«Und wieso hat es dann nicht geklappt?»
«An der Grenze ist ein Haufen SS-Leute zugestiegen. Sie wollten unsere Unbedenklichkeitserklärungen sehen.»
«Eure was?»
Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, und er meinte, niemals einen jungen Menschen gesehen zu haben, der so müde wirkte. «Das ist irgendein neuer Ausweis – sie erfinden dauernd welche – zum Nachweis, daß man politisch unauffällig ist. Sie wollen keine Leute ins Ausland lassen, die dort dann dem Regime Ärger machen.»
«Und Sie hatten keine solche Erklärung?»
«Richtig. An der Uni hatte ich einen Freund, der war mal in Rußland und ist Kommunist geworden. Ich hatte natürlich Dostojewski gelesen, und ich fand, man müßte auf der Seite des Proletariats kämpfen und mit den Verbannten nach Sibirien gehen und so. Ich hab mich nie wohlgefühlt, wenn ich sah, wieviel wir – und wie wenig andere hatten. Ich meine, es kann doch nicht recht sein, daß manche Menschen alles haben und andere gar nichts.»
«Das stimmt. Aber etwas dagegen zu tun, ist nicht so einfach.»
«Jedenfalls bin ich nicht in die kommunistische Partei eingetreten wie dieser Freund von mir. Die haben sich ja dauernd gestritten, obwohl sie sich gegenseitig <Genossen> nannten. Aber ich bin zu den Sozialdemokraten gegangen, und wir haben Protestmärsche veranstaltet und uns mit den Nazis angelegt. Bei den Behörden war ich natürlich als gefährliche Radikale verschrien.»
«Und als man Sie dann aus dem Studentenzug herausholte, waren Ihre Eltern schon abgereist?»
«Nein, sie waren noch hier. Ich habe bei Freunden von ihnen angerufen, weil unser Telefon gesperrt war, und die sagten mir, daß sie am nächsten Tag abreisen wollten. Ich wußte, daß sie nicht reisen würden, wenn sie hörten, daß ich noch in Österreich war, darum habe ich nichts gesagt und bin zu unserer alten Köchin in Grinzing gezogen, bis sie weg waren.»
«Das war tapfer», sagte Quin leise.
Sie zuckte die Achseln. «Es war sehr schwierig für mich, das muß ich zugeben. Es war vielleicht das Schwierigste, was bisher von mir verlangt worden ist.»
«Und wenn Sie Glück haben, wird es auch das Schwierigste bleiben.»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das glaube ich nicht.» Die Worte waren fast nicht zu hören. «Ich glaube, für mein Volk ist es Nacht geworden.»
«Unsinn.» Er sprach betont munter. «Wir werden schon Mittel und Wege finden, um Sie hier herauszubekommen. Ich gehe gleich morgen früh zum britischen Konsulat.»
Wieder dieses Kopfschütteln, bei dem das blonde Haar ihr um die Schultern tanzte. «Ich habe alles versucht. Hier sitzt ein Mann im Amt, der den Leuten bei der Ausreise helfen soll, aber in Wirklichkeit sorgt er nur dafür, daß ihnen alles abgenommen wird, was sie besitzen. Sie haben keine Ahnung, was hier los ist – die Leute weinen und schreien ...»
Er war aufgestanden und ging langsam durch das Zimmer, während er überlegte. «Die Wohnung ist wirklich sehr groß.»
«Ja.» Sie nickte. «Zwölf Zimmer. Zwei davon hat meine Großmutter bewohnt, aber sie ist letztes Jahr gestorben. Als ich klein war, bin ich hier mit meinem Dreirad in sämtlichen Korridoren herumgefahren.» Sie folgte ihm. «Das ist mein Vater in der Uniform des 14. Ulanenregiments. Er wurde zweimal wegen Tapferkeit ausgezeichnet – er konnte nicht glauben, daß das alles nicht zählt.»
«Ist er Jude?»
«Ja, der Geburt nach. Ich glaube aber nicht, daß er sich je darüber Gedanken gemacht hat. Seine Religion ist die Menschlichkeit ... er glaubt, daß jeder sich bemühen sollte, das Beste aus sich herauszuholen. Er glaubt an einen Gott, der allen gehört – daß man den göttlichen Funken, der in einem ist, hüten und zur Flamme anfachen muß. Und meine Mutter ist katholisch erzogen worden, für sie ist es doppelt schlimm. Sie ist nur Halbjüdin – vielleicht auch Vierteljüdin, wir wissen es nicht genau. Sie hatte eine sehr arische Mutter – so eine Art Ziegenhirtin.»
«Dann sind Sie also – was? Drei Viertel? Fünf Achtel? Es ist schwer zu glauben.»
Sie lächelte. «Meine Stupsnase, meinen Sie – und mein helles Haar. Meine Großmutter kam vom Land – die Ziegenhirtin, meine ich. Mein Großvater entdeckte sie wirklich beim Ziegenhüten – oder jedenfalls beinahe. Sie stammte von einem Bauernhof. Wir haben sie manchmal ausgelacht und sie Heidi genannt; sie hat in ihrem ganzen Leben kein Buch gelesen, aber heute bin ich ihr dankbar, weil ich ihr ähnlich sehe und mich nie jemand belästigt.»
Sie hatten die Glasveranda mit Blick in den Hof erreicht. In der Ecke neben einem Oleander stand eine mit Rosen und Lilien bemalte Wiege. Auf dem Kopfbrett stand in verschnörkelter Schrift «Ruthchens Wiege».
Quirl stieß sie mit der Fußspitze an. Ruth schwieg. Unten im Hof breitete die blühende Kastanie ihre ausladenden Äste aus. An einem von ihnen hing eine Schaukel; an einer Wäscheleine, die zwischen zwei Pfosten gespannt war, flatterten eine Reihe rotweiß karierter Geschirrtücher und ein Babyhemdchen, das nicht größer war als ein Taschentuch.
«Da unten habe ich immer gespielt», sagte sie. «Als ich noch klein war. Ich fühlte mich dort so geborgen. Der Hof war für mich der sicherste Platz der Welt.»
Er hatte nichts gesagt, sich nicht gerührt, dennoch veranlaßte irgend etwas sie, sich umzudrehen. Sie hatte von ihm das Bild eines gütigen, kultivierten Menschen; aber jetzt wirkte das zerfurchte Gesicht wie eine Teufelsmaske: der Mund verzerrt, die Haut über den Knochen straff gespannt. Die Verwandlung hielt nur einen Moment an. Dann legte er leicht die Hand auf ihren Arm.
«Wir können bestimmt etwas tun. Warten Sie nur.»
Ruth hatte nicht übertrieben. Das Chaos und die Verzweiflung, die der Anschluß hervorgerufen hatte, waren unbeschreiblich. Er war früh ins britische Konsulat gekommen, aber in den Gängen hatten sich bereits Warteschlangen gebildet. Die Menschen bettelten um Papiere – Visa, Pässe, Genehmigungen – wie Verhungernde um Brot.
«Tut mir wirklich leid, Sir, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen», sagte der Beamte, nachdem er sich Ruths Unterlagen angesehen hatte. «Wir würden die Dame ja ins Land lassen, aber die Österreicher lassen sie hier nicht heraus. Sie müßte einen neuen Auswanderungsantrag stellen, und die Bearbeitung kann Monate oder Jahre dauern. Die Quote ist voll, wissen Sie.»
«Und wenn ich für sie bürgen würde – garantieren, daß sie dem Staat nicht zur Last fallen wird? Oder wenn ich ihr eine Arbeitsgenehmigung als Haushaltshilfe besorgen würde? Meine Familie könnte ihr eine Anstellung geben.»
«Das müßten Sie von England aus arrangieren, Sir. Hier geht alles drunter und drüber, seit Österreich kein unabhängiger Staat mehr ist. Die Botschaft soll geschlossen werden, und unser Personal wird schon laufend heimgeschickt.»
«Lieber Gott, das Mädchen ist zwanzig Jahre alt. Ihre ganze Familie ist in England – sie steht völlig allein da.»
«Es tut mir leid, Sir», wiederholte der junge Mann müde. «Glauben Sie mir, was ich hier in den letzten Wochen erlebt habe ... aber von hier aus läßt sich nichts tun. Jedenfalls nichts, was für Sie in Frage käme.»
«Und was ist das, was für mich nicht in Frage käme?»
Der junge Mann sagte es ihm.
Ach, zum Teufel mit dem Mädchen, dachte Quin. Er hatte im Nachtzug ein Schlafwagenabteil reserviert; die Examen begannen in weniger als einer Woche. Bei Antritt seines Forschungsurlaubs hatte er versprochen, zum Ende des Semesters zurückzusein. Er hatte nicht vor, die Benotung der Arbeiten seinem Stellvertreter zu überlassen.
Er trat in das Haus in der Rauhensteingasse und ging in den ersten Stock hinauf. Die Wohnungstür stand weit offen. Im Flur war der Spiegel zerschlagen, der Schirmständer war umgekippt. Das Wort «Jude» war mit gelber Farbe quer über die Fotografie geschmiert, die Kurt Berger mit dem Kaiser zeigte. Im Salon hatte man die Bilder von den Wänden gerissen; die Palme lag entwurzelt auf dem Teppich. Im Eßzimmer waren die Türen der Vitrine gesprengt, das Meißner Porzellan war verschwunden.
Ruths Wiege auf der Veranda war in Stücke geschlagen.
Er hatte vergessen, was für eine heftige körperliche Wirkung der Zorn hatte. Er mußte mehrmals tief Atem holen, ehe das Schwindelgefühl sich legte und er die Treppe hinuntersteigen konnte.
Diesmal war die Hausmeisterin in ihrer Loge.
«Was ist in Professor Bergers Wohnung passiert?»
Sie warf einen nervösen Blick zur offenen Tür, hinter der er einen alten Mann sehen konnte, der mit ausgestreckten Beinen in einem Sessel saß und Zeitung las.
«Sie sind plötzlich hier erschienen – so ein paar Braune – eine richtige Schlägerbande, anders kann man's nicht nennen. Das tun sie immer, wenn Wohnungen leerstehen. Offiziell ist es nicht erlaubt, aber keiner unternimmt was gegen sie.» Sie zog die Nase hoch. «Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Professor hat mich gebeten, mich um die Wohnung zu kümmern, aber wie soll ich das machen? Nächste Woche zieht da ein deutscher Diplomat ein.»
«Und Fräulein Berger? Was ist mit ihr?»
«Keine Ahnung.» Wieder ein ängstlicher Blick zur offenen Tür. «Ich kann Ihnen nichts sagen.»
Er war schon auf der Straße, als er ihre heisere alte Stimme hörte. Sie rief ihn, und als er sich umdrehte, rannte sie ihm nach, immer noch in ihrer Kittelschürze.
«Ich soll Ihnen das von ihr geben. Von Fräulein Berger. Aber Sie sagen bittschön nichts, Herr Doktor? Mein Mann ist schon seit Jahren bei den Nazis, er würde es mir nie verzeihen. Ich könnte die größten Scherereien kriegen.»
Sie reichte ihm einen weißen Umschlag, aus dem, als er ihn öffnete, zwei Schlüssel herausfielen.
2
Ruth hatte das Standbild der Kaiserin Maria Theresia auf ihrem Marmorsockel immer besonders gern gehabt. Von ihren Feldherren, mehreren Pferden und Buchsbaumhecken umgeben, sah sie mit dem selbstzufriedenen Blick der guten Hausfrau, die eine volle Speisekammer und ordentliche Schränke hinterlassen hat, auf die flanierenden Wiener hinunter. Jedes Schulkind wußte, daß sie Österreich groß gemacht hatte, daß der sechsjährige Mozart auf ihrem Schoß gesessen, daß ihre Tochter Marie-Antoinette den König von Frankreich geheiratet und unter der Guillotine geendet hatte.
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