«Victor, ich freu mich so, daß du gekommen bist. «Bruder und Schwester umarmten und küßten einander. Dann hielt er sie auf Armeslänge von sich ab und betrachtete sie von oben bis unten.»Du bist in dem einen Jahr ganz hübsch gewachsen«, sagte er.

Richtig, das war nicht mehr das eigensinnige kleine Mädchen, das noch vor wenigen Minuten oben im Schlafzimmer geweint und geklagt hatte. Harriet war eine junge Dame geworden. Sie trug ein langes Seidenkleid mit hohem Kragen und engem Mieder. Die langen Locken trug sie hochgekämmt und mit Nadeln festgesteckt.

Sie sah sehr elegant aus und wirkte im Feuerschein, der ihre Wangen rosig färbte, beinahe hübsch.

«Ich bin ja auch schon vierzehn«, erklärte sie stolz.»In dem einen Jahr habe ich mich sehr verändert.«

«Aber sie flennt immer noch soviel wie früher.«

«John!«

Victor unterdrückte ein Lächeln.»Ist das wahr, Harriet, weinst du viel?«

«Du hättest sie an dem Abend erleben sollen, als du abgereist bist, Victor! Das war wirklich ein Drama. Sie wollte sich in den Kleiderschrank einsperren und nie wieder etwas essen. «Jetzt ließ Victor das Lächeln heraus.»Meinetwegen wolltest du das tun?«

Ich sah, wie Harriet errötete.»Es hat mich so gekränkt, daß du fortgegangen bist, Victor. Aber jetzt macht es mir nichts mehr aus. Jetzt bin ich stolz darauf, daß du Arzt wirst.«

«Wenn nur auch Vater stolz darauf wäre«, murmelte John unterdrückt.

«Und ich bin froh, daß du das Stipendium bekommen hast. Weil du ja wirklich der klügste Mann von ganz Warrington bist, und ich — «

«Warrington ist ein kleines Städtchen«, warf John ein und griff zur Karaffe.»Noch ein Glas, Victor?«Victor schüttelte den Kopf.

«Kann ich was haben?«fragte Harriet herausfordernd.»Damit du dir deinen hübschen Teint verdirbst? Du weißt, was Vater tun würde, wenn er dich dabei ertappte, daß du Brandy trinkst.«

«Brandy!«sagte Victor.»Du bist ja wirklich erwachsen geworden, hm, Harriet?«

«Mehr als du ahnst. Ich war auf den Tennisplätzen.«

«Harriet!«John warf ihr einen mißbilligenden Blick zu.»Das hat Vater dir doch verboten.«

«Ich spiele ja nicht. Ich sehe nur zu. Das hat er mir nicht verboten.“

«Aber er wird sicher böse werden, wenn er davon hört.«

«Und wer soll es ihm erzählen?«

«Tennis?«fragte Victor mit hochgezogenen Brauen.»Hier in Warrington?«

«Ja, stell dir vor. Meine Freundin Megan O'Hanrahan spielt sogar. Und sie raucht Zigaretten.«

«Diese Megan ist ein ganz lockeres Ding«, bemerkte John finster.»Du solltest dich von ihr lieber fernhalten. «Doch Victor sagte:»In London findet man nichts dabei, wenn eine junge Dame Tennis spielt.«

«Aber wir sind hier nicht in London.«

«Ach, John, du bist so spießig. «Harriet umfaßte Victors Arm und begann schnell auf ihn einzureden.»Tennis interessiert mich gar nicht so besonders«, sagte sie.»Aber weißt du, was ich liebend gern hätte?«

Victor betrachtete seine kleine Schwester amüsiert.»Was denn?«

«Ein Fahrrad.«

John wirbelte herum.»Also, das ist doch wirklich — «

«Einen Augenblick, John, laß deine Schwester ausreden. Also, Harriet, warum möchtest du ausgerechnet ein Fahrrad haben?«

«Megan O'Hanrahan hat auch eines und — «

«Und jeder kann ihre Unterröcke sehen, wenn sie die Straße hinunterfährt!«

«John!«rief Harriet schockiert.

«Es ist unanständig. Vater wird niemals erlauben, daß seine Tochter sich so unschicklich zur Schau stellt. Und ich werde ebensowenig zulassen, daß meine Schwester — «

«Victor! Hilf mir doch!«

«Tja, ich…«Er kratzte sich am Kopf.

«Du bekommst kein Fahrrad, und damit Schluß. Auf der Straße herumfahren und sich unter die Röcke gucken lassen. Das schickt sich nicht für eine anständige junge Dame.«

«John Townsend, wie kannst du so gewöhnlich sein. Ich ziehe doch lange Pumphosen an — «

«Niemals würde Vater diese Dinger in seinem Haus dulden. Sollen die Amerikanerinnen sie anziehen, wenn sie wollen. Die haben sie ja erfunden. Aber du wirst dich nicht auf diese Weise zur Schau stellen.«

Harriet sah John einen Moment lang mit zornig blitzenden Augen an, dann wandte sie sich Victor zu.»Und was findest du?«

«Ich muß John da leider zustimmen, Harriet. Tennisspielen mag noch angehen, aber Radfahren ist etwas ganz anderes. Ich glaube, du schlägst dir das am besten aus dem Kopf.«

«Das sind nur diese Iren«, sagte John, während er wieder zur Karaffe griff und sein Glas füllte.»Vater hat ihr den Verkehr mit diesen O'Hanrahans verboten. Das sind üble Leute.«

«Gar nicht wahr! Es sind sehr anständige Leute.«

«Katholiken!«

«Sie sind genauso gottesfürchtig wie du und Vater — «

«Keine Widerworte, Harriet!«schrie John sie an. Einen Moment stand Harriet wie vom Donner gerührt und blickte ungläubig von einem Bruder zum anderen, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht, drehte sich um und lief weinend aus dem Zimmer.

Als sie an mir vorüberstürmte, drehte ich mich um und öffnete den Mund, um zu sprechen. Aber sie war zu schnell an mir vorbei, und schon fiel krachend die Tür hinter ihr zu. Zornig, Worte des Vorwurfs auf den Lippen, wandte ich mich wieder den Brüdern zu, aber als ich zum Kamin blickte, waren sie nicht mehr da.

Verwirrt fragte ich mich, wohin sie so schnell hatten verschwinden können, dann fand ich in die Realität zurück und lachte nervös. Gespenster! Und ich hatte tatsächlich mit ihnen sprechen wollen!

Zögernd und furchtsam ging ich zur Mitte des Zimmers. Alles war wieder so, wie ich es von Anfang an gekannt hatte: die Möbel alt und glanzlos, die Wände schlicht weiß, im Kamin das Gasfeuer. Und die Uhr auf dem Sims tickte ruhig und gleichmäßig. Mir zitterten plötzlich die Knie, und ich ließ mich in den nächsten Sessel fallen. Was hatte das alles zu bedeuten? Wie war es möglich, daß meine Phantasie mir eine solche Szene vorgaukelte? So lebensecht, so richtig bis ins kleinste Detail, so scheinbar real. Ich war wie im Schock. Ich fühlte mich so schwach, als wäre meinem Körper alle Kraft entzogen worden. Mein Geist war stumpf, wie betäubt.

Was war das nun eben gewesen? Hirngespinste, die meinem erschöpften Geist entsprungen waren? Phantasien, die Großmutters Erzählungen in Verbindung mit der unheimlichen Atmosphäre des Hauses bei mir ausgelöst hatten? Oder… Ich hätte den Gedanken gern lächerlich gefunden, aber es gelang mir nicht.

Oder hatte ich hier wirklich etwas gesehen und miterlebt? War ich von Gespenstern heimgesucht worden, oder war mir ein Blick in die Vergangenheit gewährt worden?

Ich sah zur Uhr hinauf. War es das gewesen? Ein kurzer Blick den Zeitschacht hinunter?

Nein, sagte ich mir, den Blick weiter auf die Uhr gerichtet, ein Spuk im üblichen Sinn war das nicht gewesen; vielleicht schien es so zu sein, daß ich Zeugin gewisser Ereignisse aus der Vergangenheit geworden war. Es war, als hätte ich durch Zufall ein Zeitfenster entdeckt, durch das ich die Geschehnisse beobachten konnte.

Eine Besonderheit fiel mir auf, während ich nachdachte, und das war die Abfolge der Ereignisse. Ich erinnerte mich des Abends meiner Ankunft in diesem Haus, als ich zum erstenmal die Klänge von >Für Elise< gehört hatte. Sie hatten sich angehört, wie von Kinderhand geklimpert. Später jedoch hatte die Melodie flüssiger geklungen, wie von geübterer Hand gespielt. Und Victor war, als ich ihn das erste Mal am Fenster erblickt hatte, ein Junge von etwa fünfzehn Jahren gewesen. In der Nacht, als ich ihn an meinem Bett hatte stehen sehen, war er schon älter gewesen, aber noch nicht so alt wie in dieser letzten Szene, die ich soeben miterlebt hatte. Das gleiche galt für Harriet — oben im Schlafzimmer das weinende Kind und wenige Minuten später schon ein ganzes Jahr älter, eine junge Dame.

War die Uhr vielleicht zurückgedreht worden bis zu den ersten Tagen dieses Hauses im Jahr 1880, als die Familie Townsend hier eingezogen war? Und war sie dann wieder in Bewegung gesetzt worden, um die Ereignisse ihren Verlauf nehmen zu lassen? Wenn das so war, warum? Oder war vielleicht in Wirklichkeit alles nur meine Einbildung?

Ich hatte irgendwann einmal von einer Theorie gelesen, die besagte, daß Zeit in Wirklichkeit Gleichzeitigkeit sei, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins seien und daß wir nur aufgrund gewisser physikalischer Bedingungen des Universums andere Zeitalter nicht wahrnehmen könnten. Man glaubte, daß hochsensible Menschen, wie Medien oder Hellseher, die Fähigkeit besäßen, die Barrieren zu überwinden und die Zukunft oder die Vergangenheit zu sehen; daß dies möglicherweise das Phänomen des deja vu und der Vorahnung erklärte; daß wir möglicherweise gerade dann, wenn wir am unbewußtesten sind und die Abwehrmechanismen am schwächsten, versehentlich die Barriere durchstoßen und einen Blick in die Zukunft tun könnten. Oder in die Vergangenheit…

Uhren und Kalender sind Erfindungen des Menschen, doch die Zeit ist ewig. Wäre es möglich, daß sie ein Kreislauf ist — und immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt? Oder ist sie vielleicht ein Strom, in dem alle Zeitalter gemeinschaftlich in einem treiben? Wenn alle Geschichte heute existiert und ebenso die Zukunft, könnte es dann nicht möglich sein, daß man irgendwo durch Zufall auf eine Öffnung stößt, ein Fenster gewissermaßen, durch das man einen Blick auf die mitfließenden Ströme erhascht?

Als ich erwachte, war es noch dunkel. Ich lag völlig angekleidet im Sessel, und die Hitze des Gasfeuers brannte auf meinen Beinen. Abrupt setzte ich mich auf. Einen Moment lang wußte ich nicht, wo ich war. Ich rieb mir die Augen und sah auf die Uhr. Es war vier.

Mein ganzer Körper war steif, und meine Glieder schmerzten, als ich vorsichtig aufstand, um mich im Zimmer umzusehen. Alles war wie immer. Ich war ganz einfach mit meinen Gedanken über den Besuch in der Vergangenheit eingeschlafen. Wenn es denn tatsächlich ein Besuch gewesen war. Vielleicht war es ja auch nur ein Traum gewesen. Es war möglich, daß ich schon vor Stunden am Gasfeuer eingeschlafen war und alles nur geträumt hatte. Aber nein, da standen meine Hausschuhe. Jene erste Periode zumindest, als ich dem Schluchzen folgend nach oben gegangen war und dort die weinende Harriet angetroffen hatte, war real gewesen. Und die zweite Szene, die mit Victor, John und Harriet?