Ich hörte stolpernde Schritte und lautes Poltern an meiner Seite, und als ich den Kopf drehte, sah ich den Fotografen eintreten, einen maulwurf sähnlichen Mann mit buschigem Schnurrbart und ölgeglättetem Haar. Ächzend und stöhnend schleppte er mehrere unhandliche Kästen ins Wohnzimmer.
«Sie sind sehr pünktlich, Mr. Cameron«, sagte Mrs. Townsend lobend.»Mein Mann wird sofort herunterkommen.«
«Wir werden gleich alles vorbereitet haben, Madam. Heimporträts sind mein Geschäft, da habe ich Übung im schnellen Aufstellen der Geräte.«
Gemeinsam sahen wir zu, wie Mr. Cameron flink wie ein Wiesel seine Geräte in der Mitte des Zimmers aufstellte. Erst kam das dreibeinige Stativ, dann folgte die ziehharmonikaähnliche Kamera mit dem weit herabfallenden schwarzen Tuch. Nachdem er den Apparat auf dem Stativ befestigt hatte, klappte er einen zweiten Kasten auf, der Holzkassetten, Metallplatten und viele sauber etikettierte Flaschen enthielt. Mit Johns Hilfe rückte er dann das Sofa von der Wand weg und stellte seinen Fotoapparat ein.»Wenn die Herrschaften sich jetzt bitte hinter dem Sofa aufstellen würden? Das Plakat gibt einen schönen Hintergrund ab. Es stammt wohl von der großen Ausstellung?«
«Ich höre meinen Mann kommen«, sagte Mrs. Townsend, während sie sich mit ihren voluminösen Röcken etwas mühsam in den kleinen Raum hinter dem Sofa zwängte.
Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um Victors Vater eintreten zu sehen, einen großen, schweren Mann, der noch dabei war, seinen steifen Kragen zu knöpfen. Er wirkte streng und furchterregend in seiner schwarzen Kleidung. Selbst das Halstuch unter dem weißen Kragen war schwarz. Das Auffallendste an seinem Gesicht waren der breit ausladende, steif gezwirbelte Schnauzbart, der wie aus Holz geschnitzt aussah, und die tiefe Furche zwischen den dunklen Augenbrauen. Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß dies Victors Vater war, ein gutaussehender und imposanter Mann.»Dann mal los«, sagte er mit dröhnender Stimme in kaum verständlichem Londoner Cockney.
Die Familie stellte sich in Positur — Harriet und John vorn, die Eltern hinter ihnen, jedoch so postiert, daß keiner den anderen verdeckte. Hinter der Gruppe prangte farbenfroh das Reklameplakat von >Wylde's Großem Globus<, der angeblich ein >Wunder moderner
Zeiten< war, fast zwanzig Meter im Durchmesser maß und zahlreiche Ausstellungsräume vorweisen konnte, so daß eine Besichtigung mehrere Stunden in Anspruch nahm. Das Plakat trug kein Datum, doch ich vermutete, daß es eine Erinnerung an glückliche Stunden war.
Mr. Cameron arbeitete schnell und geschickt, tauchte unter das schwarze Tuch, sprang wieder darunter hervor, bis er endlich mit der Schärfeneinstellung des Apparats zufrieden war. Dann schob er zwei Platten in den Apparat, tauchte ein letztes Mal unter das schwarze Tuch und sagte:»Ich lösche jetzt die Lichter. Bitte rühren Sie sich nicht. Bleiben Sie genauso, wie Sie sind. Keine — Bewegung jetzt..«
Nachdem Mr. Cameron eine genau bemessene Menge Magnesium in den Metallbehälter gestreut hatte, den er in einer Hand hielt, drehte er die Gaslampen herunter, bis der Raum fast im Dunkeln lag. Im schwachen Lichtschein, der sich zwischen den Vorhängen hindurchstahl, konnte ich sehen, wie er den Deckel vom Objektiv nahm, die Holzkassette aus der Kamera schob, ein Schwefelholz anriß und das Magnesiumpulver entzündete. Es gab einen hellen Blitz, dann erfüllte dichter, beißender Rauch das Zimmer. Die Townsends hüstelten ein wenig. Mr. Cameron drückte rasch den Deckel wieder auf das Objektiv, schob die Holzkassette wieder über die Kupferplatte und machte Licht. Die vier hinter dem Sofa wischten sich Aschestäubchen mit Ärmeln und Taschentüchern von den Gesichtern, während Mr. Cameron die Kassette herumdrehte und noch einmal Pulver in den Metallbehälter gab.
«Noch eine Aufnahme, wenn die Herrschaften gestatten, damit wir sicher sein können, daß es gelingt. Ich glaube, bei der ersten haben sie alle die Augen zugekniffen. Bitte versuchen Sie, die Augen offenzuhalten, wenn der Blitz kommt. «Er wiederholte die Prozedur, und als er fertig war, bemerkte Harriet zu ihrem Kummer, daß eine ihrer Haarlocken herabgefallen war und an ihrem Ohr herabhing.
«Soll ich noch eine Aufnahme machen, Mr. Townsend?«fragte der nervöse kleine Fotograf.
«Danke, Mr. Cameron. Diese eine kommt uns teuer genug zu stehen.«
«Aber Vater — «, protestierte Harriet.
«Gehorch deinem Vater«, sagte Mrs. Townsend.»Wenn die erste Aufnahme nichts wird, muß es eben die zweite tun — ob mit oder ohne Locke. Wir sind keine reichen Leute, Harriet. «Während die Familiengruppe sich auflöste und Mr. Cameron seine Geräte einpackte, fragte ich mich, warum man das Porträt jetzt hatte anfertigen lassen, anstatt bis zu Victors nächstem Besuch zu warten. Es wirkte geradeso, als wollten sie alle Victor gar nicht dabeihaben…
Sie verließen mich jetzt, Gestalten und Kulisse verblaßten langsam, bis ich schließlich wieder allein im Wohnzimmer meiner Großmutter vor dem Gasfeuer stand. Ich fühlte mich so ausgelaugt wie nach einer schweren inneren Anstrengung und ließ mich schlaff in meinen Sessel fallen. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte zehn nach neun.
Ich setzte mich mit einem Ruck auf. Das war doch nicht möglich. Ich hatte mindestens eine halbe Stunde mit den Townsends verbracht, wenn nicht länger. Und doch war dieser Uhr zufolge Großmutter gerade erst hinausgegangen.
Ich drückte beide Hände auf die Augen und stöhnte laut. Was war nur mit mir los? War ich vielleicht einfach hier im Sessel eingeschlafen, hatte einen Traum gehabt und war dann mit dem Gefühl erwacht, er wäre real gewesen? Traumforscher, so erinnerte ich mich, behaupteten, der Durchschnittstraum dauere nur zwanzig Sekunden, auch wenn es dem Träumer danach schien, als hätte er viel länger gedauert. War es also ein Traum gewesen? Hatte sich meine Phantasie von Großmutters Erzählungen und ihren alten Fotografien anregen lassen? Waren all diese Geschehnisse, die mir so real erschienen, nichts als Träume?
Ich ließ die Hände in den Schoß sinken. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, Gewißheit zu erlangen! Ich mußte wissen, ob ich an Halluzinationen litt oder ob das alles Wirklichkeit war. Aber wie sollte ich das zuwege bringen?
Ich starrte auf meine Hände und ging noch einmal alles durch, was ich soeben miterlebt hatte. Ich sah den wieselflinken Mr. Cameron vor mir, die stattliche Mutter, den imposanten Vater. Ich hatte noch den beißenden Geruch des verbrannten Magnesiumpulvers in der Nase. Während ich mir jedes Detail noch einmal ins Gedächtnis rief, kam mir plötzlich die Erleuchtung: Die Familie hatte sich fotografieren lassen!
Natürlich! Da lag die Antwort. Ich konnte sie im Familienalbum der Townsends finden, von dem Großmutter gesprochen hatte. War es möglich, daß das Gruppenbild, dessen Aufnahme ich soeben beobachtet hatte, sich in dem Album befand? Und wenn das der Fall war…
Plötzlich mußte ich unbedingt dieses Album finden. Auf der Stelle. Ich mußte es sehen. Die verblichenen braunen Aufnahmen lang verstorbener Menschen würden mir die Antworten geben, die ich suchte.
Wenn dieses Gruppenbild der vier Townsends im Album zu finden war, würde mir das die Gewißheit geben, daß ich in der Tat ein Fenster in die Vergangenheit entdeckt hatte. Obwohl es mir widerstrebte, in den Sachen meiner Großmutter herumzukramen, stand ich schließlich auf und ging zum Büffet. Und nachdem ich einmal die erste Schublade aufgezogen hatte, begann ich zu suchen wie eine Besessene.
Eine Viertelstunde lang wühlte ich zwischen Nähkästchen, Handschuhen, altem Silber und Unmengen von Souvenirs, die meine Großmutter im Laufe ihres Lebens gesammelt hatte. Dann hockte ich mich verzweifelt und mutlos auf den Boden neben dem Büffet. Das Album war nirgends.
Aber damit wollte ich mich nicht zufrieden geben, und nachdem ich ein paar Minuten lang still vor mich hin gewütet hatte, begann ich von neuem zu überlegen und hatte bald einen Einfall. Aber willkommen war er mir nicht; eher machte er mir angst. Ich hob den Blick zu der Wand hinter dem Sofa und starrte sie so intensiv an, als könnte ich durch sie hindurch in das Zimmer auf der anderen Seite sehen. Gleichzeitig gingen mir Großmutters Worte vom ersten Abend durch den Kopf.»Den früheren Salon benutzen wir schon seit vielen Jahren nicht mehr. Mindestens zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre. Seit William geheiratet hat und ausgezogen ist. Wir brauchen ihn nicht mehr. Wir können ihn nicht heizen, darum benutzen wir ihn als Abstellraum. «Langsam stand ich auf. Erst am vergangenen Abend, als ich nach der Begegnung mit der weinenden Harriet im oberen Schlafzimmer wieder heruntergekommen war, hatte ich jemanden auf dem Klavier >Für Elise< spielen hören. Die Klänge waren aus dem Salon gekommen. Kamen sie immer aus diesem Raum, wenn ich sie hörte? Und wenn ja, wer spielte auf dem Klavier? Ich holte einmal tief Luft und wischte mir die feuchten Hände an den Jeans ab. So groß meine Furcht war, mein Verlangen, das Album zu finden, war stärker. Zögernd noch ging ich zur Tür und zog sie leise auf.
Vor mir lag wieder der finstere Flur wie eine unermeßlich große schwarze Höhle. Mit weit geöffneten Augen trat ich hinaus und hatte das unheimliche Gefühl, in einen Tunnel hineinzugehen, der kein Ende hatte. Hinter mir befanden sich die Wärme, das Licht und die Geborgenheit des Wohnzimmers; vor mir warteten bedrohliche Finsternis und Eiseskälte. Und dennoch war die Anziehungskraft des Nebenzimmers stärker als alle meine Bangnis. Im Familienalbum der Townsends würde ich endlich die Antworten finden, die ich suchte. Ich mußte es haben. Es war merkwürdig, daß mir so bang war, das fiel mir selbst auf, während ich mich blind die klamme Wand entlangschob, denn bisher hatte ja nichts, was geschehen war, mir in irgendeiner Weise geschadet. Die beiden Familienszenen im Wohnzimmer waren nur freundlich gewesen, und ich hatte mich keine Sekunde bedroht gefühlt. Weshalb also war mir jetzt, als ich mich der Tür /um Salon näherte, eiskalt vor Angst? Weshalb hatte ich tief im Inneren das Gefühl, daß ich lieber die Hände von diesen Nachforschungen lassen sollte? Es war, als wäre die Luft um mich herum von drohendem Unheil geschwängert, als wäre ich im Begriff, in einen Bezirk einzudringen, der weit entfernt war von John und Harriet und dem warmen, hellen Feuer im Wohnzimmer. Eine Ahnung befiel mich, daß alles Unglück, das sich in diesem Haus /.ugetragen hatte, in diesem Raum enthalten war und daß es töricht und vorwitzig von mir war, dort einzudringen, l)as Gefühl drohenden Unheils war mir vertraut. Ich hatte es zwei Nächte zuvor empfunden, als ich plötzlich Victor an meinem Bett gesehen hatte. Auch da hatte es in der Luft gelegen, einer beängstigenden Aura gleich, die aus der Finsternis ausstrahlte, als lauerten in ihrer Schwärze die schlimmsten Dinge. Genau dieses Gefühl begleitete mich jetzt, als ich die Geborgenheit des Wohnzimmers hinter mir ließ und mich in die finstere Höhle des Flurs hinauswagte. Es war beinahe so, als warte etwas auf mich.
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