Der kalte Wind blies heftiger. Ich sah jetzt unbestimmte Gestalten aus den Wänden hervortreten. Sie umkreisten mich, kamen und gingen wie die Figuren eines Karussells. Sie wurden groß und schrumpften wieder, sie drängten zu mir und zogen sich wieder zurück, und die ganze Zeit drehte sich das Wohnzimmer schwankend um mich wie in einem verrückten Tanz. Ich sah mich im Sog eines gewaltigen Strudels, der mich immer tiefer in sich hineinzog. Der Schweiß brach mir aus allen Poren, Schwindel und Übelkeit überwältigten mich. Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an den Sessel, und dennoch fiel ich taumelnd immer tiefer, hinunter in den Abgrund. Die dunklen Gestalten drängten sich dichter um mich, umringten wie wartend meinen Sessel, während die Gefühle von Schwindel und Übelkeit immer stärker wurden. Ich wollte sprechen, nach meiner Großmutter rufen, aber sie war jetzt weit weg von mir — eine winzige Frauengestalt, die am anderen Ende dieses ungeheuer großen Raums in einem winzigen Sessel saß und strickte. Ich wußte, daß sie mich nicht hören würde.

Als die Schatten schließlich so nahe waren, daß ich glaubte, sie würden mich berührten, verschmolzen sie alle zu undurchdringlicher Schwärze, die sich wie ein erstickendes Tuch über mich legte.

Als ich die Augen öffnete, sah ich als erstes, daß das Zimmer ruhig geworden war. Der wilde Tanz hatte aufgehört. Blinzelnd sah ich mich um. Alles war so wie immer, nichts hatte sich verändert. Mir gegenüber saß meine Großmutter, strickend und schwatzend. Neben uns war das Gasfeuer im offenen Kamin. Und auf dem Sims tickte die Uhr. Es war gerade fünf Minuten nach neun.»Habt ihr auch etwas davon mitbekommen?«fragte meine Großmutter, ohne aufzublicken.

«Ich — wovon?«Ich wischte mir mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Mein T-Shirt war feucht.

«Von den Jubiläumsfeierlichkeiten für die Königin. Haben sie die bei euch im Fernsehen gezeigt?«Großmutter sah auf.»Es würde mich interessieren, was du — Andrea, was ist denn? Geht's dir nicht gut?«

«Doch, doch… Ich hab — ich war nur eingeschlafen. Darum habe ich dich nicht gehört.«

«Das macht doch nichts, Kind. Wir haben morgen noch Zeit genug zum Schwatzen. Es ist sowieso Zeit, schlafen zu gehen. «Verzweifelt sah ich zu, wie sie schwerfällig aufstand. Ich wollte ihr sagen, was mir geschehen war, wollte mich samt meinen Ängsten ihr anvertrauen. Aber meine Zunge gehorchte mir nicht. Ich konnte nur dasitzen und sie stumm anstarren. Sie packte ihr Strickzeug weg, hängte den Beutel über die Sessellehne und kam zu mir, um mir einen Kuß auf die Wange zu geben.»Es ist schön, daß du da bist«, sagte sie leise.»Gott segne dich dafür, daß du gekommen bist.«

«Gute Nacht, Großmutter«, sagte ich schwach.

«Gute Nacht, Kind. Du weißt, wie du das Gas höher drehen kannst, falls du frieren solltest?«

«Ja. «Ich stand auf und ging mit ihr bis zur Tür. Als sie draußen war, schloß ich die Tür fest hinter ihr und lehnte mich erschöpft dagegen, das Gesicht an das kalte Holz gedrückt. Ich konnte nicht begreifen, was mir da eben geschehen war; was diesen beängstigenden Aufruhr verursacht hatte. Es war, als wäre ich in einen Zusammenprall der Zeiten geraten, als hätten sie zurückkommen wollen und wären, vielleicht durch die Anwesenheit meiner Großmutter, daran gehindert worden, so daß, wie bei einem rasch strömenden Fluß, dem sich plötzlich ein Damm entgegenstellt, ein Rückstau mit tausend Wirbeln und Strudeln entstanden war, in die ich hineingerissen worden war. Mir war immer noch übel von den rasenden Kreisbewegungen, und meine Beine waren so schwach, daß ich fürchtete, ich würde nicht einmal den Weg zum Sessel zurück schaffen. Jetzt, da die Kälte aus dem Zimmer gewichen war, war mir noch heißer als zuvor, und mein Gesicht brannte wie im Fieber. Als ich mich von der Tür abwandte, um zum Kamin zu gehen und das Gas herunterzudrehen, fand ich mich unversehens John Townsend gegenüber.

Mit einem unterdrückten Aufschrei wich ich zur Tür zurück. Er rührte sich nicht. Mit einem Glas Brandy in der Hand stand er in der Mitte des Zimmers und sah immer wieder auf die Uhr. Er schien ungeduldig zu sein, als erwarte er jemanden. Und welches Jahr haben wir jetzt? fragte ich mich, das Gesicht glühend heiß vom prasselnden Feuer, das im Kamin brannte. Die Scheite waren hoch aufgeschichtet und leuchteten weiß und rot im Spiel der Flammen, die bis in den Abzug hinauf loderten. Im Widerschein des flackernden Feuers wirkten Johns eigentlich weiche und sanfte Gesichtszüge schroffer als sonst. Sein Haar, das nicht so dunkel war wie Victors, hatte den Glanz polierter Kastanien, und in den warmen braunen Augen schimmerte es golden.

Ich war erstaunt, daß ich überhaupt keine Furcht verspürte, nur Neugier, was ich diesmal erleben würde. Das Zimmer sah aus wie am Abend zuvor; nichts hatte sich, soweit ich sehen konnte, inzwischen verändert. In der Vitrine standen dieselben Nippessachen, die Möbel wirkten neu, die Tapete war noch sauber und hell.

Als John plötzlich den Kopf hob und mich direkt ansah, stockte mir der Atem.

«Wo bist du gewesen?«fragte er ärgerlich.

Ich drehte den Kopf zur Seite und sah zu meiner Verblüffung Harriet neben mir stehen. Wie sie hereingekommen war, war mir schleierhaft, da ich doch immer noch an der Tür lehnte. Und dennoch stand sie neben mir, ein junges Mädchen aus Fleisch und Blut, das hätte ich schwören können. Sie war ein wenig älter als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte fünfzehn, vielleicht sogar sechzehn, und der Schnitt ihres Kleides mit den Puffärmeln verriet mir, daß sich die Mode inzwischen geändert hatte.»Eben war der Postbote hier«, sagte sie, und ihre Stimme klang so klar und deutlich, als hätte sie in der Tat direkt an meiner Seite gestanden.»Victor hat geschrieben.«

Ihr Gesicht und die Bewegungen ihrer Hände verrieten eine eigentümliche Erregung, aber ich hatte den Eindruck, daß John sie nicht bemerkte. Harriet hielt sich sehr steif und gerade, ihre Gesten wirkten abgehackt, und sie sprach, als hätte sie Mühe, ihre Stimme zu beherrschen.»Victor? Gib mir den Brief.«

«Er ist an Vater adressiert.«

«Ich lese ihn vorher. Komm, Harriet, gib her. «Sie ging zu ihm und reichte ihm den Brief. Mir fiel auf, daß sie gleichzeitig mit der anderen Hand eine Bewegung machte, sie verstohlen hinter ihren gebauschten Rock schob und dabei den Körper ein klein wenig drehte, als wolle sie etwas vor ihrem Bruder verbergen.

Dann sah ich es. In der anderen Hand hielt sie einen zweiten Brief, den sie jetzt, als John den Blick auf Victors Schreiben richtete, hastig in eine Tasche ihres Rocks schob.»Was schreibt er?«fragte sie ein wenig zu laut. John las schweigend weiter, dann reichte er Harriet den Brief.»Hier, lies selbst. Schreibst du ihm, Harriet?«

«Natürlich. Wenn es schon von euch keiner tut. «Sie nahm den Brief und las begierig.»Ach, John!«rief sie dann bestürzt.» Er will nach Edinburgh gehen.«

«Nur wegen dieses Lister«, sagte ihr Bruder und wandte sich zum Feuer.»Wegen dieses Emporkömmlings.«

«Mr. Lister ist ein großartiger Arzt, John. Er hat die Königin betreut, als sie sich der Armoperation unterziehen mußte. Er ist kein Emporkömmling.«

«Vor zehn Jahren war man in London noch bereit, ihn fallenzulassen, falls du dich erinnerst, wegen seiner Befürwortung der Vivisektion und der Unverschämtheit, die er sich der medizinischen Fakultät gegenüber erlaubte. Er hat das King's College praktisch als mittelalterlich bezeichnet.«

«Dazu kann ich nichts sagen, John, aber diesem Brief nach zu urteilen hat Mr. Lister Victor davon überzeugt, daß es für ihn das beste sein wird, nach Schottland zu gehen.«

«Und außerdem ist er Atheist.«

Harriet schüttelte den Kopf, während sie weiterlas.»Mr. Lister ist Quäker, John. Nur weil man nicht der englischen Staatskirche angehört, ist man noch lange kein Atheist. Oh, aber hier schreibt Victor von Experimenten. Von Forschung!«Entsetzt sah sie John an.»Ich dachte, er wollte Arzt werden, nicht Wissenschaftler.«

«Heutzutage gibt es da kaum noch einen Unterschied. Glaub mir, Harriet, Victor weiß nicht, was er will. Wenn du mich fragst, diese ganze Karbolsäure hat ihm das Hirn vergiftet.«

«Aber John!«Sie sah wieder auf den Brief.»Er schreibt, daß er schon eine Anstellung hat und ein gutes Gehalt bekommen wird.«

John verschränkte mit geringschätziger Miene die Arme und lehnte sich an den Kaminsims.

«Wird auch langsam Zeit. Er lebt jetzt immerhin seit drei Jahren von der Krone. Während ich in dem verflixten Stahlwerk schufte, hol's der Teufel. Victor hatte immer schon einen Größenwahn. Ich glaube, er sieht sich bereits als zweiter Louis Pasteur.«

«Aber wäre es nicht wunderbar, wenn er ein Heilmittel gegen eine Krankheit finden würde, gegen die es bisher nichts gibt, John? Die Cholera zum Beispiel.«

«Jetzt verteidigst du ihn plötzlich. Entschließ dich endlich — willst du, daß er nach Schottland geht, oder willst du, daß er heimkommt?«

Sie ließ die Hand mit dem Brief sinken und seufzte.»Ich weiß es ja selbst nicht. Ich hatte gehofft, er würde nach Warrington zurückkommen und sich hier niederlassen. Aber wenn er in Schottland glücklicher ist — «

«Wer kann in dem gottverlassenen Land glücklich sein?«Harriet drehte sich plötzlich um, als hätte sie ein Geräusch gehört.»Ich glaube, der Fotograf ist hier. Ich sag Mutter Bescheid.«

Sie lief aus dem Wohnzimmer in die Küche, aus der sie gleich darauf mit einer älteren Frau zurückkehrte. Mrs. Townsend, Victors Mutter, war eine stattliche Frau mit wogendem Busen. Ich dachte bei ihrem Anblick und ihren Bewegungen unwillkürlich an eine Dampfwalze. Sie trug ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen und einer voluminösen Turnüre. Das Gesicht der Frau wirkte hart. Ihm fehlte jeder Reiz, und sie tat offensichtlich nichts, um es zu verschönern. Auf dem zum Knoten gedrehten vollen Haar saß ein kleines weißes Häubchen, das ihr das Aussehen einer Königin Victoria in Übergröße verlieh.