«Was hat Victor getan, Nana?«Sie hob den Kopf.»Getan?«
«Ja. Ich meine, beruflich.«
«Ach so…«Großmutter legte die Hand an die Stirn.»Laß mich überlegen. Ich weiß gar nicht recht. Nein, ich weiß es nicht. Vielleicht weiß es dein Großvater, aber ich glaube, er hat es mir nie erzählt. John, der jüngere Bruder, arbeitete im Stahlwerk. Ich glaube in der Verwaltung.«
«War er auch verheiratet?«
Großmutter warf mir einen erstaunten Blick zu.»Wie meinst du das — auch? Natürlich war John verheiratet. Er war mit Jennifer verheiratet. Ich hab dir doch ihr Bild gezeigt.«
«Aber ich dachte, sie wäre Victors Frau gewesen.«
«Nein, nein. Jennifer war mit John verheiratet. Victor war nie verheiratet.«
«Aber du hast gesagt, sie wäre meine Urgroßmutter.«
«Andrea. «Die Stimme meiner Großmutter klang bedrückt.»Jennifer heiratete John Townsend und zog in dieses Haus. Aber eines Nachts — «Sie senkte den Blick.»Eines Nachts kam Victor nach Hause, und er — er überfiel Jennifer und zwang sie.«
Das Ticken der Uhr klang mir plötzlich überlaut. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden oder Minuten vergingen, ehe ich den Blick wieder auf Großmutter richtete, aber als ich es tat, spürte ich sogar ein wenig Teilnahme. Großmutter sah so unglücklich aus.»Verstehst du jetzt, Andrea?«fragte sie leise.»Dein Großvater wurde bei einer Vergewaltigung gezeugt.«
«Großmutter — «
«John — Jennifers Mann und Victors Bruder — ertrug es nicht, als er erfuhr, daß Jennifer schwanger war, und verließ sie. Beide Brüder verschwanden. Jennifer blieb allein zurück. Sie mußte ganz allein ihr Kind zur Welt bringen. Weder von John noch von Victor hörte sie je wieder. Ihre Schwiegermutter, die Mutter von Victor und John, zog das Kind groß, und nach dem, was dein Großvater mir erzählt hat, muß sie nicht ganz richtig gewesen sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
«Und was war mit der Schwester, Harriet? Was wurde aus Jennifer selbst?«
«Was aus Harriet wurde, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß an den Umständen ihres Todes etwas sehr Sonderbares oder Geheimnisvolles war. Und Jennifer starb, ehe dein Großvater aus den Windeln war. An gebrochenem Herzen, heißt es.«
«Ich verstehe…«
«Ja, aber noch lange nicht alles. Das Schlimmste ahnst du noch nicht einmal.«
Die Leidenschaft im Ton meiner Großmutter überraschte mich. Ihr Blick war voller Feuer, und sie gestikulierte heftig, als sie weitersprach.»Du hast keine Ahnung, wie dein Großvater sein Leben lang gelitten hat, nachdem er erfahren hatte, was für ein Mensch sein Vater gewesen war. Es machte ihn zu einem ewig gequälten Menschen. Immer hing dieser schreckliche Schatten über ihm, das Wissen, daß sein Vater ein grausamer und sadistischer Mensch gewesen war. Er hatte nicht eine einzige glückliche Erinnerung, war nie von jemandem geliebt worden, bis er mit mir zusammentraf. Ach, Andrea, wie oft hab ich ihn im Schlaf aufschreien hören, wenn er Alpträume hatte; wie oft hab ich ihn in diesem Sessel sitzen und weinen sehen über das furchtbare Erbe, das er mitbekommen hatte.«
Die Augen meiner Großmutter wurden feucht. Ihre Lippen zitterten.»Du wirst denken, ach was, das alles ist ewig her. Aber soll ich dir sagen, was dein Großvater glaubt? Er glaubt, daß Victor Townsend verrückt war. Und sein Leben lang hat er mit der Furcht gelebt, daß die Krankheit bei einem seiner Kinder wieder auftreten würde. Als ich Elsie erwartete, war dein Großvater wie ein Besessener. Er hatte Todesangst, das Kind könnte Victors Krankheit mitbekommen haben. Dann kam deine Mutter und danach William. Und alle drei entwickelten sich zu normalen gesunden Menschen. Aber dann begann dein Großvater zu fürchten, Victors schreckliches Erbe könnte sich bei einem seiner Enkelkinder zeigen. Er lebte in der ständigen Angst, Victor könnte in einem von euch wieder lebendig werden. Das ist das wahre Unglück, Andrea — was die Vergangenheit aus deinem Großvater gemacht hat! Und ich war bis jetzt der einzige Mensch, der davon wußte. Nun weißt du es auch. Dabei wollte ich, du hättest unbelastet bleiben können.«
Sie fing an zu weinen.
«Es war grauenvoll für deinen Großvater«, fuhr sie fort,»zu wissen, daß er nicht aus Liebe, sondern aus einem Gewaltakt entstanden war. Er sagte oft zu mir, seine Mutter müsse ihn gehaßt haben, da sein Anblick sie ja stets an Victors Grausamkeit hätte erinnern müssen. Er meinte, darum sei sie vielleicht gestorben, als er noch ein Säugling war; weil sie es nicht ertragen konnte, ihn zu sehen.«
«Großmutter — «
«Ja, Victor Townsend war ein böser und gemeiner Mensch. Er quälte die Menschen in diesem Haus. Und das ist der Grund, warum ich am liebsten kein Wort über ihn verlieren würde. Ich schäme mich genauso wie dein Großvater, mit ihm verwandt zu sein. Genauso, wie du dich schämen solltest.«
Ich sprang aus meinem Sessel und ging zum Fenster. Es war düster geworden, am Himmel war kein Fleckchen Blau mehr zu sehen, und die Spatzen waren fortgeflogen. Aus dunklen Wolken strömte Regen herab und schlug prasselnd gegen die Fensterscheiben.
Diese Fremden, die meine Verwandten waren, hatten Herzlichkeit und Zuneigung von mir erwartet, die ich nicht geben konnte. Jetzt erwarteten sie Verachtung und Abscheu gegen einen meiner Vorfahren von mir, nur weil er in ihrer aller Augen nichts anderes verdiente. Aber auch diese Gefühle konnte ich nicht aufbringen. Das einzige, was ich empfand, war Mitleid mit meinen Großeltern.
Ich drehte mich um und starrte die alte Frau an, die zusammengesunken in ihrem Sessel saß. Merkwürdig. Aus irgendeinem Grund konnte ich diesen Mann, von dem sie mir soviel Schlimmes erzählt, der den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle gemacht hatte, nicht hassen. Warum nicht, fragte ich mich. Meine Großmutter wischte sich die Augen und stand auf. Sie hatte sich rasch wieder gefaßt.»Weinen hat keinen Sinn«, sagte sie.»Das weiß ich aus allzu langer Erfahrung. Weinen ändert nichts. Aber ich möchte nie wieder über dieses Thema sprechen, Andrea. Ich habe dir genug gesagt, zuviel vielleicht. Aber jetzt kennst du wenigstens die Wahrheit.«
Eigentlich hätte ich das akzeptieren müssen, aber es blieb ein nagender Zweifel. Weiß ich sie wirklich? fragte ich mich.
Diesmal erlebte ich die Fahrt zum Krankenhaus anders. Diesmal wußte ich etwas über den Mann, den ich besuchen wollte. Gestern hatte ich einen Sterbenden besucht, der mir fremd war. Heute würde ich den Sohn Victor Townsends besuchen. Das ließ alles in einem anderen Licht erscheinen.
Elsie, mit einer Schachtel Pralinen auf dem Schoß, die ihrem Vater zugedacht war, plauderte unaufhörlich über das Wetter, und Edouard gab hin und wieder seine bestätigenden Kommentare. Ich hockte auf dem Rücksitz und hörte nicht zu. Meine Gedanken kreisten einzig um das lange Gespräch mit meiner Großmutter. Ich betrat das Krankenhaus mit gemischten Gefühlen. Einerseits hätte ich mit meinen Verwandten und ihrer Geschichte am liebsten überhaupt nichts zu tun gehabt und wünschte mich nur nach Hause. Andererseits jedoch fühlte ich mich magisch angezogen von dem Rätsel um die Ereignisse in dem Haus in der George Street und von dem alten Mann, dessen Leben sie bestimmt hatten. Gestern noch hatte er mir nichts bedeutet; heute wußte ich vielleicht mehr über ihn als seine eigenen Kinder. Aus diesem Grund fühlte ich mich ihm in gewisser Weise verbunden; das Wissen über Victor Townsend war das Band zwischen uns.
Wir saßen wie am Tag zuvor auf den hölzernen Klappstühlen rund um das Bett. Mein Großvater war wach und lag hoch in den Kissen. Aber wenn auch seine Augen geöffnet waren, hatte ich doch den Eindruck, daß er uns gar nicht sah. Sein Blick war stumpf und leer.
«Hallo, Dad«, sagte Elsie, während sie die Pralinenschachtel aus der Cellophanhülle schälte.»Schau, ich hab dir Pralinen mitgebracht.“
Mein Großvater verzog die Lippen, als wollte er lächeln.»Möchtest du eine?«fragte sie neckend.
Mein Großvater reagierte nicht. Der Mund blieb verzogen, und ich war mir nicht mehr sicher, ob er wirklich lächelte oder ob dies vielleicht eine Grimasse des Schmerzes war. Elsie schob ihm eine Praline in den eingefallenen Mund, und er begann sofort zu saugen. Letzendlich sind wir wohl alle auf die elementaren Instinkte reduziert, mit denen wir geboren werden.
Es war, als hätte der Kreis sich geschlossen, als wäre mein Großvater wieder zum Säugling geworden.
«Sieh mal, wen wir mitgebracht haben. «Elsies Stimme schallte durch den ganzen Saal.»Andrea! Sie ist extra aus Amerika gekommen. Du hast sie gestern verpaßt, weil du geschlafen hast, als wir hier waren.«
Sein leerer Blick blieb weiter auf Elsie gerichtet, aber dann, als wäre die Neuigkeit plötzlich zu ihm durchgedrungen, wandte er mir sein Gesicht zu. Er lächelte mich an, während er an seiner Praline lutschte, aber dann verfinsterten sich seine Züge schlagartig, und er hörte auf zu suckeln. Mir lief es eiskalt über den Rücken.
Der Ausdruck auf dem Gesicht meines Großvaters war erschreckend. Wer hätte es für möglich gehalten, daß ein so freundliches, infantiles Gesicht solchen Zorn zeigen konnte. Oder war es vielleicht Haß?
«Du bist heute anscheinend nicht gut aufgelegt, Dad«, bemerkte Elsie und griff in die Pralinenschachtel, um ihm noch ein Stück in den Mund zu schieben.
Mit einer so schnellen Bewegung jedoch, daß keiner von uns sie kommen sah, schlug mein Großvater Elsies Hand weg.»Aber Dad!«
Sein Gesicht blieb bitterböse, und die wolkigen Augen, die nichts zu sehen schienen, hielten mich fest.
«Was ist nur in ihn gefahren?«fragte Elsie.»So hab ich ihn noch nie erlebt.«
«Er hält Andrea wahrscheinlich für jemand anderen«, meinte Ed, hob die Praline vom Boden auf, wischte sie ab und schob sie selbst in den Mund.
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