Die Lobrede auf den «jüngsten Professor der Universität Thameside, Preisträger der Geographischen Gesellschaft und Sherlock Holmes der Urgeschichte», dessen inspirierte Forschungsarbeit dazu beigetragen habe, die Rätsel der Vergangenheit zu entschlüsseln, kam zu ihrem Ende. Stirnrunzelnd stieg Quin auf das Podium hinauf. Der Rektor hob die Wurst – und schreckte zurück. «Der Mann machte ein Gesicht, als wollte er mich umbringen», beschwerte er sich hinterher. Quin beherrschte sich, nahm die Urkunde entgegen, kehrte an seinen Platz zurück.

Nun war es endlich vorbei, und er konnte die Frage stellen, die ihn während der ganzen langweiligen Zeremonie beschäftigt hatte. «Wo ist Professor Berger?»

Der Prodekan, den er angesprochen hatte, wich seinem Blick aus. «Professor Berger ist nicht mehr bei uns. Aber der neue Dekan, Professor Schäfer, wartet schon darauf, Sie zu begrüßen.»

«Das ist sehr freundlich von ihm, aber mich interessiert im Augenblick nur, wo Professor Berger ist. Bitte beantworten Sie meine Frage.»

Der Mann trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. «Er ist seines Postens enthoben worden.»

«Warum?»

«Unmittelbar nach dem Anschluß wurden auch hier die Nürnberger Gesetze rechtskräftig. Nichtarier sind von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen.» Er trat einen Schritt zurück. «Ich kann nichts dafür, das ist ...»

«Wo ist Professor Berger? Ist er noch in Wien?»

Der Mann schüttelte den Kopf. «Das weiß ich nicht. Viele Juden versuchen auszuwandern.»

«Beschaffen Sie mir seine letzte Adresse.»

«Natürlich, Professor Somerville. Gleich nach dem Empfang.»

«Nein, nicht nach dem Empfang», entgegnete Quin. «Jetzt!»


An die Straße erinnerte er sich, an das Haus zunächst nicht. Dann wiesen ihm zwei ausgesprochen wohlgenährte Karyatiden den Torbogen zum Hof. Die Hausmeisterin war nicht in ihrer Loge; niemand hielt ihn auf, als er die breite Marmortreppe in die erste Etage hinaufstieg.

Das Messingschild mit dem Namen Berger war noch an der Tür; die Tür selbst war überraschenderweise nur angelehnt. Er stieß sie auf. Hier war man früher von einem Mädchen im weißen Schürzchen in Empfang genommen worden, aber jetzt war niemand da. Der Regenschirm und die Spazierstöcke Kurt Bergers steckten noch in ihrem Ständer, sein Hut hing am Haken. Quin ging auf dem dicken türkischen Teppich durch den Flur, klopfte an die Tür zum Arbeitszimmer und öffnete sie. Wie oft hatte er hier gesessen und an der Sammlung von wissenschaftlichen Aufsätzen gearbeitet, voll Hochachtung vor Bergers Wissen und der Großzügigkeit, mit der er seine Ideen teilte! Bergers Bücher standen unberührt in den Wandregalen, die Remington war unter ihrer schwarzen Haube auf dem Schreibtisch.

Doch die Stille hatte etwas Unheimliches. Er mußte an die Marie Celeste denken, das Schiff, das man verlassen dahintreibend auf dem Ozean gefunden hatte, die Tassen noch auf dem Tisch, die Speisen unberührt. Eine Flügeltür führte vom Arbeitszimmer ins Eßzimmer mit dem großen schweren Tisch und den hochlehnigen, mit Leder bezogenen Stühlen. Das Meißner Porzellan leuchtete noch in der Glasvitrine; ein Pokal, den Kurt Berger in einem Fechtturnier gewonnen hatte, stand auf der Kredenz. Mit wachsender Verwunderung ging Quin weiter in den Salon. Die Gemälde, die vornehmlich Berglandschaften zeigten, hingen unversehrt an den Wänden; die Kriegsorden Kurt Bergers lagen in ihre Kästchen gebettet unter Glas. Ein Palme in einem Messingtopf war offensichtlich frisch gegossen – dennoch hatte er kaum je solche Leere, solche Trostlosigkeit gespürt.

Nein, doch keine Leere. In einem fernen Raum spielte jemand Klavier. Aber Spiel konnte man das kaum nennen, es war die unablässige Wiederholung derselben Phrase, einer gänzlich unpassenden trällernden Figur, die wie das Zwitschern eines Vogels klang.

Er befand sich jetzt in den Räumen mit Blick zum Hof, ging weiter von Tür zu Tür. Und nun endlich eine letzte Tür, dahinter die Quelle der Musik: ein junges Mädchen, das den Kopf in die Ellenbogenbeuge des auf dem Klavier ruhenden Arms geschmiegt hielt, während die Finger ihrer freien Hand über die Tasten glitten. In dem Moment, ehe sie auf ihn aufmerksam wurde, sah er, wie müde sie war, und wie hoffnungslos. Dann hob sie den Kopf, und als sie ihn anblickte, fiel ihm plötzlich ihr Name wieder ein.

«Sie sind sicher Professor Bergers Tochter Ruth.»


Es war ein gewisser Triumph für ihn, dieses Wiedererkennen, denn das niedliche kleine Plappermaul mit den blonden Zöpfen hatte sich sehr verändert. Jetzt fiel ihr das schöne lange Haar offen bis zur Mitte des Rückens herab und war von Farben durchschossen, die schwer zu bestimmen waren – eine Art grünschimmerndes Gold, das beinahe khakifarben war. Eingerahmt von dieser Fülle war ein blasses, dreieckiges Gesicht mit dunkel umschatteten Augen. Sie glich der gefangenen Rapunzel, die auf den Prinzen wartete, der sie aus dem Turm befreien würde.

«Was haben Sie da gerade gespielt?» fragte er.

Sie sah zu den Tasten hinunter. «Das ist das Rondo aus dem letzten Satz des Klavierkonzerts in G-Dur von Mozart. Es wurde angeblich vom Gezwitscher eines Stars inspiriert, der ...» Ihre Stimme brach, und sie senkte den Kopf. Aber nun erinnerte auch sie sich. «Natürlich! Sie sind Professor Somerville! Ich weiß noch, als Sie damals zu uns kamen und wir so enttäuscht waren. Wir dachten, Sie hätten sonnenverbrannte Knie und eine Stimme wie Richard Löwenherz.»

«Was für eine Stimme hatte der denn?»

«Oh, laut vor allem. Bei seinem Ruf sind die Pferde in die Knie gegangen, wußten Sie das nicht?»

Quin schüttelte den Kopf. Er war verblüfft. Sie hatte sich das Haar aus dem Gesicht gestrichen und lächelte ihn an – und im Nu war die Gefangene im Turm verschwunden, und es war Sommer in den Bergen, auf sonnenbeschienener Alm. Jetzt waren es nicht die Augen, die einem auffielen, sondern die Stupsnase, der große Mund, die Sommersprossen. «Natürlich, heute war ja die Verleihungsfeier, nicht wahr? Mein Vater hat versucht, Sie zu erreichen, solange er noch telefonieren durfte. Ist alles gutgegangen?»

Quin zuckte die Achseln. «Wo ist Ihr Vater?»

«In England. In London. Meine Mutter auch, und meine Tante und Onkel Mishak. Sie sind vor einer Woche abgereist. Und Heini auch – er ist nach Budapest gefahren, um sein Visum abzuholen und sich von seinem Vater zu verabschieden. Dann geht er auch zu ihnen nach England.»

«Und Sie hat man hier zurückgelassen?»

Er konnte es nicht glauben. Er erinnerte sich ihrer als eines eher übermäßig behüteten, verwöhnten Kindes.

Sie schüttelte den Kopf. «Mich haben sie vorausgeschickt. Aber es ist alles schiefgegangen.» Der idyllische Moment auf der sonnenbeschienenen Alm war jetzt vorbei. Tränen traten ihr in die Augen, und sie ballte die eine Hand zur Faust und preßte sie an die Wange, als könnte sie so ihren Schmerz unterdrücken. «Alles ist schiefgegangen», wiederholte sie. «Und jetzt sitze ich hier in der Falle. Es ist niemand mehr da.»

«Erzählen Sie», sagte Quin. «Ich habe viel Zeit. Erzählen Sie mir genau, was passiert ist. Und kommen Sie vom Klavier weg. Machen wir es uns ein wenig bequem.» Er hatte begriffen, daß das Klavier für sie die Quelle eines besonderen Schmerzes war.

«Nein.» Sie war immer noch die brave Akademikertochter, die wußte, was sich gehörte. «Jetzt ist doch das Festbankett. Nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde findet immer ein großes Essen statt. Da werden Sie bestimmt erwartet.»

«Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich mich mit diesen Leuten an einen Tisch setzen würde», entgegnete er ruhig. «Also, fangen Sie an.»


Ihr Vater hatte schon vor dem Anschluß versucht, ein Studentenvisum für sie zu bekommen.

«Da hofften wir noch, die Österreicher würden sich Hitler entgegenstellen, aber er hatte mich immer schon zum Studium nach England schicken wollen. Deshalb hat er mich auch hier auf die englische Schule gegeben, nachdem meine Gouvernante gegangen war. Ich bin jetzt im vierten Semester meines Studiums. Ich wollte als Assistentin bei meinem Vater arbeiten, bis Heini und ich ...»

«Wer ist Heini?»

«Mein Vetter. Na ja, so ungefähr jedenfalls ... Er und ich ...»

Sätze über Heini waren offenbar schwer zu vollenden. Aber Quin sah jetzt auch das Wunderkind in der Holzhütte wieder vor sich. Er konnte Heini kein Gesicht geben, aber er erinnerte sich an die schier endlosen Klavierübungen und an das bezopfte kleine Mädchen, das den jungen Künstler mit frisch gepflückten Walderdbeeren versorgte. Ihre Liebe zu dem begabten Jungen hatte also überdauert. «Erzählen Sie weiter.»

«Es war nicht allzu schwierig. Wenn man nicht gerade bei ihnen einwandern will, sind die Engländer gar nicht so. Ich brauchte nicht einmal ein J auf meinem Paß, weil ich keine reine Jüdin bin. Die Quäker waren großartig. Sie haben mich bei einem Studententransport untergebracht, der von Graz aus reisen sollte.»

Sobald der Tag der Abreise feststand, schickten ihre Eltern sie nach Graz. Dort sollte sie warten, bis es losging.

«Sie wollten mich nämlich aus Wien weghaben, weil ich einem SA-Mann einen Tritt gegeben hatte ...»

«Guter Gott!»

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. «Kurz und gut, nachdem ich abgefahren war, wurde mein Vater plötzlich verhaftet. Die Gestapo hat ihn abgeholt und drei Tage festgehalten. Mich benachrichtigte keiner. Als er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, hieß es, er und die Familie müßten das Land innerhalb einer Woche verlassen, sonst kämen alle in ein Lager. Jeder durfte nur einen Koffer und zehn Reichsmark mitnehmen – davon kann man nicht mal einen Tag lang leben. Aber das spielte in diesem Fall natürlich alles keine Rolle. Sie wollten nur weg. Ich war zwei Tage vorher mit dem Studententransport abgereist.»