Ich saß wie erstarrt und versuchte, dem feindseligen Blick meines Großvaters standzuhalten. Erst nach einigen Sekunden gelang es mir, meine Bestürzung abzuschütteln und zu sagen:»Hallo Großvater, du weißt doch, daß ich es bin, nicht wahr? Andrea!«Einen Moment noch blieb der finstere Ausdruck, dann löste er sich, und das Gesicht meines Großvaters entspannte sich wieder.»Ruth?«Stieß er mit zitterndem Kinn und gespitzten Lippen mühsam hervor.»Ach Gott!«rief Elsie.»Er hält dich für deine Mutter. «Dann beugte sie sich über das Bett und sagte laut:»Nicht Ruth, Dad. Das ist Andrea. Deine Enkelin.«

Das Lächeln kehrte zurück.»Ruth! Du bist also wiedergekommen?«

«Dad — «

«Laß doch, Tante Elsie. Für ihn ist Andrea sicher immer noch zwei Jahre alt. Laß ihn doch in dem Glauben, daß ich seine Tochter bin. Schau, wie er lächelt.«

Ich ließ mir nichts davon merken, wie sehr mir diese Szene ans Herz ging. Ich konnte es selbst nicht fassen, daß dieser Mann so starke Gefühle in mir weckte. Ich blickte in sein altes, verbrauchtes Gesicht und dachte an das schreckliche Stigma, mit dem er hatte leben müssen, das Wissen über die Umstände seiner Zeugung und die Angst, daß das böse Erbe Victor Townsends in einem seiner Kinder oder Enkelkinder wiederkehren würde.»Alles ist gut, Großvater«, sagte ich beschwichtigend und tätschelte ihm die Hand.»Es ist alles gut.«

Onkel William wohnte in einem Teil von Warrington namens Padgate. Sein hübsches, modernes Haus stand in einem gepflegten Garten und hatte natürlich, das war das beste, Zentralheizung.

Er selbst, ein großer, kräftiger Mann, korpulent und rotgesichtig, empfing mich mit stürmischer Herzlichkeit. Ohne viel Federlesens nahm er mich in die Arme, küßte mich auf beide Wangen und redete beinahe ebenso viel wie Elsie. May, seine Frau, stämmig wie er, war schlicht gekleidet und trug das graue Haar kurz, weil das am praktischsten war, wie sie sagte. Einfache Menschen, bescheiden und ohne große Ansprüche.

«Andrea! Wie schön!«rief May, als ich in die Küche bugsiert wurde, wo sie am Herd stand.»Du bist gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«

Wir lachten alle, schälten uns dann aus unseren warmen Sachen und setzten uns ins Wohnzimmer, das weit moderner eingerichtet war als das meiner Großmutter.

«Wie war Dad heute?«fragte William mit vollem Mund, während wir bei Tee und Kuchen saßen.

«Er hat aufgesessen und richtig mit uns geredet, stimmt's, Ed? Und dazu hat er fast eine ganze Schachtel Pralinen vertilgt.«

«Na also! Ich wette, in ein paar Wochen ist er wieder zu Hause. Er brauchte nur ein bißchen Ruhe und Pflege. «William schob ein Törtchen in den Mund, und ich dachte, was für ein gemütlicher, Wohlbehagen ausstrahlender Mann er sei, der Bruder meiner Mutter.

Eine Weile drehte sich das Gespräch um meinen Großvater, dann kam die Fußoperation meiner Mutter an die Reihe, und schließlich wandte man sich, es war unvermeidlich, der Vergangenheit zu. Während William und Elsie in Erinnerungen an die Zeit mit meiner Mutter schwelgten, griff Edouard zur Times, May ging wieder in die Küche, und ich begnügte mich damit, zuzuhören und zu beobachten.

Es war sehr warm in Williams Haus, ganz anders als bei meiner Großmutter. Hier konnte man aus dem Zimmer gehen, ohne im Flur einen Kälteschock zu bekommen. Ich streifte meine Schuhe ab, zog die Beine hoch und machte es mir in meinem Sessel bequem.

Während ich mit halbem Ohr den Gesprächen lauschte, begannen meine Gedanken zu wandern. Ich versuchte nicht, sie zu kontrollieren, sondern ließ sie und die Bilder, die sie mitbrachten, frei durch mich hindurchziehen. Ich sah das Haus in der George Street und dachte flüchtig, wie harmlos es erschien, wenn ich fern von ihm war, wie albern die unheimliche Stimmung, die mich jedes Mal befiel, wenn ich über seine Schwelle trat. Ich dachte über den schlimmen Traum der vergangenen Nacht nach, wie real Angst und Entsetzen da gewesen waren und wie fern und unwirklich sie jetzt schienen. Ich erinnerte mich an den Jungen, der mich durchs Fenster angestarrt hatte, sah wieder sein unverhohlen neugieriges Gesicht vor mir. Zuletzt dachte ich an meinen Großvater und durchlebte noch einmal die erschreckenden Sekunden, als er mich mit finsterem Blick angestarrt hatte. Und ich fragte mich, was er gesehen hatte, als er mich angeblickt hatte.»Andrea!«

«Ja?«

«Sie hat vor sich hin geduselt. Sie ist wohl todmüde.«

«Nein, ich habe nicht — «

«Es ist richtig schön, dich wieder hier zu haben«, sagte William.»Es ist schade, daß deine Mutter nicht auch kommen konnte, aber wenigstens bist du da. Hoffentlich bleibst du noch eine Weile. Läßt sich das mit deiner Arbeit vereinbaren?«Ich versuchte, mir den Börsenmakler vorzustellen, für den ich arbeitete, aber ich konnte mir sein Gesicht nicht ins Gedächtnis rufen.»Ich hatte noch vier Wochen Urlaub, aber wie lange ich hier bleibe, weiß ich noch nicht. «Ich dachte an Doug, aber auch sein Gesicht blieb merkwürdigerweise im Dunkeln. Etwas später setzten wir uns alle zum Essen in die Küche. Zum Kalbsbraten mit Gemüse tischte William einen spanischen Rotwein auf und hielt dann eine kurze Rede zu meinem Empfang.»Und am Wochenende«, rief Elsie, als er zum Schluß gekommen war,»fahren wir alle zu Albert nach Morecambe Bay. Wir müssen doch das Kleine bewundern.«

Sie unterhielten sich ausgiebig über das geplante Familientreffen am kommenden Sonntag, erzählten mir von Albert und Christine, meinem Vetter und meiner Cousine, die ich dort kennenlernen würde, und waren sich einig darin, daß es Großmutter, die kaum je das Haus verließ, guttun würde, wieder einmal hinauszukommen. Und ich dachte dabei, daß es bestimmt auch mir guttun würde, eine Weile der bedrückenden Atmosphäre des Hauses in der George Street zu entkommen.

William wandte sich mir zu und sagte:»Na, Andrea, wie gefällt dir das Leben in Mutters Iglu?«Alle lachten.»Kannst du ihr nicht einen elektrischen Heizofen rüberbringen,

William?«fragte May.»Andrea muß sich doch in dem vorderen Schlafzimmer zu Tode frieren.«

«Nein«, sagte ich und war selbst überrascht.»Ich meine, mir fehlt nichts. Wirklich nicht. Mit meiner Wärmflasche und den dicken Decken fühle ich mich ganz wohl. Wirklich!«

Was redete ich da! Das stimmte doch überhaupt nicht. Ich fühlte mich gräßlich in dem Zimmer und fror wie ein Schneider. Ein elektrischer Heizofen wäre ein wahres Gottesgeschenk gewesen.

Und doch — ich versuchte mir klarzuwerden, warum ich etwas dagegen hatte… der Heizofen gehörte einfach nicht ins Zimmer, das war alles…

«Schläfst du wenigstens gut, Kind?«erkundigte sich May mit mütterlicher Besorgnis.

«O ja. Ich schlafe ausgezeichnet.«

«Das Zimmer war immer schon ekelhaft kalt«, bemerkte William, während er sich noch eine Ladung Kartoffeln nahm.»Aber der Rest des Hauses ist auch nicht viel besser. Trotzdem hab ich mich nie beschwert. Als ihr ausgezogen wart, du und Ruth«, sagte er zu Elsie,»hab ich das vordere Zimmer bekommen, und ich hab mir fast den Hintern abgefroren, aber beklagt hab ich mich nie. Ihr wart immer schon zwei richtige Zimperliesen.«

Ich lächelte, als William mich ansah.

«Zimperliesen, hm?«sagte er zwinkernd.

Ich lachte nur.»Es ist auszuhalten. Wirklich. Die Kälte, meine ich, Es ist ja schließlich auch ein altes Haus, nicht wahr? Kein Wunder, daß man da nachts merkwürdige Dinge hört. Das ist eigentlich der einzige — «

«Was sagst du da? Merkwürdige Dinge? Wovon redest du?«

«Ach, du weißt schon. «Ich spielte mit meiner Gabel.»Mitten in der Nacht wacht man von irgendwelchen komischen Geräuschen auf. Ist dir das nie passiert?«

Er zog die Brauen hoch.»Ich kann mich nicht erinnern. In dem Haus gibt's keine Geräusche. Dazu ist es zu solide gebaut. Ganz im Gegensatz zu den Bruchbuden, die sie heute hochziehen. Vor hundert Jahren hat man noch für die Ewigkeit gebaut. Nein, mich haben nachts nie Geräusche geweckt. Hier, in unserem Haus, da knarrt und knackt es immer irgendwo, nicht wahr, May?«

«Aber ich meine«, fuhr ich hastig fort,»hast du dir nie Gedanken über das Haus gemacht? Hast du nie seltsame Geräusche gehört oder vielleicht — vielleicht etwas Merkwürdiges gesehen? Ich meine, irgend etwas Unerklärliches. «Er starrte mich verständnislos an.

«Was willst du damit sagen, Andrea?«fragte Elsie, während sie sich Wein einschenkte.»Daß es im Haus spukt?«Wieder lachten sie alle — William, Elsie, May. Ed lächelte nur und aß weiter.

«Nein, das meinte ich nicht«, erwiderte ich, obwohl ich genau das gemeint hatte.»Es hätte mich nur interessiert, ob — «

«Hast du denn etwas gesehen, Andrea?«fragte May.»Nein, nein, natürlich nicht. Aber in Los Angeles, wißt ihr, wenn da ein Haus hundert Jahre alt ist, dann — na ja, dann gibt es immer irgendwelche Geschichten über es. Schauermärchen manchmal.«

«Nein, hier ist das nicht so«, sagte William, nahm sich das letzte Stück Braten, leerte die Soße aus der Schale auf seinen Teller und stellte die Schale krachend wieder weg.»Dazu gibt's hier viel zu viele alte Häuser. Wenn da jedes sein eigenes Gespenst hätte — du lieber Schreck! Wenn du Spukgeschichten nach Amerika mitnehmen willst, mußt du nach Penketh fahren. Hier in der Gegend können wir mit so was nicht dienen. Wir haben keine Zeit für Gespenster.«

Elsie neigte den Kopf leicht zur Seite und sah mich über den Tisch hinweg an.»Enttäuscht, Andrea?«

«Ach wo! Keine Spur. Ich war nur neugierig.«

«Die Amerikaner haben komische Vorstellungen von England, hm?«meinte William.»Als lebten wir alle in Gruselhäusern. Tut mir leid, Kind, keine Geister weit und breit. Denen ist es hier viel zu kalt. «Er lachte dröhnend, und ich wünschte, ich hätte das Thema nicht aufs Tapet gebracht.