügen, die wie gestochen wirkten, Juli iSycx.
Wie war das möglich?
Achtlos ließ ich das Album von meinem Schoß auf den Boden gleiten. Hinter meinen Augen begann es zu pochen, und das Pochen wurde zu einem dumpf klopfenden Schmerz ähnlich dem, mit dem ich am Morgen erwacht war. Doch schlimmer als die Kopfschmerzen war für mich die Vergeblichkeit meiner Fragen. Wie war das möglich?
Ich hatte keine Erklärung, ich wußte nur, daß es in der Tat möglich war. Die Fotografie in diesem Album war genau die, welche ich Mr. Cameron vor nur einer Stunde hatte aufnehmen sehen. Da war Harriet mit ihrer widerspenstigen Locke und dem dunklen, weiten Rock, in dessen linker Tasche ein geheimer Brief versteckt war.
Das Foto war Zeugnis eines kurzen Augenblicks im Leben dieser längst verstorbenen Menschen; Abbildung einer Szene, die tief in der Vergangenheit lag. Und doch hatte ich diesen Moment miterlebt, diese flüchtige Szene so beobachtet, wie sie wirklich gewesen war — real, lebendig, bestimmt von Menschen aus Fleisch und Blut.
Ich hatte den beißenden Geruch des verbrannten Magnesiums wahrgenommen!
Dafür mußte es doch einen Grund geben. Die Townsends folgten dem Lauf der Zeit auf dem Weg zu ihrem unausweichlichen Schicksal, wie uns das allen aufgegeben ist, und aus irgendeinem Grund mußte ich ihnen dabei zusehen. Würden sich denn die Szenen, die sich vor meinen Augen entfalteten, letztendlich zu einer Geschichte gestalten?
Wenn dem so war, würde ich dann gezwungen sein, die schrecklichen Geschehnisse mitzuerleben, die sich bald in diesem Haus ereignen sollten — diese unsäglichen Scheußlichkeiten, die den Townsends ihr Haus in der George Street zur Hölle gemacht hatten?
Mit jeder unlösbaren Frage wurden meine Kopfschmerzen stärker. Ich massierte mir die Schläfen, aber ich konnte nicht zur Ruhe kommen.
Was für eine Lösung gab es für mich? Wenn es keine Antworten gab, keine Gründe dafür, warum oder wozu mir das widerfuhr, wäre es dann nicht die einfachste Lösung, das Haus meiner Großmutter zu verlassen und nicht wieder zurückzukommen? Tief im Innersten wußte ich die Antwort. Erst an diesem Nachmittag, als ich aus dem Haus gegangen war, um einen Spaziergang zu machen, hatte ich sein Widerstreben gespürt, mich gehen zu lassen. Ich hatte es als Einbildung von mir abgetan. Aber jetzt wußte ich die Wahrheit. Ich konnte das Haus in der George Street nicht verlassen. Es würde mich nicht gehen lassen.
Ich spürte Großmutters Hand auf meiner Schulter und starrte sie verwirrt an. Ich hatte keine Ahnung, wann sie ins Zimmer gekommen war, verstand nicht, wieso ich sie nicht gehört hatte.»Es ist bald Mittag«, sagte sie mit Besorgnis in der Stimme.»Ich war den ganzen Morgen sehr leise, um dich nicht zu wecken, aber du hast plötzlich angefangen zu stöhnen. Du siehst gar nicht gut aus, Kind. Andrea, kannst du mich hören?«Ich drehte den Kopf hin und her, verzog das Gesicht vor Schmerzen und nahm wie durch Dunstschleier wahr, daß ich im Nachthemd war und unter den Decken auf dem Sofa lag. Es war unerträglich heiß im Zimmer.
«Ja, Großmutter, ich höre dich. Es ist nichts. Ich habe nur wieder solche Kopfschmerzen. «Ich griff mir mit der Hand an die Stirn. Ich fühlte mich wie betäubt.
«Armes Kind. Das ist bestimmt die Feuchtigkeit. Ich hol dir noch mal eine Tablette. Und ins Krankenhaus fährst du mir heute nicht!«
«Ach, aber Großmutter…«Ich stützte mich auf die Ellbogen und richtete mich auf.»Ich möchte aber fahren.«
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