… beinahe so, als wolle das Haus mich nicht gehen lassen. Hirngespinste, sagte ich mir ärgerlich und marschierte zielstrebig den Gartenweg hinunter zum Tor, öffnete es und trat auf die Straße hinaus. Absurd! Das Haus mich festhalten wollen! Ich lachte etwas künstlich, um mir selbst zu zeigen, wie lächerlich ich mich benahm. Die Nase in den beißenden Wind gerichtet und ohne einen Blick zurückzuwerfen, machte ich mich auf den Weg.
Nach einigen Minuten verlor sich das Gefühl, und ich konnte mich, während ich gemächlich die George Street hinunterging, des frischen Tags und meiner Freiheit freuen. An der Kent Avenue bog ich ab, und ein paar Minuten später hatte ich die Stelle erreicht, wo das Kopfsteinpflaster der Straße in den Wildwuchs des Feldes überging.
Newfeld Heath ist ein brachliegendes Stück Land, das sich über mehr als anderthalb Kilometer an einem Seitenarm des Flusses Mersey entlangzieht. Flecken grünen Grases wechselten mit bemoosten Felsplatten und nackter brauner Erde ab, und überall wucherte üppig stachliger Ginster.
Die Hände tief in den Taschen meiner Jeans, schlug ich den Weg zum Kanal ein, hielt mein Gesicht in die Sonne und atmete tief die glasklare Luft. Es erstaunte mich, wie rasch meine Stimmung sich hob, nachdem ich dem Haus meiner Großmutter entronnen war. Es tat mir unglaublich gut, das bedrückende Unbehagen abschütteln zu können, das es in mir hervorrief, und ich genoß es, eine Weile mit mir und meinen Gedanken allein sein zu können.
Ich hatte gerade zwei Tage und drei Nächte im Haus meiner Großmutter zugebracht, aber es erschien mir wie eine Ewigkeit. Ich konnte nicht verstehen, weshalb ich mich so erschöpft fühlte und irgendwie völlig außer Kontrolle. Ich war nicht mehr Herrin meiner selbst; meine Gefühle, Gedanken, meine Phantasie und selbst mein Körper schienen mir entglitten zu sein. Ich stapfte durch das Feld und achtete, ganz in mich selbst vertieft, kaum auf meine Umgebung.
Vergeblich suchte ich nach einer einleuchtenden Antwort auf die Frage, was in diesen zwei Tagen hier mit mir geschehen war. Ich mochte es drehen und wenden, wie ich wollte, immer wieder kam ich zu dem Haus zurück. Ganz gleich, in welche Richtung ich meine Gedanken lenkte, ich landete unweigerlich bei dem Schluß, daß das Haus meiner Großmutter eine seltsame und unerklärliche Macht über mich besaß.
Nicht weit vom Kanal blieb ich stehen. Am Ufer vertäut lag ein Hausboot, das sachte auf dem Wasser schaukelte. Die Wäsche, die an Deck aufgehängt war, flatterte im Wind. Zwei Jungen kauerten im Wasser und schlugen mit einem Stock nach irgend etwas. Ich drehte mich um und blickte zurück zu der langen Reihe völlig gleich aussehender Häuser, die das Feld begrenzte. Die Gartentüren waren rostig, die Backsteinmauern an vielen Stellen abgebröckelt. Welches der Häuser war das meiner Großmutter? Und was war der Grund für diese besondere, geheimnisumwitterte Atmosphäre, die es ausstrahlte? Es war beinahe so, als atmete es, als lebte etwas in ihm — etwas Unsichtbares…
Ich nahm meinen Weg wieder auf, und während ich automatisch einen Fuß vor den anderen setzte, dachte ich an meine Großmutter. Ich sah ihr Gesicht vor mir, das verwirrende Wechselspiel ihrer Züge, die sich bald jung und schön zeigten und im nächsten Moment schon wieder alt und alltäglich; bald frisch und strahlend und gleich wieder verbraucht. Ich bewunderte ihre Kraft, ihre Fähigkeit, ganz allein mit dem Leben fertigzuwerden, ihren Mut, den Kampf aufzunehmen, obwohl ihr das gerade jetzt besonders schwerfallen mußte, da der Mensch, mit dem sie zweiundsechzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, sie allein gelassen hatte. Ich stemmte mich mit vorgezogenen Schultern gegen den kalten Wind. Er war erfrischend und belebend. Und Großmutters Tabletten hatten die Kopfschmerzen vertrieben. Wie mochte es sein, zweiundsechzig Jahre lang mit demselben Mann zusammenzuleben? Ich dachte an Doug, an unsere erste gemeinsame Nacht und unsere letzte. Meine Großeltern hatten zweiundsechzig Jahre zusammengelebt, bis der Krankenwagen meinen Großvater fortgebracht hatte. Doug und ich hatten sechs Monate zusammengelebt, bis ich Schluß gemacht hatte.»Du bekommst Angst, Andi«, hatte Doug an unserem letzten Abend zu mir gesagt.»Du spürst, daß eine Beziehung zu tief geht, daß sie zu ernst wird, und du kriegst Angst. Und darum steigst du aus. Du machst der Beziehung ein Ende, ehe sie so dicht wird, daß sie dir Schmerz bereiten kann. Du willst den Schmerz vermeiden.«
«Will das nicht jeder?«hatte ich entgegnet.»Sicher. Aber woher weißt du, daß Schmerz auf dich wartet? Ich liebe dich und ich glaube, daß du mich auch liebst, auch wenn du es nie gesagt hast. Wovor hast du solche Angst?«Als ich vor vier Tagen in die Maschine nach London gestiegen war, hatte ich es mit der Überzeugung getan, daß meine Entscheidung, mich von Doug zu trennen, richtig gewesen war. Er hatte die richtige Diagnose gestellt: Ich wollte nicht die tiefe Verbundenheit, die er suchte. Ich wollte weder Heirat noch Familie. Ich wollte frei und ungebunden sein.
Genau diese Worte hatte ich gebraucht, als ich ihm meinen Entschluß mitgeteilt hatte.»Frei und ungebunden.«
«Und wo bleibt die Liebe?«hatte Doug gefragt.»Die Liebe hat damit nichts zu tun«, entgegnete ich.»Ich spreche von Freiheit. Ich will mich nicht festlegen. Ich will mich nicht binden.«
Und er sagte:»Wovor hast du Angst?«
Das Gespräch hatte unbefriedigend und mit Bitterkeit geendet. Ich hatte eine kühle, sachliche Trennung gewollt. Ich hatte versucht, ihm mein Bedürfnis nach Freiheit begreiflich zu machen, er jedoch hatte nur von Liebe und Angst gesprochen. Als hätten diese beiden Dinge etwas mit dem zu tun, was ich ihm hatte klarmachen wollen.
Nach sechs aufregenden, glücklichen Monaten hatten wir uns zum erstenmal gestritten. Es wurde keine Trennung, wie ich sie gewünscht hatte. Unglücklich, bitter und in innerem Aufruhr waren wir auseinandergegangen. Die Reise nach England, hatte ich gehofft, würde mir Gelegenheit geben, Abstand zu gewinnen, mit mir ins reine zu kommen und meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
Aber das war, wie es schien, eine Illusion gewesen. Wieder blieb ich stehen und sah blinzelnd zum blendend blauen Himmel auf, an dem weiße Federwölkchen dahintrieben. Wie merkwürdig, hier zu stehen, so weit von zu Hause, und zu denken, daß ich hier zur Welt gekommen war; daß hier meine Anfänge waren.
«Du hast keine Wurzeln«, hatte Doug an unserem letzten Abend gesagt, und das vertraute Lächeln war einem Ausdruck gewichen, den ich vorher nie an ihm gesehen hatte.»Du hast keine Wurzeln, und du hast Angst davor, Wurzeln zu fassen. Keine Vergangenheit, keine Zukunft, Andi. Du bist so künstlich und hohl wie die Stadt, in der du lebst.«
Und so hatte es geendet. Wo war die Autonomie, auf die ich immer so stolz gewesen war? Wo waren die Willensstärke und der eigene Sinn, auf die ich mich immer hatte verlassen können? Ich hatte schon früher Beziehungen beendet und war über sie hinweggekommen. Warum konnte ich mich aus dieser nicht befreien?
Meine Wangen brannten im rauhen Wind, während ich wieder zu den Rückfronten der Häuser hinüberblickte, die das Feld säumten. Eines von ihnen das meiner Großmutter. Bei der Erinnerung an Doug und seine Frage, wovor ich Angst hätte, fiel mir etwas ein, das Großmutter zu mir gesagt hatte.»Dein Großvater lebte in der ständigen Angst, Victor Townsends schreckliches Erbe könnte in einem seiner Enkelkinder wieder lebendig werden.«
Ich fröstelte ein wenig, zog die Wolljacke fester um mich und machte mich auf den Rückweg zur Kent Avenue. Jetzt, da ich dem Haus eine Weile fern und mit mir selbst allein gewesen war, erkannte ich, daß all das Unheimliche, das mich in den letzten Tagen bedrückt hatte, nur Einbildung gewesen war, ein Produkt meiner überreizten Nerven. Blicke in die Vergangenheit — absurd! Das waren Träume gewesen. Ich war eingeschlafen, ohne es zu merken. Ich mußte mich nur an das Haus gewöhnen, dann würde ich mich in ihm so wohl fühlen wie meine Verwandten, und die Halluzinationen würden aufhören.
Aber kaum betrat ich das Haus, senkte sich wieder das Gefühl der Beklemmung über mich, hüllte mich ein wie ein dunkler Schleier, schnürte mich ein, daß mir der Atem stockte.»Großmutter«, wollte ich rufen, aber meine Stimme gehorchte mir nicht. Ich lehnte mich an den Pfosten der Haustür und starrte in den düsteren Flur, unfähig, mich zu bewegen. Nach einer langen Zeit, wie mir schien, wurde die Wohnzimmertür geöffnet, und freundliches Licht fiel auf den abgetretenen Teppich.
«Wieder da, Kind?«hörte ich meine Großmutter rufen.»Ich dachte mir doch, daß ich die Tür gehört habe. Komm herein. Elsie und Ed werden bald kommen, um dich abzuholen. «Niedergeschlagen, daß es mir doch nicht gelungen war, mich gegen die unheimliche Atmosphäre dieses Hauses zu feien, folgte ich meiner Großmutter ins Wohnzimmer, legte die dicken Kleider ab und ging zum Kamin.»Muß kalt sein draußen«, sagte meine Großmutter auf dem Weg in die Küche.»Du bist ganz rotgefroren. Du solltest noch etwas Warmes zu dir nehmen, ehe du wieder hinausgehst. Ich hol dir ein Glas von meinem Kirschlikör.«
«Wenn ich ehrlich sein soll, war mir ein Brandy lieber, Großmutter«, rief ich ihr nach.
«Tut mir leid«, gab sie zurück,»aber Brandy hab ich nicht im Haus.«
«Aber natürlich!«widersprach ich kopfschüttelnd über die Vergeßlichkeit des Alters und ging zur Vitrine. Ich sah das alte Teeservice und die in Leder gebundenen Bücher, und da fiel es mir ein. Den Brandy hatte es damals gegeben. Ich drehte mich hastig um und sah meine Großmutter in der Küche verschwinden. Mir wurde ganz heiß im Gesicht. Begann ich schon, Illusion mit Wirklichkeit zu verwechseln? Eine erschreckende Vorstellung.
Als Großmutter wieder ins Zimmer kam, stand ich immer noch bei der Vitrine. Sicherlich verriet mein Gesicht meinen Schrecken, aber sie bemerkte es nicht. Sie reichte mir das Glas mit dem gewärmten Likör und wandte sich von mir ab. Ich war erleichtert, als Elsie und Ed kamen. Sie waren die Gegenwart und die Vernunft. Ich mußte fort aus diesem Haus und dem Bannkreis seines unheimlichen Einflusses auf mich. Als wir im Flur in unsere Mäntel schlüpften, sagte Elsie:»Pack dich nur richtig ein, Andrea. Wir bekommen schlechtes Wetter. Im Westen sieht's nach Regen aus. Hoffentlich gibt es keinen Sturm.«
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